Collage: Eine Gruppe Teenager vor einem Raum

Eduard Figueres/Getty Images, Valentina Verdesca

Kinder und Bildung

Der klassische Schulunterricht ist gescheitert

Es gibt viele Ideen, ihn zu verändern. Kaum eine ist so radikal wie die der Alemannenschule am Bodensee.

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Bildungsreporter

„Am Ende von Bruchrechnung wird eine Klassenarbeit geschrieben. Dann schauen wir uns den Notenspiegel an und erkennen: Ein Drittel der Schüler:innen kann Bruchrechnung noch nicht! Was machen wir also? Geometrie.“

Dieses Zitat zeigt, wie absurd ein System sein kann, das seit Jahrhunderten besteht. Gesagt hat es Martin Buhl, Schulleiter an der Martin-Niemöller-Schule im hessischen Riedstadt, auf der Bildungsforschungstagung 2025.

Was er beschreibt und was wir heute als „normalen Schulunterricht“ kennen: altersgleiche Klassen, ein Lehrer pro Klasse, Fächerstundenplan, einheitlicher Lernstoff. Die Idee, das Wissen von oben nach unten vermittelt wird, hat sich in deutschen Schulen seit dem frühen 19. Jahrhundert durchgesetzt. Wer nicht mitkommt, hat entweder Pech oder muss sich Nachhilfe suchen – und sich leisten können.

Bei einer Umfrage in der KR-Community sagten ganze 80 Prozent der Teilnehmer:innen, dass sie dafür wären, klassischen Unterricht abzuschaffen. Nur knapp 60 Prozent glauben aber, dass radikale Veränderungen in der Schule überhaupt möglich sind. Als Bildungsreporter höre ich diese Sorge seit Jahren.

Die Alemannenschule am Bodensee hat trotzdem die wahrscheinlich heiligste Kuh der deutschen Schulkultur geschlachtet: den klassischen Unterricht. Hier lernen die Schüler:innen selbstständig, im eigenen Tempo, ohne langwierigen Frontalunterricht, mit kurzen Input-Stunden der Lehrkräfte, in Baumhäusern und Lernateliers.

Ihr ehemaliger Schulleiter Stefan Ruppaner hat ein Buch darüber geschrieben, wie er seine Schule radikal umgekrempelt hat: von einer Hauptschule zu einer Gemeinschaftsschule, an der man Abitur machen kann. Nachdem ich das Buch gelesen hatte, gestand ich mir endlich ein, was ich als Bildungsreporter schon seit Jahren geahnt habe: Vielleicht haben wir keine andere Wahl, als den klassischen Unterricht abzuschaffen. Vielleicht sollten wir es nicht nur tun, vielleicht müssen wir.

Klassischer Unterricht ist uralt

Das ist alles anderes als trivial. Schule ohne klassischen Unterricht ist in Deutschland fast undenkbar. Der preußische König Friedrich Wilhelm I. führte 1717 die allgemeine Schulpflicht ein – die erste ihrer Art in Europa. Anfangs war der Unterricht noch sehr uneinheitlich und häufig jahrgangsübergreifend. Kinder verschiedenen Alters saßen gemeinsam in einem Klassenraum und wurden zusammen unterrichtet.

Mit der Industrialisierung wuchs der Bedarf an gut und standardisiert ausgebildeten Arbeitskräften. Preußen entwickelte ein flächendeckendes Modell mit Klassenstufen: Kinder wurden nach Jahrgängen in Klassen eingeteilt, erhielten Unterricht nach einem fixierten Lehrplan und in getrennten Fächern. Voilà, der klassische Unterricht, wie wir ihn heute noch kennen, war geboren und Lehrkräfte wurden zu den Wissensvermittler:innen, wie wir sie heute kennen.

Stefan Ruppaner, der ehemalige Schulleiter der Alemannenschule, wuchs genau in diesem System auf. Als er Mitte der 60er-Jahre eingeschult wurde, gab es in Deutschland kaum etwas anderes als Frontalunterricht. Als Schüler tat er sich damit schwer, seine Noten waren so lala, was ihn aber nicht störte: „Ich tat einfach nicht genug, ich war faul, warum sollte ich das also können.“ Dass ausgerechnet er sich entschieden hat, Lehrer zu werden, überraschte damals viele in seinem Umfeld.

Wie soll man sich eine Alternative ausdenken, wenn man nur das eine System kennt?

Weil er schon als Schüler kein großer Fan des Systems Schule war, drehte er als Lehrer an verschiedenen Stellschrauben. Aber eher an kleinen. Mal legte er sich mitten im Unterricht aufs Sofa und hielt ein Nickerchen, um den Schüler:innen zu signalisieren: Ich vertraue euch. Mal schnappte er sich seine Klasse und ging mit ihr auf den Bauernhof. „Aber ich habe nie darüber hinausgedacht. Und ich habe nie das Gesamtsystem infrage gestellt“, schreibt er. Klassenarbeiten waren für ihn selbstverständlich, ebenso wie Klassenzimmer, 45-Minuten-Einheiten, der Frontalunterricht, Noten – und viele weitere Strukturen. „Das hatte ich so gelernt, das war eben so.“ Seine Sicht auf Schule änderte sich erst, als er vor 17 Jahren, im Herbst 2007, einen Film sah.

In „Treibhäuser der Zukunft“ macht Filmemacher Reinhard Kahl eine dokumentarische Bildungsreise durch innovative Schulen im deutschsprachigen Raum. Der Film zeigt Schulen, die anders ticken – Orte, an denen Lernen selbstbestimmt und gemeinschaftlich passiert. Statt Frontalunterricht und Gleichschritt sieht man jahrgangsübergreifende Gruppen, Schüler:innen, die sich ihre Lernmaterialien selbst holen und sich gegenseitig helfen.

Ruppaner hatte ziemlich starke Vorbehalte dagegen, seinen Schüler:innen so viele Freiheiten einzuräumen: „Für meine Hauptschullehrer-Ohren klang das erstaunlich. Denn wenn ich meine Siebt- und Achtklässler allein ließ, brach sofort das Chaos aus. Niemals würden sie ruhig und konzentriert arbeiten, wenn man sie einfach machen ließ.“ Der Film kam ihm vor wie „mediale Schönfärberei“.

Diesen Einwand kenne ich, seit ich darüber schreibe, wie man das Bildungssystem verändern sollte. Er erreicht mich per Mail, am Telefon, in Kommentarspalten und er geht so: Das kann ja woanders funktionieren, aber nicht mit meinen Schüler:innen!

Stefan Ruppaner wollte es genauer wissen. Er besuchte eine der Schulen aus dem Film, die zufällig in der Nähe lag, in Friedrichshafen gegenüber auf der anderen Seite des Bodensees. Ihn beeindruckte die Atmosphäre, er sah Lehrkräfte, die Kinder wirklich kennenlernten und ihnen helfen wollten, ihm fiel die Neugier der Kinder auf. Sein Fazit: „Wenn das in Friedrichshafen so funktionierte, machten wir in Wutöschingen grundsätzlich etwas falsch. Dann mussten wir bei uns was ändern. Und zwar schnell.“

Die wichtigste Stellschraube: das Kollegium

Die ersten Jahre danach waren anstrengend. Ruppaner merkte schnell: Wer als Schulleiter etwas verändern will, muss zuerst seine Lehrkräfte überzeugen.

Und: Man kann das System nicht über Nacht umkrempeln. Veränderung passiert Schritt für Schritt. Also krempelte er nicht sofort alles um, ging behutsam vor. Er zeigte den Lehrkräften den Film, der ihn überzeugt hatte, sie diskutierten gemeinsam über die Frage, wie Schüler:innen überhaupt lernen können, wenn Lehrkräfte das Material nicht vorgeben.

Klar war: Die Arbeit der Lehrkräfte würde sich radikal ändern. „Die Lehrkraft, die bisher immer in der Hierarchie oben stand, die mehr wusste als die anderen und das auch ständig vor versammelter Mannschaft kundtun konnte, muss nun von ihrer Bühne heruntersteigen.“

Das ist in der Alemannenschule heute, 17 Jahre später, tatsächlich Realität. Die Lehrkräfte haben zwar alle einen eigenen Arbeitsplatz. Allerdings ist der nicht im Lehrerzimmer, sondern dort, wo die Kinder jeden Tag lernen. Diese Veränderungen stießen von Anfang an bei allen Kolleg:innen auf Zustimmung. Die Abkehr von der traditionellen Lehrerrolle und das Begegnen auf Augenhöhe mit den Kindern schreckte aber auch einige davon ab, an der Schule zu arbeiten.

Heute läuft kaum noch etwas so wie früher

Viele kleine Schritte haben an der Alemannenschule dazu geführt, dass heute kaum noch etwas an die Art Schule erinnert, die ich und so viele andere aus ihrer Kindheit kennen. Kein Gong. Kein typischer Stundenplan. Keine Reihen aus Tischen und Stühlen mit Sitzplan und Namensschild. Stattdessen: ruhige Lernateliers, Gruppenräume, eine digitale Plattform und Schüler:innen, die selbst entscheiden, woran sie heute arbeiten. Und aus Lehrkräften wurden Lernbegleiter:innen. Wie kann das funktionieren?

Im Zentrum des Konzepts steht ein Instrument, das technokratisch klingt: das Kompetenzraster. Es ersetzt den Lehrplan in seiner üblichen Form. Statt Seite 42 im Mathebuch abzuarbeiten, sehen die Schüler:innen auf einem Raster, welche Kompetenzen sie in einem Fach entwickeln sollen – zum Beispiel: „Ich kann Flächeninhalte von Rechtecken berechnen“, oder: „Ich kann einen historischen Text in seine Entstehungszeit einordnen.“ Wichtig: Die Schüler:innen entscheiden selbst, welche Ziele sie sich als nächste vornehmen. Lehrkräfte sind dabei nicht Dirigent:innen, die den Kindern vorgeben, was sie zu lernen haben. Sie sind Coaches, die im besten Fall zur Stelle sind, wenn sie gebraucht werden.

Ein Feedback-Raum der Alemannenschule mit Sofa, Sessel, Lampen. Alles sieht aus wie ein Wohnzimmer.

Sieht eher nach Wohnzimmer aus als nach Schule: Hier finden an der Alemannenschule die Gespräche zwischen Schüler:in und Lerncoach statt. Foto: Valentina Verdesca

Ein weiteres zentrales Element: der individuelle Lernplan. Am Montag planen alle Schüler:innen ihre Woche. Sie überlegen, welche Kompetenzen sie bearbeiten wollen, tragen sich in sogenannte „Lernzeiten“ ein, reservieren Plätze in Projektgruppen oder Präsentationsrunden. Was auf dem Papier nach Chaos klingt, ist in der Praxis strukturiert. Es gibt feste Reflexionszeiten, Feedbackgespräche und Etappenziele. Jedes Kind hat dabei einen persönlichen Lerncoach, eine Lehrkraft, die es beim Lernen begleitet. Mindestens einmal pro Woche besprechen Schüler:in und Lehrkraft, was gut läuft und was nicht. Die Termine sind verpflichtend. Ruppaner schreibt: „Diese Begleitung ist ungeheuer wichtig: Denn man kann gerade jüngeren Kindern nicht einfach selbst überlassen, was sie lernen möchten.“

Die Aufgaben und Materialien sind in drei Schwierigkeitsstufen gegliedert:

  • M für Mindeststandard: grundlegende Fähigkeiten.

  • R für Regelstandard: solides, mittleres Niveau.

  • E für Expertenstandard: komplexe, kreative Herausforderungen.

Jede:r Schüler:in kann je nach Fach und Thema auf dem passenden Niveau arbeiten und auch zwischen den Niveaus wechseln.

Ein Foto eines Co-Working-Spaces mit Stehtischen, Hockern, Arbeitsplätzen. Im Raum hängen viele runde Lampen, es gibt eine große Fensterfront.

Arbeiten an Tischreihen und mit fester Sitzordnung? Nein. An der Alemannenschule gibt es Co-Working-Spaces. Foto: Valentina Verdesca

Ganz ohne Lehrkraftvermittlung geht es allerdings nicht. Deshalb gibt es sogenannte Inputstunden. Hier erhalten Schüler:innen gezielt Erklärungen, Impulse oder Übungen zu einzelnen Themen. Zwar ist die Teilnahme oft freiwillig, sie wird jedoch dann empfohlen, wenn eine Schülerin oder ein Schüler eine bestimmte Kompetenz nicht allein erschließen kann. Die Inputs dauern etwa 15 bis 20 Minuten, werden frontal durch einen Lernbegleiter oder eine Lernbegleiterin durchgeführt. Viel mehr ist vom klassischen Frontalunterricht nicht übrig geblieben.

Eine neue Schulkultur braucht auch andere Räume

An der Alemannenschule ersetzt der sogenannte Gelingensnachweis die klassische Klassenarbeitsnote. Wer eine Kompetenz abschließen möchte, zeigt dies in einer praktischen, schriftlichen oder mündlichen Form, zum Beispiel durch eine Präsentation, ein Plakat, ein Erklärvideo oder einen Podcast. Gelingnachweise sollen dokumentieren, dass eine Kompetenz wirklich verstanden und angewendet werden kann, nicht nur kurzfristig abrufbar ist. Als bestanden gilt er, wenn man mindestens 25 von 30 Punkten erreicht hat, also 83 Prozent. Wird die Punktzahl nicht erreicht, erklärt die Lehrkraft, woran es lag. Und dann darf man zweimal wiederholen.

Ein Foto aus dem Café der Alemannenschule mit Tischen, Stühlen, Bänken. An der Wand hängen Plakate. Der Raum ist warm beleuchtet und bunt.

Schule heißt auch: chillen. Zum Beispiel hier im Café. Foto: Valentina Verdesca

Gelernt wird nicht im klassischen Klassenraum, sondern in Lernateliers (für individuelles Arbeiten) und Marktplätzen (für Gruppenarbeit). Die Räume sind so gestaltet, dass Lernen hier flexibel stattfinden kann, nicht nur still auf dem Stuhl. Hier wird auch klar, was die zweite riesige Herausforderung auf dem Weg zu einer neuen Schule ist. In Wutöschingen hatte Stefan Ruppaner das Glück, auf einen Bürgermeister zu treffen, der zwar nicht immer, aber oft genug auf seiner Seite stand und viele Projektideen pragmatisch umgesetzt hat. Und Geld locker gemacht hat. Immer wieder wird in Ruppaners Buch deutlich: Ohne diese Unterstützung hätte sich die Schule kaum so verändern können. Weil immer mehr Schüler:innen dazukamen, gibt es gleich mehrere Neubauten, mit Baumhäusern und offenen Lernplätzen, die auch in Sachen Architektur zeigen: So kann Schule aussehen. Dabei drohte ein Neubau am Geld zu scheitern. Die Baumhäuser waren keine geniale Idee, sondern eine pragmatische Alternative, die günstiger war als die urspünglichen Pläne.

Foto von den Baumhäusern in der Alemannenschule. Die Gerüste aus Holz kann man über Treppen erreichen.

Die Baumhäuser wurden vor allem deshalb gebaut, weil sie günstiger waren. Heute gelten sie als Vorbild für neue Raumkonzepte. Foto: Valentina Verdesca.

Erinnern wir uns nochmal an das Zitat von der Bildungsforschungstagung 2025: „Am Ende von Bruchrechnung wird eine Klassenarbeit geschrieben. Dann schauen wir uns den Notenspiegel an und erkennen: Ein Drittel der Schüler:innen kann Bruchrechnung noch nicht! Was machen wir also? Geometrie.“

An der Alemannenschule wäre nichts davon möglich. Weder die klassische Klassenarbeit, noch, dass ein Kind aus Zwang zum nächsten Thema springt, obwohl es das vorige noch nicht verstanden hat.

Könnte das überall funktionieren?

Nur weil es an der Alemannenschule klappt, heißt das nicht automatisch, dass solche Konzepte auch flächendeckend funktionieren. Überhaupt: Würde die breite Masse eine so gravierende Veränderung überhaupt wollen und mitmachen? In der Krautreporter-Community wäre die Antwort eindeutig: Ja.

Ich habe die Krautreporter-Leser:innen in einer Online-Umfrage gefragt: „Wenn du dich entscheiden müsstest: Sollten Schulen Unterricht in dieser klassischen Form abschaffen?“ Über 1.000 Menschen haben sich an der Umfrage beteiligt. Die Antwort war eindeutig: 80 Prozent wären dafür.

Grafische Darstellung der Umfrageerbenisse: 80 Prozent sind dafür, Unterricht abzuschaffen, 20 Prozent dagegen. Darstellung als Balkendiagramm.

Zwei Dinge sind jedoch wichtig, um dieses Ergebnis einzuordnen: Erstens ist die Umfrage nicht repräsentativ. Und zweitens weiß ich aus anderen Umfragen, dass viele KR-Leser:innen überzeugt sind, das Bildungssystem sei reif für eine echte Revolution. Dass diese Gruppe dem klassischen Unterricht eher kritisch gegenübersteht und ihn gern abschaffen würde, ist daher wenig überraschend.

Aber wie bei den Lehrkräften an der Alemannenschule gibt es auch unter den KR-Leser:innen nicht nur Fans der Idee. Der klassische Unterricht, so das zentrale Argument aus der Umfrage, biete Kindern Struktur, Halt und Orientierung. Einige sagen auch ganz pragmatisch: Bei mir hats funktioniert, warum also nicht auch bei den nächsten Generationen?

Das aus meiner Sicht stärkste und ebenfalls oft genannte Argument für klassischen Unterricht lautet aber: Gemeinsames Lernen fördert soziale Kompetenzen. Und das stimmt. Sich in Gruppen zurechtzufinden, die nicht homogen sind, ist ganz klar eine Kompetenz, die Kinder vor allem im klassischen Unterricht mitbekommen. Wer sich die eigene Bezugsgruppe jederzeit aussuchen kann, geht damit eventuell kleinen und großen Konflikten aus dem Weg, die aber durchaus wichtig für die Entwicklung sein können.

Von den über 700 Teilnehmer:innen der Umfrage, die den klassischen Unterricht abschaffen würden, begründen die meisten ihre Sicht so: Erstens: Klassischer Unterricht hindert Schüler:innen daran, Verantwortung fürs Lernen zu übernehmen. Zweitens: Kinder lernen unterschiedlich schnell und auf verschiedene Weisen. Wenn man Kinder nach Alter ordnet und in Klassen einteilt, verhindert man, dass das Lernen dem Können entsprechend stattfindet. Der Grund, der am dritthäufigsten genannt wurde: Klassischer Unterricht bevorzugt bestimmte Kinder – nämlich die, die selbstbewusst sind, mündlich gut mitarbeiten und sich in einer Gruppe behaupten können – und benachteiligt andere.

Vielleicht haben wir keine andere Wahl, als uns vom klassischen Unterricht zu verabschieden

Diese Erkenntnis ist für mich als Bildungsreporter nicht neu. Ich habe noch nie eine Lehrkraft getroffen, die meinte, dass der Gleichschritt den verschiedenen Kindern gerecht werden würde. Aber was, wenn die immer schlechteren Leistungen der Schüler:innen in Deutschland nur der Anfang sind, weil das alte Schulsystem auf eine neue Realität prallt?

Im Buch „Kinder – Minderheit ohne Schutz“ beschreiben Aladin El-Mafaalani, Sebastian Kurtenbach und Klaus Peter Strohmeier, wie diese neue Realität aussieht: Die Kindheiten in Deutschland haben sich in den vergangenen Jahren radikal verändert. Sie nennen die heutige Kindheit „superdivers“. Damit meinen sie die Lebensrealität von Kindern, in der Vielheit die Norm ist. Also eine Kindheit, in der Vielfalt nicht nur vereinzelt vorkommt (wie vielleicht noch vor 30 Jahren), sondern überall und ständig präsent ist – in der Kita, in der Schule, im Wohnviertel, auf Tiktok.

Konkret heißt das:

  • Kinder wachsen heute mit Gleichaltrigen auf, die unterschiedliche kulturelle Hintergründe, Sprachen, Familienmodelle, Religionen, Hautfarben, Geschlechterrollen und körperliche Fähigkeiten haben.

  • Man sieht die Vielfalt nicht nur, sie wirkt tief: in ihren Alltagsbeziehungen, im Selbstbild der Kinder und in ihrem Denken über Gesellschaft.

  • Für diese Kinder ist es normal, dass es keine klare „Mehrheitskultur“ gibt. Oder anders gesagt: Sie erleben Vielfalt nicht als Ausnahme, sondern als Ausgangspunkt.

Besonders zeigt sich die Vielfalt innerhalb einer Bevölkerungsgruppe, die gern über einen Kamm geschoren wird. In den 1970er und 1980er Jahren war die Migrationsgesellschaft in Deutschland noch vergleichsweise homogen, zumindest aus heutiger Sicht. Die sogenannten „Gastarbeiterkinder“ stammten überwiegend aus einigen wenigen Herkunftsländern: Türkei, Italien, Griechenland, Jugoslawien. Sie kamen aus ähnlichen sozioökonomischen Milieus, oft aus bildungsfernen Haushalten und hatten häufig ähnliche Schwierigkeiten im Bildungssystem. Ihre Lebensrealitäten ähnelten sich also, und man konnte mit der groben Schablone „Migrationshintergrund“ noch relativ viel erfassen.

Heute ist das völlig anders. Kinder, die offiziell als „mit Migrationshintergrund“ gelten, sind untereinander extrem unterschiedlich: Sie stammen aus über 190 Herkunftsländern. Ihre Eltern oder Großeltern sind Akademiker:innen, Handwerker:innen, Geflüchtete, Manager:innen, Pflegekräfte, alles dabei. Manche Kinder sprechen zu Hause Deutsch, andere Arabisch, Vietnamesisch, Russisch oder Amharisch. Manche sind selbst eingewandert, andere sind in dritter Generation in Deutschland geboren. Diese veränderte Kindheit zwingt uns dazu, neue Formen des gesellschaftlichen Miteinanders zu entwickeln. Irgendwann wird der Zeitpunkt kommen, an dem wir Diversität als Dauerzustand akzeptieren müssen, nicht als Übergangsphase.

Ich denke: Das gilt auch für die Schule. Eine Schule, in der Kinder in Altersgruppen im Gleichschritt lernen sollen, kann dieser neuen Superdiversität nicht gerecht werden. Oder wie KR-Leser Immanuel in der Umfrage schreibt: „Die Welt ist in Bewegung, der Mensch ist in Bewegung. Alles ändert sich langsam oder schnell. Daher sollte man alte Strukturen auf neue Umstände anpassen.“

Heute differenzieren sich die Lehrkräfte in vielen Schulen in den Burnout. Sie begegnen so vielen verschiedenen Leistungsniveaus unter ihren Schüler:innen, dass sie kaum hinterherkommen. Was aber auch stimmt: Es gibt Schulen, in denen die Diversität bisher kaum angekommen ist, in denen der klassische Unterricht, ergänzt durch Projekte und alternative Lehrformen, nach wie vor funktioniert.

Viele Schulen erfüllen jetzt schon die wichtigste Voraussetzung für Veränderung

Das eigentlich Erstaunliche an der fast zu märchenhaften Entwicklung an der Alemannenschule ist: Es handelt sich nicht um eine Privatschule. Denen sagt man schon lange den Freiraum nach, der den öffentlichen Schulen fehle. Kein Wunder, so heißt es, dass so viele freie Schulen alternative Lernkonzepte ausprobieren. Staatliche Schulen hingegen seien gefesselt und müssten den Vorgaben der Kultusministerien folgen.

Cover des Buches "Das könnte Schule machen" .

Das Buch „Das könnte Schule machen“ von Stefan Ruppaner und Anke Willers ist im Februar im Rowohlt-Verlag erschienen. Hier geht es zur Verlagsseite des Buches. Rowohlt Polaris

Die Alemannenschule am Bodensee zeigt, wie groß der Spielraum für öffentliche Schulen wirklich ist. In Wutöschingen befinden sich seit 120 Jahren Aluminiumwerke. Um die Alemannenschule herum wohnten und wohnen die Arbeiter:innen der Fabrik, deshalb schicken hier nicht nur Akademiker:innen ihre Kinder hin. Die Schule ist vielleicht nicht so superdivers wie Schulen in Berlin-Neukölln, aber auch nicht so homogen wie die freien Privatschulen, die neue Konzepte ausprobieren. Ruppaner selbst nennt die Schule eine Brennpunktschule. Und heute ist sie Vorreiterin.

So schlecht stehen die Chancen gar nicht, dass sich künftig mehr Schulen auf diesen Weg machen. Die Cornelsen Schulleitungsstudie 2025 zeigt: 69 Prozent der Schulleitungen in Deutschland sehen sich als visionäre Reformerinnen. 60 Prozent sind sogar bereit, rechtliche Vorgaben zu umgehen. Sie fordern mehr Autonomie. Bildungsforscher Klaus Hurrelmann, der die Studie geleitet hat, sagt: „Die Schulleitungen sehen sich als Akteure des Wandels. Sie sind Rebellinnen und Rebellen und nehmen sich die Freiheit, mehr Selbständigkeit für ihre Schulen zu erkämpfen.“

Vielleicht fehlt ihnen, wie Stefan Ruppaner damals, nur noch der entscheidende Anstoß, der ihnen zeigt: Es ist möglich.


Wer für den ersten Anstoß wie Stefan Ruppaner lieber einen Film schaut, statt einen Text zu lesen: Mittlerweile gibt es auch neue Filmprojekte, die Schulen vorstellen, in denen anders gelernt wird: Die Initiative „Bewirken“ hat in ihrem Film „Unlearn School“ solche Schulen porträtiert.



Redaktion: Theresa Bäuerlein, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert

Der klassische Schulunterricht ist gescheitert

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