Grundschulkinder sitzen um einen Tisch beim Frühstück

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Kinder und Bildung

Was, wenn vieles falsch wäre, was wir über Kindheiten wissen?

Die wenigsten Erwachsenen verstehen, wie anders der Schulalltag für Kinder heute aussieht. Und nein, es liegt nicht an den Handys.

Profilbild von Lea Schönborn
Bildungsreporterin

Stelle dir vor, dein Team auf der Arbeit verändert sich grundlegend. Du hast jetzt 25 Kolleg:innen, die zwölf verschiedene Sprachen sprechen und sich acht unterschiedlichen Religionen zuordnen. Klingt ungewohnt?

In vielen Grundschulen Deutschlands ist das längst Realität. Und nicht nur das. Die Schüler:innen haben zusätzlich noch ganz viele verschiedene Niveaus. Man kann keinen herausfordernden Unterricht für die Mathe-Nerdin machen, dem anderen Kind Deutsch beibringen und gleichzeitig dem dritten Essen kaufen, weil es von zuhause nichts mitgebracht hat. Ein Lehrer hat mir geschrieben, ein Rat eines Kollegen habe ihm geholfen: „Du kannst nicht alle mitnehmen.“

Das ist etwas, was manche Lehrkräfte inzwischen glauben. Das Problem ist, dass sich radikal geändert hat, wie Kinder aufwachsen und deswegen auch, was Kindergarten und Schulen leisten müssen. Die machen aber weitestgehend weiter wie bisher. Weil auch Politiker:innen noch nicht begriffen haben, wie sehr sich die Realität der Kinder von ihrer eigenen unterscheidet. Dabei haben Kinder und Lehrkräfte längst verstanden, dass die Bedingungen andere sind - und dass sich radikal ändern muss, wie wir über Schulen denken.

Kinder heute wachsen radikal anders auf

Bevor ich das Buch „Kinder – Minderheit ohne Schutz“ von Aladin El-Mafaalani, Sebastian Kurtenbach und Klaus Peter Strohmeier gelesen habe, dachte ich, dass eine Kindheit heute nicht so anders sein würde wie meine eigene vor 20 Jahren. Ich dachte, wenn es einen eklatanten Unterschied gibt, dann den, dass schon Grundschulkinder ein Smartphone haben und mittlerweile auf Ipads statt auf Blöcken schreiben. Aber ich habe mich geirrt.

Der größte Unterschied: Heute haben fast die Hälfte aller Kinder einen Migrationshintergrund, in westdeutschen Großstädten sogar 60 Prozent. Konkret heißt das: In einer durchschnittlichen ersten Klasse in Frankfurt oder Bremen sitzen 25 Kinder. 15 von ihnen haben einen Migrationshintergrund. Sechs keine deutsche Staatsbürgerschaft.

Aber auch das trifft die Realität nicht. Der Begriff Migrationshintergrund teilt die Klasse mit den 25 Kindern in zwei Teile. Auf der einen Seite stehen die Kinder ohne, auf der anderen die mit. In meinem Kopf gehen direkt Bilder an, Vorurteile. Ich denke: Einige der 15 Kinder mit Migrationshintergrund sprechen vermutlich schlechter Deutsch, viele von ihnen wachsen in einer armen Familie auf. Sie brauchen mehr Unterstützung. Genau diese Bilder sind eins der Probleme des Begriffs. Durch die Einteilung in Menschen ohne und mit Migrationshintergrund wird suggeriert, dass es eine Gruppe mit „relevanten Gemeinsamkeiten“ sei.

Für Kinder ist ihre Diversität komplett normal, aber für die Erwachsenen nicht

Stelle dir nochmal die Grundschulklasse mit den 25 Kindern vor, die wir gerade in zwei Teile geteilt haben. Dieselben Kinder kommen aus elf verschiedenen Ländern von drei Kontinenten und sprechen zwölf Sprachen. 15 der Kinder sind mehrsprachig aufgewachsen. Einige sprechen vier verschiedene Sprachen! Sie haben einen unterschiedlich sicheren Aufenthaltsstatus: Sechs von ihnen haben keine deutsche Staatsbürgerschaft, zwei keinen sicheren Aufenthaltsstatus, fünf nur die deutsche Staatsbürgerschaft, sechs mehrere Staatsbürgerschaften.

