Interview:
„Regierungen empfinden Familien als Zumutung“
Familien haben kaum politische Macht, trotzdem könnte die Wehrpflicht an wütenden Eltern scheitern. Der Autor Stefan Schulz erklärt, welche Folgen es hat, wenn der Staat Familien im Stich lässt.
Was passiert, wenn eine Gesellschaft ihre Familien aus dem Blick verliert? Sie müssen all das kompensieren, was der Staat nicht hinbekommt. Das hat sich insbesondere in der Pandemie gezeigt. Stefan Schulz, Autor, Podcaster und dreifacher Vater sagt: Die Vernachlässigung des privaten Raumes hat tiefgreifende Folgen – für die Wirtschaft, die Politik und vor allem für die Menschen selbst. In seinem neuen Buch „Die Kinderwüste“ analysiert er, wie politische Entscheidungen insbesondere Kinder vernachlässigen und warum das Thema Familie in Deutschland oft als Zumutung empfunden wird.
Ich habe ihn gefragt, warum so viele Kinderwünsche an wirtschaftlichen Hürden scheitern, was passieren müsste, damit Familienpolitik endlich ernst genommen wird und warum die Wehrpflicht letztlich doch an der Macht der Eltern scheitern könnte. In dem Interview duzen wir uns, Stefan und ich kennen uns seit Jahren und haben gemeinsam an Podcasts und Projekten gearbeitet.
Stefan, der Untertitel deines Buches lautet: „Wie Politik Familien im Stich lässt“. Friedrich Merz hat gerade ein Aufrüstungs- und Infrastrukturprogramm in Höhe von etwa einer Billion Euro mit Grünen und SPD ausgehandelt. Lässt auch er Familien im Stich oder macht er es besser?
Friedrich Merz setzt auf Themen, die er für wichtig hält: Wehrfähigkeit und Infrastruktur. Die Familie hingegen bleibt außen vor. Wie wichtig Familien für unsere Gesellschaft sind, zeigt sich am deutlichsten in der Rente: Ein Viertel des Haushalts fließt allein in diese Ausgaben. Man stelle sich vor, dieses Geld würde anderweitig ausgegeben werden, etwa für Verteidigung. Dann müsste dieser Ausfall von den Familien kompensiert werden, wenn sie ihre Großeltern nicht im Regen stehen lassen wollen.
Der Experte: Stefan Schulz
Stefan Schulz hat Soziologie studiert und ist Autor und Podcaster. Schwerpunkt seiner Arbeit sind Demographie („Die Altenrepublik“, Hoffmann und Campe, 2022) sowie die Veränderung der Medienlandschaft („Redaktionsschluss“, Hanser-Verlag, 2016). Sein Buch „Die Kinderwüste“ ist in diesem Monat erschienen. Schulz ist Vater dreier Kinder und lebt in Frankfurt am Main.
Ich befürchte, dass Friedrich Merz sich die Billion Euro für Verteidigung und Infrastruktur teuer bezahlen lassen wird, vermutlich mit harten Streichungen beim Sozialen, was wieder zu Lasten der Familien gehen wird. Dabei sind sie der soziale Kern jeder Gesellschaft, und ihre Vernachlässigung hat tiefgreifende Folgen. In der Geschichte, selbst unter den menschenverachtendsten Regimen, war Familienpolitik stets ein strategisches Anliegen. Heute hingegen empfinden nicht nur Regierungen, sondern auch viele Einzelne Familie als Zumutung.
Du schreibst, viele Menschen geben ihren Kinderwunsch eher aus Anpassung an schwierige Rahmenbedingungen auf als aus echter Überzeugung. Was findest du irritierender: einen klar geäußerten Kinderwunsch oder eine völlige Ablehnung von Kindern?
Da bin ich ganz Soziologe: Solche Aussagen sind immer nur eine Beschreibung des Jetzt-Zustands. In Deutschland kristallisiert sich der Kinderwunsch meist zwischen 29 und 31 Jahren heraus, scheitert dann aber häufig an volkswirtschaftlichen Gegebenheiten: fehlende bezahlbare Wohnungen, mangelnde Jobsicherheit und unzureichende staatliche Unterstützung. In Berlin etwa liegt die Geburtenrate auf dem Niveau von Hongkong oder Südkorea – also bei rund 1,1 Kindern pro Frau. Zwei Menschen bringen nur noch ein einziges Kind zur Welt, was innerhalb einer Generation zu einer Halbierung der Bevölkerung führen kann.
In manchen ostdeutschen Dörfern kann man die demografischen Verwerfungen bereits hautnah erleben: Selbst ein Auto mit einem Kennzeichen aus dem Nachbarkreis wirkt dort fremd. Viele Bewohner sind vor Jahrzehnten gleichzeitig eingezogen und altern nun im Gleichschritt. Ihre Kinder sind längst weg, niemand hilft beim Treppensteigen. Ich komme aus Jena, dem „München des Ostens“. Ein Viertel der Stadt besteht aus Studenten, es gibt also einen ständigen Zuzug. Doch selbst hier ist klar: Wer seinen Abschluss macht, zieht weg. Während es im Westen normal ist, nach Jahren über Weihnachten nach Hause zu fahren, gibt es in vielen ostdeutschen Orten niemanden mehr, den man besuchen könnte. Zurück bleiben ganze Straßenzüge, die sich in eine Kinderwüste verwandeln.
Eine schier bahnbrechende Erkenntnis deines Buches lautet: Gegen Armut hilft Geld.
Familienpolitik braucht kein kompliziertes Programm. Eltern wissen, wie sie Geld für ihre Kinder einsetzen. Studien, etwa von Bertelsmann, zeigen eindeutig, dass zusätzliches Geld nicht für Konsumgüter oder Luxus ausgegeben wird, sondern direkt den Kindern zugutekommt. Das Bild, dass Bedürftige staatliche Hilfen für Alkohol, Zigaretten oder einen überdimensionierten Flatscreen verschwenden, stammt oft von älteren, wohlhabenden Menschen, die ihr eigenes Weltbild auf andere projizieren. Gerade Alleinerziehende, die oft in prekären Berufen arbeiten, erleben das direkt: Wenn man mit 1.000 Euro auskommen muss und der Staat 400 Euro fürs Kind gibt, wird dieses Geld in Bildung, Ernährung oder Freizeit investiert, aber sicher nicht in einen neuen Fernseher. Dieses Klischee hält sich hartnäckig, entspricht aber schlicht nicht der Realität.
Gerade Liberale betonen gerne, dass sich der Staat nicht ins Konsumverhalten der Menschen einmischen sollte. Selbst wenn ein Haushalt sich von staatlicher Unterstützung einen großen Fernseher kauft, hat das nicht auch einen gemeinschaftsstiftenden Wert?
Genau, gemeinsame Zeit ist in einer durchgetakteten Gesellschaft wertvoll, auch wenn sie vor dem Fernseher stattfindet. Die FDP fordert für Unternehmen staatliche Unterstützung ohne Eingriff ins Management – warum nicht auch für Familien? Eine simple Rechnung: Ein Kind verursacht täglich etwa 100 Euro an Kosten, für Bildung, Betreuung, gesundes Essen. Das Erwerbseinkommen der Eltern reicht in vielen Fällen nicht aus, da ein großer Teil bereits für Miete draufgeht. Hier müsste der Staat einspringen, sei es durch direkte finanzielle Unterstützung oder eine Vergütung für geleistete Betreuungsstunden. Durch finanzielle Entlastung entstehen Räume, in denen sich Eltern und Kinder bewusst Zeit füreinander nehmen können, anstatt sich nur durch den Alltag zu kämpfen.
Du schreibst, dass sich Investitionen in Bildung kräftig auszahlen würden.
Die Zahlen sind gigantisch. Eine Investition in Bildung, als integraler Pfeiler unseres volkswirtschaftlichen Systems, erreicht nach elf Jahren einen Return on Investment von etwa 14 Prozent. Das heißt, dass jeder investierte Euro in Bildung nach elf Jahren einen Mehrwert von 14 Cent pro Jahr generiert. So hat es jedenfalls der Wirtschaftswissenschaftler Tom Krebs ausgerechnet. Dieser gesamtwirtschaftliche Ertrag übertrifft die individuellen Renditen klassischer Anlagen, die typischerweise zwischen drei und sieben Prozent liegen. Die 14 Prozent kommen allerdings nur zustande, wenn wir als Gesellschaft gemeinsam investieren, anstatt uns in isolierte, partikulare Interessen zu verstricken.
Anstatt massiv in institutionelle Bildung und Betreuung zu investieren, erleben wir schon seit Längerem eine Rückkehr überholter Rollenvorstellungen: Familien – meist Frauen – sollen die gesamte Carearbeit übernehmen. Der politische Fokus auf Verteidigung wird dieses Phänomen verstärken. Die Erwerbsarbeit bleibt bei Frauen auf der Strecke, gleichzeitig steigt der soziale Druck. Familie war stets an eine zentrale Aufgabe geknüpft: Die nächste Generation musste bereitstehen, sei es für den Hof, das Handwerk oder die Gesellschaft. Familie ist der soziale Kern jeder Gesellschaft, und ihre Vernachlässigung hat tiefgreifende Folgen. Wenn Friedrich Merz dann fordert, dass „die Deutschen die Ärmel hochkrempeln“ sollen, ignoriert er, dass viele Menschen längst an der Grenze ihrer Belastbarkeit sind.
In der Vergangenheit wurde häufig versucht, dieses Return on Investment zu erhöhen, beispielsweise durch die Streichung des 13. Schuljahres oder eine frühere Einschulung. War das eine gute Idee?
Nein. Solche Entwicklungen brauchen Zeit. Ein gutes Beispiel ist 2015: Viele syrische Familien sind damals nach Deutschland geflüchtet, und ein zehnjähriges Kind, das hier in die Schule kam, hätte in diesem sozialen Umfeld schnell Deutsch gelernt, oft ohne zusätzlichen Förderaufwand. Heute wäre es 20 Jahre alt, mitten in der Ausbildung oder bereits Fachkraft. Kein Arbeitgeber oder Professor fragt dann ernsthaft: „Woher kommst du?“ Sondern es zählt nur, dass jemand qualifiziert ist.
Insbesondere Migrant:innen empfinden es als befremdlich, wenn sie primär in wirtschaftlichen Kategorien gedacht werden. Du selbst argumentierst ähnlich, wenn du von Kindern als „Humankapital“ sprichst. Kannst du die Irritation nachvollziehen?
Wirtschaft und Gesellschaft lassen sich nicht trennen. Das ist kein kühler Rechenprozess, sondern ein Prinzip, das für alle gilt: Je besser Menschen ausgebildet sind und je freier sie über ihr Leben entscheiden können, desto mehr profitieren alle: Eltern, Kinder, Arbeitnehmer, der Staat. Ich nenne das „Win-Win-Win-Win“. Für mich ist das echter Liberalismus: Freiheit konsequent weiterdenken. Warum sollten Menschen mit 65 automatisch in Rente gehen? Warum nicht flexiblere Arbeitszeiten? Ein System, das echten individuellen Spielraum bietet, stärkt nicht nur die Wirtschaft, sondern auch das gesellschaftliche Miteinander.
Gleichzeitig muss konsequent alles volkswirtschaftlich betrachtet werden, nicht nur Unternehmensgewinne oder der DAX. Wenn wir über Wirtschaft sprechen, sollten wir auch fragen: Wie gut sind die Schulnoten des neuen Jahrgangs? Welche Perspektiven haben Familien? Das gehört genauso ins Zentrum der Debatte. Ein Wirtschaftsmodell, das nur auf Unternehmensgewinne schaut und Familien ignoriert, ist unvollständig.
Die Ampel hatte ja durchaus ambitionierte Familienprojekte geplant, von denen nahezu nichts umgesetzt wurde. Jetzt steht eine Große Koalition bevor. Glaubst du, dass etwas von den Ampel-Plänen bleibt?
Ich hatte große Hoffnungen in die selbsternannte „Fortschrittskoalition“: Die SPD stellte den Kanzler, FDP und Grüne aber waren zusammen stärker, zudem wählten ein Viertel der Erstwähler diese beiden Parteien. So entstand ein Koalitionsvertrag, der unter anderem die „Kindergrundsicherung“ als großes zivilisatorisches Projekt ausrief – eine Idee, bei der der Staat alle Ansprüche bündelt und automatisch auszahlt. Darüber hinaus stand die „Verantwortungsgemeinschaft“ im Raum, um älteren Menschen jenseits ihrer oftmals viel zu großen Wohnungen neue Wohn- und Betreuungsstrukturen zu eröffnen. Ich sehe darin nur eine zeitgemäße Variation dessen, was Familie ohnehin schon immer war. Bemerkenswert ist, dass der Staat mit Hartz IV bereits den Begriff „Bedarfsgemeinschaft“ eingeführt hatte, ohne diesen Ansatz weiterzuentwickeln, etwa für Solomütter oder lesbische Paare. Letztlich blieb alles liegen, die Ampel hat kein Gesetz zu Ende gebracht – und die nun anstehende Große Koalition dürfte solche Reformen wohl kaum voranbringen. Die richtet sich vor allem an ältere „Letztwähler“, die zwischen CDU und SPD pendeln und wo selbst ein Lars Klingbeil noch als junger Hüpfer gilt. Familienpolitische Impulse erwarte ich nicht.
Viele junge Menschen (mich eingeschlossen), sehen sich gerade mit dem Szenario konfrontiert, demnächst womöglich im Schützengraben zu liegen. Kommt statt Familienpolitik nun die Rückkehr zur Wehrpflicht?
Ich kann mir nicht vorstellen, dass es wirklich zu einer allgemeinen Musterung kommt, geschweige denn zu einer Wehrpflicht. Die CDU hat bereits gesagt, sie will nicht alle verpflichten, sondern nur die Besten. Viel Spaß dabei! Dann müssen wir über äußere Feinde gar nicht mehr sprechen, weil die Spaltung im Inneren so groß wäre. Eltern, die jahrelang alles für ihre Kinder getan haben, Sportverein, gute Bildung, Förderung, sollen dann akzeptieren, dass genau diese Kinder an die Front geschickt werden, weil sie in den Tests so gut abgeschnitten haben? Das machen die nicht mit. Sollte das wirklich kommen, haben wir hier Bürgerkrieg.
Ist die Frage nach der Wehrpflicht also überflüssig aus deiner Sicht?
Komplett. Diese Russland-greift-uns-an-Erzählung ist eine virtuelle Debatte. Solange die Bedrohung nicht real im Alltag auftaucht, bleibt das abstrakt. Wir haben erlebt, dass uns zwei Tage Hochwasser völlig überfordern. Was passiert, wenn Bomben fallen? Schon die Erwartung, dass der Staat in den Heizungskeller reinregiert, hätte ja fast eine Revolte ausgelöst. Wenn man jetzt protestierenden Bauern erklärt, dass ihre Dieselsubventionen wegfallen – will man demnächst mit Panzern die Traktoren von der Straße räumen? Schon in dieser virtuellen Bedrohungslage geht unser politischer Fokus komplett weg von Familien. Es geht nur noch um Aufrüstung, Wehrfähigkeit, Militär. Und dann stellt sich irgendwann die Frage: Was gibts hier eigentlich noch zu verteidigen? Für viele, die von Armut betroffen sind, ändert sich im Alltag vielleicht gar nicht so viel, wenns plötzlich heißt: Dein Stadthalter ist jetzt ein Russe.
Ein wichtiges Tool, um Familien wieder in den Fokus der Politik zu rücken, ist aus deiner Sicht ein Familienwahlrecht, also die Idee, dass Eltern für ihre noch nicht wahlberechtigten Kinder mitwählen dürfen. Angenommen, deine älteste Tochter möchte ihre Stimme der AfD geben: Würdest du dich dem beugen?
Natürlich würde ich mit ihr darüber diskutieren, so wie über alles andere auch. Politik gehört in die Familie, nicht ausgeklammert in die „Schlägereizone“ öffentlicher Debatten. Ein Familienwahlrecht würde Eltern nicht zu bloßen Stellvertretern machen, sondern würde politische Verantwortung dort stärken, wo sie ohnehin täglich übernommen wird. Heute dominieren ältere Wählergruppen die Politik: Die größte Wählerkohorte sind die über 70-Jährigen, die am stärksten wachsende die über 60-Jährigen. Würde das Wahlrecht auf Kinder übertragen werden mit Eltern als Treuhändern, verschöbe sich dieser Fokus. Plötzlich wären junge Eltern mit den Stimmen ihrer Kinder die einflussreichste Wählergruppe. Das würde Wahlkämpfe grundlegend verändern.
Ist politische Mündigkeit nicht eine Frage der Reife?
Aber wer legt diese Reife denn fest? In Deutschland kann jeder wählen – auch demenzkranke Straftäter. Aber ein 16-Jähriger, der im Unterricht Politik diskutiert und Perspektiven anderer hört, soll keine Stimme haben? Ich habe dir mal eine Aufgabe aus dem bayerischen Matheabitur mitgebracht.
Könntest du das lösen?
Nein, absolut nicht. Aber ich war auch immer wahnsinnig schlecht in Mathe.
Keine Sorge, du bist nicht allein. Die meisten Erwachsenen, selbst die mit Abitur, kriegen das nicht hin. Schüler sollen aber solche Aufgaben lösen, und dann wird ihnen gesagt, sie seien zu „leicht beeinflussbar“ zum Wählen! Gleichzeitig kann ein 70-Jähriger, der sich täglich zehn Stunden in Telegram-Verschwörungsgruppen verliert, problemlos seine Stimme abgeben. Ich will niemandem das Wahlrecht nehmen, sondern es konsequent ausweiten. Eltern könnten die Stimme ihrer Kinder wie jede andere Verantwortung übernehmen, genauso, wie sie Kindergeld verwalten. Dass unser Wahlsystem komplexe Stimmverrechnungen zulässt, aber Kinder systematisch ausschließt, zeigt nur, wie dringend diese Debatte geführt werden muss.
Redaktion: Bent Freiwald, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Schlussredaktion: Susan Mücke