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Die Kamera hält ganz nah auf das Gesicht des Vaters. Ihm ist anzusehen, dass er es kaum aushält. Er presst seine Lippen aufeinander, seine Nase zuckt. Sein dreizehnjähriger Sohn ist nackt. Ein Polizist tastet ihn ab, um zu fühlen, ob er gefährliche Gegenstände bei sich trägt.
Der Vater kann seinen Sohn nicht beschützen. Denn der wird verdächtigt, eine Mitschülerin umgebracht zu haben. In einem solchen Fall sind die polizeilichen Maßnahmen berechtigt, erklärt der Anwalt des Tatverdächtigen Jamie – auch bei einem Dreizehnjährigen.
Die Szene ist Teil der Fernsehserie „Adolescence“. Fast 100 Millionen Menschen haben die Serie weltweit geschaut. „Adolescence“ bedeutet auf Deutsch „Jugend“ und es geht um Jamie, der seine Mitschülerin umgebracht haben soll.
Jamie und sein Vater sitzen nebeneinander im Verhörraum. Der Vater kann nicht glauben, dass sein Sohn eine Mitschülerin getötet haben soll. Cr. Courtesy Netflix © 2024
Der britische Premierminister Keir Starmer und andere Politiker:innen haben die Serie geschaut und haben nun Forderungen.
Die erste Forderung: Alle Kinder und Jugendlichen sollten die Serie schauen!
Das Problem dabei: Kinder und Jugendliche wissen genau, was bei ihnen abgeht. Wer es nicht weiß, sind die Eltern und Lehrkräfte und all diejenigen, die die Serie geschaut haben und völlig überrascht waren von der Realität, in der Kinder und Jugendliche leben.
Die zweite Forderung: Handyverbot an britischen Schulen!
Das Problem dabei: Die Erklärung für den Frauenhass, für Mobbing, für alles Schlimme, was Kindern und Jugendlichen passieren kann, wird im Internet gesucht. Dabei gab es Frauenhass und Mobbing schon vor dem Internet. Mit dem Internet haben sich Frauenhass und Mobbing nur verändert.
Huch? Politische Forderungen auf Basis einer Netflix-Serie? Das ist ungewöhnlich, aber nicht zwingend problematisch. Eigentlich ist es cool, wenn Kunst so einen Einfluss hat. Was problematisch ist: Hinter den Forderungen steckt die Sehnsucht nach einfachen Antworten in einer Gemengelage, die keine einfachen Antworten kennt. Menschen schlussfolgern aus der Serie, dass das Smartphone und das Internet schuld sind. Beide haben Jamie radikalisiert. Nachdem ich die Serie gesehen habe, wurde mir klar, worüber wir eigentlich reden sollten.
„Es war peinlich, dir dabei zuzusehen“
In der zweiten Folge besucht der Polizist Bascombe die Schule von Jamie, um zu verstehen, wie ein Junge, der eigentlich noch ein Kind ist, zum Täter wurde. Sein Sohn Adam ist auch Schüler dort. Er ist schlaksig, die anderen Schüler:innen mobben ihn.
Adams Vater ist breitschultrig, entspricht männlichen Stereotypen, er ist jemand, der Respekt einflößt. Eine Schülerin sagt zu ihm: „Dein Sohn hat aber nicht die gleichen markanten Kieferknochen wie du.“
Bascombe tappt im Dunkeln, was das Motiv von Jamie angeht. Aufgrund seiner Analyse von Insta-Kommentaren und Emojis denkt er, dass Jamie und die von Jamie getötete Katie eine freundschaftliche oder sogar romantische Beziehung hatten. Katie hatte immer wieder Posts von Jamie kommentiert.
Dann aber bittet sein Sohn Adam ihn um ein Gespräch. Das beginnt holprig, weil die beiden sonst kaum miteinander sprechen. Adam sagt: „Du kannst auch gehen, ins Büro oder ins Fitnessstudio.“ Bascombe sagt: „Nein, ich bin hier“, und fragt seinen Sohn, ob er wisse, wo die Tatwaffe sei.
Der Polizist Bascombe und sein Sohn Adam reden in der Schule. Danach sagt Bascombe zu seiner Kollegin, so lange habe er lange nicht mit seinem Sohn gesprochen. Cr. Courtesy of Ben Blackall/Netflix © 2024
Adam schüttelt den Kopf. „Es geht nichts voran, weil du es einfach nicht checkst“, sagt er. „Du verstehst nicht, was da abgeht.“ Der Vater versteht tatsächlich nicht, worauf sein Sohn hinauswill. „Du hast auf Insta geschaut, oder? Es klingt nett, was sie schreibt, oder?“, sagt Adam und erklärt seinem Vater, was die Emojis bedeuten, die Katie genutzt hat. Er klärt seinen Vater auf, dass Katie Jamie als „Incel“ bezeichnet hat.
Incel bedeutet soviel wie „unfreiwillig zölibatär“. Männer, die Teil der Bewegung sind, sehen die Schuld für ihr Leid bei Frauen und beim Feminismus. Sie verbindet der Frauenhass. Es ist eine in den USA entstandene Internet-Subkultur, die aber mittlerweile weltweit Anhänger hat. Als ein bekannter Vertreter wird häufig der US-Amerikaner Andrew Tate genannt, auch der Attentäter aus Halle, der 2019 in eine Synagoge eindringen wollte, galt als Anhänger der Incel-Bewegung.