Plötzlich ist das Bild der Klasse viel komplexer als die Einteilung in „mit“ und „ohne“. Es zeigt, wie unterschiedlich die Erfahrungen der Kinder sind, auch wenn sie gewisse Überschneidungen haben. Zwei Kinder mit demselben Namen (Hatice) können komplett unterschiedliche Geschichten haben: Die eine ist seit ein paar Monaten in Deutschland, ohne sicheren Aufenthaltsstatus, lernt gerade Deutsch, die andere kennt kein anderes Land, ist aber Schwarz und erfährt dadurch im Alltag Rassismus. Die Autoren nennen diese Perspektive auf Vielfalt „Superdiversität“, nach dem US-amerikanischen Soziologen Steven Vertovec.

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Vor 20 Jahren war Deutschland noch nicht so superdivers.

Deutschland ist zwar schon lange ein Einwanderungsland. Seit 2013 ist es aber sogar das zweitgrößte Einwanderungsland aller Länder der Welt. Nur in den USA leben mehr Menschen, die nicht dort geboren sind. Nachdem es bis in die 2000er Jahre vor allem Menschen aus Italien und der Türkei waren, die als sogenannte Gastarbeiter:innen herzogen, kommen Menschen heute aus der ganzen Welt. Dabei ist jede einzelne Zuwanderungsgruppe in sich divers. Alles kann sich unterscheiden: die Sprache, die Ethnie, der Glaube, der Grund für die Migration, der Rechtsstatus, der sozioökonomische Status. Eine eingewanderte Person aus der Türkei kann Kurde sein und Jeside, oder Kurde und Alevit, kann arm oder reich sein, kann in den 70ern nach Deutschland gekommen sein oder vor einem Monat. Sie kann ein paar Monate alt sein oder bereits über 70.

Wenn für Kinder in Deutschland heute irgendetwas normal ist, dann diese Superdiversität. Die ist aber weder in der Politik noch im Lehramtsstudium angekommen. El-Mafaalani schreibt einen treffenden Satz im Buch: Unter Kindern gäbe es keine sogenannte Mehrheitsgesellschaft mehr. Das, was sich Friedrich Merz 2020 vorstellte, als er von einer deutschen Leitkultur sprach, kann er in den meisten Schulklassen nur noch unter den Menschen finden, die mit den Kindern arbeiten. Während der Migrationsanteil bei Kindern bei fast der Hälfte liegt, liegt er bei Menschen im Rentenalter bei nur 14 Prozent (Friedrich Merz ist 69 Jahre alt).

El-Mafaalani unterrichtet zukünftige Lehrkräfte an der TU Dortmund. Wenn er ihnen im dritten oder vierten Semester diese Zahlen zeigt, sind sie überrascht und irritiert darüber, dass sie bis jetzt nicht dazugelernt hätten. Sie fühlen sich nicht adäquat vorbereitet, berichtet El-Mafaalani.

Dazu kommt: Auch Familien haben sich geändert und sind unterschiedlicher geworden.

Familien haben heute nicht viel mehr miteinander gemein, als dass sie aus Kindern und Erwachsenen bestehen

Wenn ich mir eine Familie vorstelle, sehe ich sie intuitiv am Esstisch sitzen. Oder beim Losfahren in den Urlaub. Vielleicht auch, weil das typische Situationen in meiner Familie waren (und nervige, weil wir immer lange gebraucht haben, irgendjemand hat immer gefehlt oder musste nochmal aufs Klo oder nochmal schnell was holen). Dabei ist das gar keine Allgemeingültigkeit (mehr) in Familien. Die Autoren schreiben, dass eine Generation heranwächst, „die mehr von Differenz als von Gemeinsamkeitserfahrung geprägt sein wird.“

Einerseits ist Vater-Mutter-Kind nicht mehr so allgegenwärtig wie früher: Es gibt mehr Patchworkfamilien, mehr Regenbogenfamilien und mehr alleinerziehende Elternteile. Andererseits werden rechte Strömungen präsenter, denen zufolge sich Frauen vor allem um Kind und Haus kümmern sollten. Die vielen verschiedenen Lebensrealitäten hängen auch häufig mit dem sozioökonomischen Status zusammen: Manche Eltern fahren jede Ferien mit ihren Kindern in den Urlaub, andere nie. Jedes fünfte Grundschulkind isst laut einer Befragung an maximal drei Tagen pro Woche mindestens einmal am Tag mit der Familie. Fünf von 100 Neun- bis Zehnjährigen berichten, dass sie nie gemeinsam mit der Familie essen.

Kinder verbringen heute mehr Zeit in der Schule als mit der Familie

Gleichzeitig verbringen Kinder immer weniger Zeit in ihren Familien – und mehr Zeit in Schulen. Durchschnittlich haben Jugendliche ab der neunten Klasse eine Schularbeitswoche von 45 Stunden (das ist mehr als die meisten Arbeitnehmer:innen arbeiten) – und verbringen mit ihren Familien durchschnittlich 18 Stunden. Die Zeit mit der Familie ist auch deshalb begrenzt, weil inzwischen oft beide Eltern arbeiten. 2006 ist bei einem Drittel der Familien ein Elternteil zuhause geblieben und hat sich um die Kinder gekümmert, 2021 nur noch ein Viertel. Die meisten können sich das nicht mehr leisten.

Wenn Kinder mehr Zeit in der Schule verbringen, muss die auch mehr Aufgaben übernehmen. Viele Kinder lernen nun statt in der Familie im Kindergarten und in der Schule Fahrrad fahren, schwimmen oder wie man Tomatensoße kocht.

Kindergarten und Schule sind dabei nicht mehr nur Ergänzung, sondern sogar Familienersatz, schreiben die Autoren des Buches. Man kann es so sagen: Früher haben Eltern die Verbindung zur Gesellschaft geschlagen, heute müssen das immer öfter Kindergärten und Schulen machen. Bildungsinstitutionen zeigen den Kindern, wie sie sich in der Gesellschaft zu positionieren haben und was ihre Rolle ist.

Das Aufwachsen von Kindern unterscheidet sich also immer stärker, weil ihre Hintergründe diverser sind. Gleichzeitig sind Kitas, Horte und Schulen die Orte, an denen alle Kinder zusammenkommen und die meiste Zeit verbringen. Das ist auch eine Chance.

Wenn man diese Realität anerkennt, muss man andere Fragen stellen. Zum Beispiel: Was muss ein Kindergarten oder eine Schule leisten können, die der Verbindungspunkt so unterschiedlicher Erfahrungen ist? Was brauche ich als Lehrkraft, um diesen Kindern gerecht zu werden? Was brauchen eine Schule und ein Kindergarten, um ihnen gerecht zu werden? Was ist überhaupt das Ziel einer Schule in einer superdiversen Gesellschaft?

Diese Fragen zeigen: Ein radikales Umdenken ist nötig.

Die Autoren schreiben: Was von Kindern erwartet wird, wie sie sein sollen, ist in jeder Kultur anders. Aber was gleich bleibt, ist das, was die Kinder wollen. Also mache es Sinn zu fragen, was sie brauchen. Ja, die Kinder fragen. Sorry, dass es hier so radikal wird. Schnell wieder im Sinne unserer Leistungsgesellschaft gedacht: Glückliche Kinder bringen auch bessere Leistung.

Schulen sollen Lebensorte werden, dafür müssen sie sich ändern

Damit es Kindern gut geht, brauchen sie laut Befragungen eine positive Schulerfahrung (dazu zählt ein respektvoller Umgang der Erwachsenen mit den Kindern), gute Ernährung (dazu zählt auch gemeinsames Essen) und ausreichend Schlaf, freundschaftliche Beziehungen zu Gleichaltrigen und Verbundenheit mit Erwachsenen.

Schulen sind nicht mehr nur Lern-, sondern auch Lebensorte, schreiben die Autoren. Kleine Erinnerung: Sie verbringen dort mehr Zeit als mit ihrer Familie. Damit ein Ort ein „Lebensort“ sein kann, muss man sich dort wohlfühlen und gerne hingehen. Besonders wichtig dafür sind die Beziehungen zu den Erwachsenen in Kindergarten und Schulen.

Wenn man sich alle Grundschulen im Durchschnitt anschaut, kennen dort zwei Drittel der Kinder mindestens einen Erwachsenen, dem es wichtig ist. Die Befragung zeigt aber auch, dass der Unterschied zwischen den Schulen groß ist. An manchen Schulen haben alle Kinder das Gefühl, dass sie mindestens einem Erwachsenen wichtig sind – an anderen Schulen glaubt das nur ein Drittel. Eine Lehrkraft muss heute viel mehr als die dozierende Person vor der Klasse sein, sie ist jemand, der in Beziehung zu Kindern – und im besten Fall auch zu Eltern geht. Das passiert aber noch zu selten.

Für viele Lehrkräfte steht die Beziehungsarbeit schon an erster Stelle

Die Veränderungen der Kindheiten könnte man auch als Chance für Schulen sehen. Es gibt keinen anderen Ort, an dem Kinder in den Mittelpunkt gestellt werden können. Viele engagierte Lehrkräfte gehen aus Verzweiflung selbständig Schritte, die innovativ und revolutionär sind – und angesichts der Realität unvermeidbar. Einige haben mir geschrieben.

Grundschullehrerin Annika aus Oldenburg schreibt zum Beispiel, dass sie sich vom gleichschrittigen Unterricht gelöst habe, weil das in der Heterogenität einfach nicht mehr funktioniere. Sie gibt ihren Schüler:innen unterschiedliche Aufgaben. Lehrerin Marie Denise erzählt, dass für sie an erster Stelle die Beziehungsarbeit stehe und der Versuch, die Kinder ernst zu nehmen. Erst an zweiter Stelle komme der Lerninhalt. Eine andere Lehrerin namens Priscilla berichtet, dass sie versuche, die Unterschiede zwischen den Kindern sichtbar und wertvoll zu machen, „durch Lieder in verschiedenen Sprachen, Erzählrunden über Familienrituale oder Bilderbücher aus unterschiedlichen Kulturen.“

Ein Lehrer berichtet, dass er versucht, möglichst früh mit den Eltern ins Gespräch zu kommen. Er heißt Damian und unterrichtet an einer Schule, an der besonders viele benachteiligte Kinder sind. Wenn ihm etwas auffalle, würde er die Eltern entweder über mögliche Hilfen informieren oder die entsprechenden Stellen sogar selbst kontaktieren. Er zählt auf, wen er damit meint: Kinderärzt:innen, Psycholog:innen, sonderpädagogische Dienste, Schulsozialarbeit, Erziehungsberatung – und das Rückenwind- und Startchancenprogramm.

Annika, Marie Denise und Damian setzen bereits um, was die Autoren von „Kinder – Minderheit ohne Schutz“ fordern: einen Kulturwandel. Dazu gehört auch, es nicht mehr als normal anzusehen, dass man nicht alle Kinder mitnehmen kann. Das ist extrem anstrengend in einem System, das von einer großen Homogenität der Schüler:innen ausgeht. Die gab es nie, aber noch nie war die Annahme so falsch wie jetzt. Die Beispiele der Lehrkräfte zeigen allerdings, dass die Hoffnung nicht verloren ist. Viele machen bereits jetzt viel mehr, als nur Englisch oder Mathe beizubringen.

Lehrkräfte in Duisburg haben gerade eine öffentliche Schule gegründet, die sich auf Erkenntnisse aus dem Buch stützt. Vergangenen Herbst hat die Schule den ersten Schwung an Fünftklässlern aufgenommen. Es gibt eine wöchentliche Schulversammlung, in der die Kinder sagen können, was sie stört. Es soll viel Platz für Spielen, Sport und Chillen geben. Kinder und Lehrkräfte sollen sich auf Augenhöhe begegnen. Ich werde die Schule in diesem Jahr besuchen, um herauszufinden, ob das funktioniert.


Redaktion: Rebecca Kelber und Bent Freiwald, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert und Iris Hochberger

Was, wenn vieles falsch wäre, was wir über Kindheiten wissen?

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