Adam sagt am Ende des Gesprächs zu seinem Vater: „Ich musste dir das erklären. Es war peinlich, dir dabei zuzusehen, wie du keine Ahnung hattest.“
Wer mit Jugendlichen arbeitet, kann das Internet nicht ignorieren
Es ist ziemlich normal, dass Eltern ihre Kinder nicht verstehen und Lehrkräfte nicht dahinterkommen, was in den Köpfen ihrer Schüler:innen vorgeht. Aber ich würde sagen: Man kann zumindest versuchen, sie zu verstehen. Man kann versuchen zu verstehen, welche Themen bei ihnen gerade relevant sind. Das beginnt im Internet, aber es endet nicht dort.
Denn dann würde es nicht diese Bestürzung geben, die man gerade beobachten kann, wenn Menschen über „Adolescence“ sprechen.
Der Guardian hat Jugendliche gefragt, was sie über die Serie denken. Einer der Jugendlichen sagt: „Für viele Eltern ist es das erste Mal, dass sie wirklich realisieren, dass dies auch für ihr Kind eine reale Möglichkeit ist. Toxische männliche Influencer wurden von vielen Eltern oder älteren Menschen nicht wirklich als Problem wahrgenommen, weil sie nicht diejenigen sind, die einen Großteil der Inhalte erhalten, die online gepostet werden.“
Der O-Ton der Jugendlichen ist: Ja, diese Probleme kennen wir. Ein Junge erzählt, wie schwer es gewesen sei, Andrew Tate online auszuweichen.
Während die Jugendlichen kaum überrascht von den Inhalten der Serie sind, reagieren die erwachsenen Zuschauer:innen so erschrocken, als sei ihnen jetzt erst klar geworden, in welcher Welt ihre Kinder leben. Und es stimmt: Die meisten haben es erst jetzt verstanden. Ähnlich wie der Polizist Bascombe mit eigenen Augen gesehen hat, in was für einer Welt sein Sohn lebt, als er ihn an seiner Schule besucht hat. Oder wie der Vater von Jamie nicht glauben konnte, dass sein eigener Sohn so etwas Schreckliches getan haben soll.
Ich verstehe die Unlust sehr gut, sich mit dem auseinanderzusetzen, was online passiert. Mein Vater ist Lehrer und geht auf die 60 zu (sorry to break it you, Papa). Er hat nur Verachtung übrig für soziale Netzwerke. Das ist verständlich. Aber es ist relevant, was dort passiert, weil es nicht nur online bleibt.
Genauso wichtig ist aber auch: Soziale Netzwerke sind nicht teuflisch. Das Böse, wenn wir es so nennen wollen, kommt nicht nur aus den Handys heraus, es kommt auch aus der analogen Welt hinein. Es sind echte Menschen (meistens zumindest), die Sachen ins Internet schreiben. Frauenhass und Mobbing gab es schon vor Smartphones, aber mit sozialen Netzwerken veränderte sich beides. Deswegen sollten alle, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten oder mit ihnen zusammenleben, sich damit auseinandersetzen.
Bildschirme sind nicht das eigentliche Problem
Eine US-amerikanische Psychotherapeutin hat auf Instagram geschrieben, dass die Probleme von Jugendlichen viel komplexer seien, als es viele wahrhaben wollen. Sie schreibt:
„Bildschirme sind nicht das eigentliche Problem. Soziale Medien sind es auch nicht. Es geht darum, wie sich Teenager fühlen, wenn sie sich einloggen. Wenn sie bereits Probleme haben, ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass sie sich in toxische Bereiche begeben. Wenn sie sich unterstützt, glücklich und verbunden fühlen, nutzen sie die sozialen Medien, um etwas zu schaffen, zu kommunizieren und ihre Interessen zu erkunden.“
In der Serie geht es mehr um die Beziehung von Vätern zu ihren Söhnen als ums Internet: vom Cop Bascombe zu seinem Sohn Adam und von Jamies Vater zu Jamie.
Bascombe versteht in Folge zwei, dass er sich um seinen Sohn kümmern muss und holt ihn später zum Mittagessen ab. Aus Adams Reaktion wird klar, dass das nicht normal ist. Als würde ein Mittagessen genügen, um die bisher nicht existierende Beziehung herbeizuführen. Ich will nicht so sein: Der gute Wille ist da. Aber Bascombe weiß noch nicht mal, dass sein Sohn Französisch in der Schule hat. Ich meine, qu’est-ce que c’est que cette merde?
Die Eltern von Jamie zerbrechen derweil fast an der Frage, einen Jungen wie Jamie zustande gebracht zu haben, während sie auf der anderen Seite auch eine wunderbare Tochter haben. Die Szene, in der die Eltern darüber sprechen, ist herzzerreißend.
Dass der britische Premierminister findet, alle Jugendlichen sollten die Serie sehen, ist typisch. Er sieht die Verantwortung bei ihnen: Schaut es euch an, damit sowas nicht in echt passiert! Ich finde: Das geht am Problem vorbei. Nicht Jugendliche sollten die Serie sehen, Eltern sollten es. Und danach sollten sie sich fragen: Weiß ich, was meinen Sohn bewegt? Weiß ich, was ihn wütend macht oder traurig?
Ich frage mich, wie es euch geht, die Söhne haben. Welche Fragen beschäftigen euch? Wie versucht ihr euren Söhnen eine gute Art der Männlichkeit beizubringen? Was ist das überhaupt? Glaubt ihr, es braucht gute männliche Vorbilder? Schreibt mir gerne an lea.schoenborn@krautreporter.de. Ich bin gespannt, was ihr erzählt.
Wer mehr über die Incel-Bewegung lesen will, findet beim NDR eine gut aufbereitete Einführung in das Thema. Wer ganz tief einsteigen will: Die Journalistin Veronika Kracher hat ein ganzes Buch über die Incel-Kultur geschrieben.
Redaktion: Bent Freiwald, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos.