Links ist ein Priester zu sehen, man erkennt ihn am klassischen Kragen. Sein Gesicht ist durch den Bildrand abgeschnitten. Rechts ist der Gründer der Waldorfschulen, Rudolf Steiner, abgebildet.

Symbolbild: NASA | Gemeinfrei | Marek Studzinski/Unsplash | Collage: Philipp Sipos

Kinder und Bildung

„Wir haben unsere Tochter in guten Händen gewähnt“

Ein Pfarrer vergreift sich immer wieder an Mädchen, auch in der Waldorfschule in Frankfurt. Jahrelang schauten seine Kolleg:innen weg.

Profilbild von Bettina Schuler

Anna M.* sei immer alles zugeflogen, sagt eine ihrer Freundinnen im Herbst 2024 vor Gericht. Sie hatte keine Probleme damit, zu ihrer Meinung zu stehen. Intelligent, lebendig, gut aussehend – so wird Anna M. beschrieben. Nach der Waldorfschule wollte sie Jura studieren. Das hätte sie locker geschafft, da waren sich alle einig.

Ihre Mitschüler:innen wunderten sich deshalb, als Anna nach der 10. Klasse die Schule in Frankfurt am Main abbrach, um eine Ausbildung zur Physiotherapeutin zu machen. „Für uns war die Schule immer ein wunderbarer Ort“, sagt eine ehemalige Klassenkameradin. „Und auf einmal wollte Anna nur noch weg.“ Obwohl, erzählt sie weiter, eigentlich sei Anna damals schon nicht mehr die gleiche gewesen.

Hier, im Gerichtssaal Nr. E21 des Landgerichts Frankfurt am Main steigen Tränen in ihre Augen, als sie das sagt: „Irgendetwas stimmte nicht“. Sie habe Anna immer wieder gefragt, was los sei. Aber Anna sagte nichts. Irgendetwas stimmte nicht – diese Feststellung zieht sich wie ein roter Faden durch den Prozess. Doch keine der Zeug:innen brachte die Schule damit in Verbindung. Niemand die Kirche. Einige machen sich deshalb Vorwürfe: Wie konnte es so weit kommen?

Mithilfe eines Rollators erreicht der mittlerweile 65-jährige Angeklagte Matthias R. den Gerichtssaal. Bereits 2007 hatte er einen Schlaganfall. Auf dem Kopf trägt er ein blaues Käppi. Er sitzt geduckt an dem Tisch. Sein Kopf hängt nach unten. Er vermeidet jeden Augenkontakt. Die Protokollantin nimmt ihm das Käppi vom Kopf. An seiner linken Gesichtshälfte klebt ein weißer Verband. Die Folgen eines Sturzes, so die Verteidigerin. Die Fragen der vorsitzenden Richterin kann er nicht beantworten. Er sagt, er weiß nicht, wie er heißt, wo er wohnt oder ob er verheiratet gewesen ist. Seine Verteidigerin beantragt, das Verfahren vorläufig einzustellen. Ihr Mandant sei nicht verhandlungsfähig. „Wenn sie ihn gefragt hätten, ob er kroatischer Staatsbürger ist, hätte er es auch bejaht.“ Die Anwältin von Anna wirft ein, dass er etwa ein Jahr zuvor sehr schnell und adäquat reagieren konnte. Sie meint einen Vorfall aus dem Juni 2023. Als die Opfer-Anwältin sprach, hört die Richterin Matthias R. sagen: „Ich hole gleich ein Messer raus und schneide ihr die Kehle auf“.

Matthias R. wird vorgeworfen, Anna M. in ihrer Schulzeit zu sexuellen Handlungen gedrängt zu haben, er soll sie vergewaltigt haben. Der Antrag auf Einstellung des Verfahrens wird abgelehnt. Der Neurologe, der den Angeklagten begutachtet hat, hält ihn für verhandlungsfähig. „Die Frage ist ja“, so der Sachverständige, „was ist Krankheit und was ist Motivationsproblematik.“ Der Prozess geht weiter. Und neue Details kommen ans Licht.

Was ist nur los mit Anna?

Eva M.*, Annas Mutter, sagt, das Mädchen ging gerne in die Waldorfschule. Bis sie in der 6. Klasse begann, sich zurückzuziehen. Zur gleichen Zeit, Mitte der 90er Jahre, wird ein junger Pfarrer aus der Christengemeinschaft als neuer Religionslehrer an die Schule gesandt, Matthias R. Die Christengemeinschaft ist eine christliche Sondergemeinschaft, die der Anthroposophie und damit ihren Waldorfschulen sehr nahesteht. An vielen Waldorfschulen wird neben dem christlich konfessionellen Unterricht auch ein Religionsunterricht der Christengemeinschaft angeboten. So auch an der Freien Waldorfschule Frankfurt am Main.

Anna kannte Matthias R., bevor er an ihre Schule kam. Vor Gericht wird geschildert, er sei damals ganz anders gewesen: aalglatt, Aktenkoffer, Mantel, Handschuhe, korrekt frisiert. Kein Fussel auf seinem Anzug und die Schuhe immer frisch poliert. Annas Vater hatte ein sehr enges Verhältnis zu dem Pfarrer. Er kam aus einem sehr katholischen Elternhaus und fand in der Christengemeinschaft ein neues spirituelles Zuhause. Ihre Mutter sagt: „Ich kannte ihn als Gitarre spielenden Pfarrer, der sich sehr für die Jugendarbeit eingesetzt hat.“

Anna verändert sich nach und nach. Sie hat Kopfschmerzen, fühlt sich öfter unwohl. Anna isoliert sich mehr und mehr von ihren Freundinnen und verbringt viel Zeit allein mit den Pferden. Die Eltern sind besorgt. Sie suchen Rat in der Schule.

In der Schule sagt man Eva M., ihre Tochter, die Erstgeborene, habe Probleme damit, dass ihr jüngerer Bruder sie zu Hause vom Thron gestoßen habe. „Das war für mich überhaupt nicht nachvollziehbar“, sagt sie. „Die beiden haben sich immer gut miteinander verstanden“. Bis heute stehen die Geschwister in engem Kontakt. Ein weiterer möglicher Grund, so die Schule, sei die Pubertät. Die Kinder seien ja plötzlich ganz andere Menschen.

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Damit hören die Ratschläge der Schule auf. Die Mutter schweigt für einen Moment, als sie uns davon am Telefon erzählt. „Wir haben unsere Tochter in der Schule und Kirche in guten Händen gewähnt.“ Sie hätten sich bewusst für die Waldorfschule entschieden. Der spirituelle Hintergrund sei dabei ein entscheidendes Argument gewesen. „Wir haben keine Sekunde daran gedacht, dass dort so etwas passieren könnte.“

Annas Zustand verschlechtert sich in ihrer Jugend mit jedem Jahr. Sie wird magersüchtig. Ihre Eltern gehen mit ihr zu Ärzt:innen und Heilpraktiker:innen, sie lassen eine Magenspiegelung durchführen. Aber sie finden nichts.

Auch den Freundinnen fällt die Veränderung von Anna auf. Sie sei plötzlich sehr still, fast schon melancholisch gewesen und sei immer dünner geworden. Anna habe nur noch weite Kleidung getragen und in der Schule oft gefehlt, sagen die Freundinnen.

Im Frühling 2009, Anna ist mittlerweile 14 Jahre alt, steht ihre Konfirmation in der Christengemeinschaft an. Anna trägt als einzige Konfirmandin ein weißes, schlichtes Hängerkleid. „Nicht so ein Hochzeitskleid, wie alle anderen“, sagt die Mutter. Das fällt auf. Nicht nur der Mutter, sondern auch einer Freundin der Familie, deren Tochter ebenfalls konfirmiert wird. Ein Kleid wie Aschenputtel, sagt diese später vor Gericht. „Wir haben alle nicht verstanden, was in dem Mädchen vorgegangen ist“, fügt sie hinzu.

Anna macht im Herbst 2009 zusammen mit ihren Klassenkamerad:innen ein Landwirtschaftspraktikum auf dem Bauernhof. Als Anna wiederkommt, wirkt sie fröhlicher, entspannter als davor. Die Eltern und Freundinnen hoffen, dass es wieder aufwärts geht.

Als sie wieder zur Schule gehen muss, verschlechtert sich Annas Zustand drastisch. Im Herbst 2010 erleidet sie mit 16 Jahren einen Nervenzusammenbruch. Ihre Eltern bringen sie zu einer psychologischen Notfallsprechstunde. Anna geht von da an regelmäßig zur Therapie. Nach Weihnachten schlägt die Mutter ihr vor, die Schule zu verlassen und eine Ausbildung zu machen. „Da habe ich eine gewisse Erleichterung verspürt“, sagt Eva M. heute.

2011 beginnt Anna ihre Lehre. Sie fühlt sich wohl in ihrem Ausbildungsbetrieb. Sie sei zwar nicht mehr die gleiche gewesen, sagt die Mutter, habe aber weniger geweint als zuvor. Anna trifft 2011 ihren jetzigen Partner, der damals in einer Kleinstadt studiert. Die beiden werden ein Paar. Anna zieht zu ihm. 2014 holt Anna ihr Fachabitur nach. Ihr erstes Kind wird geboren. Danach das Zweite. Sie wirkt zufrieden.

Dann kommen die Erinnerungen.

Anna beginnt, sich zu erinnern

Im Frühjahr 2017 ruft Anna ihre Mutter an. Sie weint. Damals, in der Schule und in der Kirche, sei etwas Schlimmes passiert, sagt sie am Telefon. Sie habe das alles erst verdrängt, aber mit der Zeit seien immer mehr Erinnerungen an die Oberfläche gekommen. Etwa an einem Tag im Jahr 2009. Sie ist 14 Jahre alt. In der Kirche, im Vorraum der Sakristei, trifft Anna Matthias R. für ihr Konfirmandinnengespräch. Als sich das junge Mädchen mit den langen blonden Haaren neben ihn setzt, nimmt er ihre Hand und führt sie zu seinem entblößten, erigierten Glied.

Ein Jahr später in der Schule bittet Matthias R. Anna, nach dem Religionsunterricht noch zu bleiben, um die Tafel zu wischen. Er vergewaltigt sie im Klassenraum. Anna schreit um Hilfe. Keiner hört sie. Der Klassenraum liegt ganz oben im Gebäude, kaum jemand ist noch in der Schule. Anna ist alleine und dem Lehrer ausgeliefert. Auf der Toilette wirft sie ihre blutige Unterhose weg. Danach steigt sie zu ihrem Vater ins Auto. Und sagt nichts.

In Annas Erinnerung gibt es noch weitere Bilder, die immer wieder hochkommen. Diese Bilder sind typisch. Das traumatische Erlebnis wird nicht als zusammenhängendes Ereignis, sondern in Erinnerungsfragmenten abgespeichert. Diese Erinnerungen können jederzeit zurückkehren, durch einen Geruch, eine Berührung, ein Geräusch, den sogenannten Triggern. Für die Betroffenen fühlt es sich in diesen Momenten so an, als würden sie die traumatische Situation erneut erleben. In einer Psychotherapie wird häufig versucht, diese Erinnerungsfragmente in die Lebensgeschichte einzuordnen, damit das Erlebte von den Betroffenen besser verarbeitet werden kann. Ein Ansatz, den auch die Therapeutin von Anna verfolgt.

Nachdem ihre Tochter sich ihr im Jahr 2017 am Telefon öffnet, wendet sich Eva M. an die Christengemeinschaft. Dort zeigt man sich betroffen von den Vorwürfen und gibt zu, dass man bereits eine Vermutung gehabt habe. Spätestens seit der Beerdigung von Annas Vater, der an schweren Depressionen litt und sich 2013 das Leben nahm.

Matthias R. erscheint damals mit seiner Frau auf der Beerdigung, sie waren nicht eingeladen. Als Anna und Matthias R. aufeinander treffen, umarmt er sie lange und fest. Zu lange. Und zu fest.

Niemand aus der Christengemeinschaft spricht danach mit Anna oder Eva M. über die Umarmung, niemand äußert die Vermutung. Und das, obwohl sich bereits ein Jahr zuvor eine andere junge Frau an die Christengemeinschaft gewandt und Matthias R. des sexuellen Missbrauchs beschuldigt hatte. Die Betroffene bat die Christengemeinschaft, zu schweigen. Das tut sie.

Eine Schulfreundin von Anna M. erinnert sich noch an die Umarmung. Sie habe sich damals sehr darüber gewundert. Das sei selbst in so einer Situation eine Grenze, die nicht überschritten werden dürfe. Einen Verdacht habe sie trotzdem nicht gehabt. Mit Missbrauch rechne man auch nicht, sagt sie. „Lehrer sind ja auch Menschen, denen man vertrauen muss. Und dementsprechend hinterfragt man sie leider auch nicht. Gerade in dem Alter.“

Auch eine 65-jährige Mitarbeiterin des Seminars für Waldorfpädagogik Frankfurt am Main sieht die Umarmung. Ihre Tochter Astrid war früher in Annas Clique, die Eltern waren befreundet. Im Vorraum der Sakristei habe damals immer so eine seltsame Stimmung geherrscht. Ihre Tochter bestätigt diesen Eindruck vor Gericht. Es war der Ort, an dem sich Matthias R. zum ersten Mal an Anna verging. Astrid selbst sei zu dieser Zeit oft krank gewesen, sie habe immer ein schlechtes Gewissen gehabt, wenn sie Anna dort allein ließ. Als die Konfirmand:innenfreizeit anstand, weigerten sich Anna und Astrid, dort zu übernachten. Normalerweise hätten sie gerne bei anderen übernachtet. Die Seminarleiterin holte die beiden Mädchen daraufhin jeden Abend ab und brachte sie morgens wieder hin. Sie fand das damals ungewöhnlich. Aber die Jahre vergingen. Die Umarmung von Matthias R. an der Beerdigung beschreibt sie als „absolut übergriffig.“

Was der Umarmung bei der Beerdigung vorausgegangen war, wusste zu diesem Zeitpunkt niemand. Annas Freundinnen nicht, ihre Mutter nicht, die Mitarbeiterin des Seminars nicht. Keine Lehrkraft, kein:e Mitarbeiter:in der Christengemeinschaft und keine Mitschüler:in bekamen etwas mit. Und selbst wenn sie eine Vermutung hatten – sie sagten nichts.

Das System Waldorf ist besonders

Die Lehrer:innen an der Waldorfschule sind nicht nur Pädagog:innen. Sie gelten als Erziehungspartner:innen der Eltern, auf deren Urteil Eltern und Schüler:innen vertrauen. Die Waldorfschule ist wie ein zweites Zuhause. Die Schüler:innen identifizieren sich mit ihr. Kritik an der Schule und ihren Mitarbeiter:innen, sei es von außen oder von innen, wird deshalb sehr schnell als ein persönlicher Angriff auf ihre „Schulfamilie“ gesehen. Eine Überidentifikation, die dazu führen kann, dass man reflexartig in einen Verteidigungsmodus wechselt, sobald auf Missstände hingewiesen wird.

Im November 2022 haben wir bei Krautreporter gemeinsam mit Kolleg:innen vom ZDF Magazin Royale unter anderem über die Waldorfschule in Weimar berichtet, wo über einen Zeitraum von mindestens 15 Jahren zahlreiche Lehrkräfte Schüler:innen körperlich und psychisch gedemütigt haben sollen. Unsere Recherche zeigte: Das System Waldorfschule kann es Täter:innen offenbar erleichtern, unentdeckt zu bleiben. Denn die Fälle hatten Gemeinsamkeiten: Die Schulbehörden können nicht früh genug eingreifen, es gibt oftmals keine offiziellen Hierarchien, Waldorfschulen können unliebsame Schüler:innen und Lehrer:innen jederzeit kündigen. Die Gemeinschaft ist so eng, dass niemand herausstechen will.

Anna kennt diese Dynamik. An der Waldorfschule lernte sie die Runenschrift. Ihre Freundinnen von anderen Schulen machten sich darüber lustig. Anna verteidigte ihre Schule. „Es muss doch richtig sein, was ich dort lerne.“ Es war schwer für sie, das Privat- und Schulleben voneinander zu trennen. Auch, weil die Eltern und Lehrkräfte miteinander befreundet waren. Als die Reitlehrerin Annas Eltern vorsichtig gefragt hat, ob in der Schule vielleicht etwas in Richtung sexuellem Missbrauch vorgefallen ist, reagierten ihre Eltern sehr abweisend. „Ganz in dem Sinn, bei uns doch nicht!“, erinnert sich Anna am Telefon. Die familiäre Atmosphäre und das Gemeinschaftsgefühl, sagt sie, tragen in der Waldorfschule dazu bei, dass alles stimmen muss. „Es ist für viele ein heiles System, in dem so etwas einfach nicht geschehen darf.“ Das birgt die Gefahr, wegzusehen. Weil nicht sein kann, was nicht sein soll.

Matthias R. drängt sich Annas Familie auf

Matthias R. taucht nach der Beerdigung von Annas Vater unangekündigt bei Anna und ihrer Mutter auf und drängt sich ihnen als Trauerbegleiter auf. Eva M. sagt: „Ich hatte das Gefühl, dass er die Familie beeinflussen will“.

Als er da vor der Tür stand, so die Mutter, habe Anna ihn mit Abscheu angesehen. Sie habe kurz „Guten Tag“ gesagt und sei schnell wieder nach oben gegangen. Eva M. schreibt Matthias R. danach einen Brief, in dem sie ihn dazu auffordert, sie nicht weiter zu kontaktieren. Ansonsten würde sie rechtliche Schritte einleiten.

Im Gerichtssaal schwebt eine Frage über allen: Wie konnte das Umfeld so lange nichts bemerken? Wie konnte sich Matthias R. an Anna vergehen, ohne dass seine Kolleg:innen in der Christengemeinschaft oder Waldorfschule ihn verdächtigen? Es gab doch Anzeichen: Denn ja, er war beliebt bei den Jugendlichen. Aber sehr umstritten unter seinen Kolleg:innen in der Christengemeinschaft. Im Gericht sagt ein ehemaliger Kollege aus: Im Laufe der Jahre kam es zu mehreren Streiten zwischen Matthias R. und seinen Kolleg:innen. Einer von ihnen soll die Gemeinschaft verlassen haben. Eine Kollegin soll unter dem Stress zusammengebrochen sein. Der Öffentlichkeitsbeauftragte der Christengemeinschaft widerspricht dieser Darstellung heute.

Vor Gericht erzählt ein Kollege weiter: Im Februar 2012 habe ihn Matthias R. verzweifelt angerufen. Seine Frau habe ihm bei dem Versuch, seine „Maske“ herunterzureißen das Gesicht zerkratzt. Matthias R. soll ihm gegenüber zugegeben haben, dass er mit zwei Frauen „seelischen Ehebruch“ begangen hat. Damit meint er, dass er seine Frau zwar nicht auf körperlicher, aber auf emotionaler Ebene betrogen habe. Kurze Zeit später sucht Matthias R. wieder den Kontakt. Er gesteht, dass er sexsüchtig ist. Wenn er gestresst sei, würde er sich im Internet sexuelle Inhalte ansehen.

Er erzählt auch von einer anderen, älteren Frau, mit der er seelischen Ehebruch beging. Der Kollege habe, so sagt er es vor Gericht, der Frau später einen Brief geschrieben und sie gefragt, ob Matthias R. sie verletzt habe. Sie verneinte dies. Der Kollege habe die Spur danach nicht weiterverfolgt. „Wir waren im Tiefschlaf, der andere Kollege und ich.“ Sie seien beide hoffnungslos blind gewesen. „Er hat uns völlig gefangen.“

Matthias R. wirkt bei jedem Gerichtstermin teilnahmslos. Während sein ehemaliger Kollege aussagt, bohrt er in der Nase. In Gesprächen, so sagt der Kollege vor Gericht, habe Matthias R. von einem 14-jährigen Mädchen erzählt, das seit Mitte der 90er Jahre immer wieder seine Nähe gesucht habe. Ein Arzt habe Matthias R. geraten, bei ihr eine „Knuddeltherapie“ anzuwenden. Lange innige Umarmungen mit viel Körperkontakt.

Genau in diese Zeit fallen die Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs, die eine weitere junge Frau gegenüber Matthias R. kurze Zeit später erheben wird: Sandra S.* Es stellt sich heraus: Anna war nicht allein.

Im September 2012 wendet sich Sandra S. an einen Pfarrer der Gemeinde und berichtet von sexualisierter Gewalt durch Matthias R. Das Opfer bittet die Christengemeinschaft, zu schweigen. Die Christengemeinschaft folgt ihrem Wunsch. „Wir mussten aber trotzdem dafür sorgen, dass er nicht mehr als Pfarrer tätig ist“, sagt Johannes Roth, der Sprecher der Christengemeinschaft, dem Hessischen Rundfunk. Wegen eines anderen Konflikts habe man ihn umgehend suspendiert. Ein Jahr später werden die Vorwürfe im Rahmen eines Gemeindeabends in Anwesenheit des Rechtsbeistandes von Sandra S. öffentlich gemacht. Erst 2014 verlässt Matthias R. die Kirche vollständig.

Die Kirchengemeinschaft erstattet damals keine Anzeige. Sie beruft sich auf das Spannungsfeld zwischen der seelsorgerischen Verschwiegenheitspflicht und der Fürsorge für ihre Mitglieder. Aber auch die Waldorfschule, auf die Anna ging, hält sich damals sich zurück. Warum? 2012 und in den folgenden Jahren habe es lediglich Gerüchte gegeben, warum Matthias R. von der Gemeinde suspendiert wurde. Auf Rückfragen hin teilt uns die heutige Schulleitung aber mit, dass die Schule 2014 von den konkreten Vorwürfen von Sandra S. erfahren habe. Die Eltern und Schüler:innen aber wurden darüber nicht informiert.

Hätten sie nicht das Recht gehabt, zu erfahren, wenn ein ehemaliger Religionslehrer sich an Mädchen vergriffen hat? Selbst, wenn zu diesem Zeitpunkt noch nicht klar war, dass auch Schüler:innen der Schule betroffen waren?

Als Anna im Rahmen ihrer Therapie die Räume der Schule, in denen die Vergewaltigung geschehen ist, sehen will, kontaktiert eine Bekannte für sie die Schulleitung. Die Bekannte sagt, es gäbe in der Schule Bedenken, dass Anna oder ihre Therapeutin an die Presse gehen und der Vorfall solche Ausmaße annimmt wie der Missbrauchsskandal an der Waldorfschule Schwäbisch Hall. Anna darf trotzdem kommen.

Wer sucht Hilfe in einem System, das einen so gebrochen hat?

Die Schule selbst informiert die Eltern erst am 18. April 2024 per Mail über die Vorfälle, zehn Jahre später, nachdem ein Artikel über den Prozess gegen Matthias R. auf hessenschau.de erschienen war. „Diese Vorwürfe“, so heißt es in der Mail, „betrafen zunächst allein Vorfälle in der Gemeinde. Im Laufe des Verfahrens erhielten wir als Schule durch die Staatsanwaltschaft Kenntnis davon, dass auch Tatvorwürfe verhandelt werden, die in Räumlichkeiten unserer Schule stattgefunden haben sollen.“ Als verantwortliche Personen für den Kinderschutzprozess und den aktuellen Missbrauchsfall werden zwei Frauen aus der Schulleitung genannt. Es wird auf das Kinderschutzkonzept der Schule hingewiesen.

Die Pressesprecherin des Bunds der Freien Waldorfschulen, Nele Auschra sagt: „Aus unserer Erfahrung wissen wir, dass in den meisten Fällen inzwischen sehr professionell mit Verdachtsmomenten umgegangen wird.“ Mit den Schutzkonzepten solle Vertuschung nicht mehr möglich sein, sagt die Pressesprecherin, und durch ein standardisiertes und transparentes Verfahren solle Aufklärung und Aufarbeitung gesichert sein.

Klingt beruhigend. Wäre da nicht der Bericht von Eva Wörner. Sie ist Mitglied im Bundesvorstand und Dozentin und Geschäftsführerin am Seminar für Waldorfpädagogik in Frankfurt am Main. Im April 2023 hatten sie Schüler:innen zur Bundes-Schüler:innen-Tagung eingeladen. Sie sollte dort das Thema Gewaltprävention und Schutzkonzept vorstellen und traf dort auf Schüler:innen, die nichts von diesen neuen Errungenschaften wussten.

Schüler:innen hätten weder von der Brisanz der Thematik an Waldorfschulen gewusst, noch, dass das Schutzkonzept verpflichtend ist. Wörner schreibt: „Fast alle Schüler:innen berichteten von Grenzverletzungen und übergriffigem Verhalten und wussten nicht, wohin mit diesem Erleben.“

Annas Schule gründet zur Aufarbeitung und Prävention eine Arbeitsgruppe. Die „Taskforce Prävention“, besteht aus Eltern, Lehrkräften, Ehemaligen, Mitgliedern der Verwaltung und Schüler:innen. In einer Mail wird auch auf die Ansprechstelle für Betroffene von Gewalt und Missbrauch an Waldorfschulen hingewiesen.

Aber reicht das? Es scheint, als wolle man die Vorfälle intern regeln. Sowohl in der Schule als auch in der Christengemeinschaft. Die Schule selbst hat bis zum heutigen Zeitpunkt keinen Kontakt zu Anna aufgenommen.

Und Anna? 2017, nachdem immer mehr Erinnerungen hochkommen, sucht sie Hilfe bei ihrer früheren Therapeutin. Den Anlaufstellen für Missbrauchfragen bei der Christengemeinschaft schreibt sie nicht. Sie hatte Bedenken, sich an Menschen zu wenden, die zu der Institution gehören, in der sie den Missbrauch erlebt hat. Sie denkt auch darüber nach, sich bei der Anlaufstelle für Betroffene von Gewalt und Missbrauch beim Bund der Freien Waldorfschule zu melden, entscheidet sich aber aus demselben Grund dagegen. Erst nachdem die Krankenkasse die Kostenübernahme für die Therapie ablehnt und Anna M. sie nicht selbst bezahlen kann, wendet sie sich mit großer Überwindung an die Glaubensgemeinschaft. Dort habe man sie sehr ernst genommen und ihr geglaubt, sagt sie. Ihre Therapie wird daraufhin mit der Unterstützung der Christengemeinschaft genehmigt.

Im November 2019 erstattet Anna M. Anzeige. In einer Pressemitteilung steht, die Christengemeinschaft habe Anna dabei unterstützt. Anna empfindet das nicht so. Zwei Jahre später geht sie erneut in die Schule, in Anwesenheit der Polizei. Anna fühlt sich unwohl in der Schule. Der zierlichen Frau fällt es spürbar schwer, darüber zu sprechen.

Für die Zukunft, sagt sie, würde sie sich wünschen, dass externe Personen als Vertrauenspersonen hinzugezogen werden, also solche, die kein Teil des anthroposophischen Systems sind. Auch bei der Aufarbeitung von vergangenen Vorfällen. Das wäre für sie ein Zeichen dafür, dass man es mit der Unterstützung ernst meint und dass es nicht nur um den Schutz der Institutionen geht.

Eine Frage bleibt

2022 erhebt die Frankfurter Staatsanwaltschaft Anklage gegen Matthias R. Im Juni 2023 beginnt der Prozess. Wegen der Morddrohung von Matthias R. gegenüber Annas Anwältin und wegen Krankmeldungen zieht sich der Prozess in die Länge. Erst im Herbst 2024 finden die entscheidenden Verhandlungstage statt.

Reue scheint Matthias R. nicht zu verspüren. Erst als über den Tod seiner Frau gesprochen wird, wischt er sich eine Träne aus dem Gesicht. Plötzlich scheint er sich zu erinnern. Und dann ist da dieser kurze Moment, in dem Matthias R. ruckartig den Blick erhebt. Es wirkt, als schaut er uns wütend an, die Menschen, die dem Prozess folgen. Und auch die Staatsanwältin, die nicht nachgibt. Nina Jüttner, die Anwältin von Anna, die trotz der Morddrohung von Matthias R. zu jedem Verhandlungstag erscheint und Anna vertritt. Die junge Frau, die bereit ist, sich den Fragen seiner Anwält:innen zu stellen, auch auf die Gefahr hin, dass all die Gewalt, die sie durch Matthias R. erfahren musste, sie erneut einholen wird.

Das Landgericht Frankfurt verurteilt Matthias R. am 13. November 2024 wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit sexuellem Missbrauch von Schutzbefohlenen und sexueller Nötigung zu einer Freiheitsstrafe von 4 Jahren und 2 Monaten. Zudem muss er an Anna M. ein Schmerzensgeld von 30.000 Euro plus fünf Prozent Zinsen zahlen. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig, da der Angeklagte Revision eingelegt hat.

Eine Frage bleibt: Wie sehr beeinflusst das System Waldorf solche Taten? Hätte Matthias R. sich auch an einer nicht-privaten Schule so an Schülerinnen vergehen können? Wären seine Taten auch an öffentlichen Schulen so lange unentdeckt geblieben? Täter gibt es überall und auch an staatlichen Schulen kommt es immer wieder zu solchen Übergriffen. Aber Matthias R. spielten die Besonderheiten der Waldorfschule in die Hände. Die Vertrautheit, das Familiäre, das Zusammenrücken der Gemeinschaft, wenn das System in Gefahr ist, das Abschotten nach außen.

Irgendwas stimmte nicht. Nach 16 Jahren kam ans Licht, was es war.


Unsere Autorin Bettina Schuler war selbst auf einer Waldorfschule, sie arbeitet derzeit an einem Buch über die Schattenseite von Waldorfschulen. Es wird im August im Verlag Droemer Knaur erscheinen.

Wenn ihr selbst Opfer von sexuellem Missbrauch geworden seid, könnt ihr euch an folgende Stellen wenden:

An das Hilfe-Portal sexueller Missbrauch – speziell für sexuellen Missbrauch in der Kindheit und Jugend. Sie haben ein Hilfe-Telefon: 0800-22 55 530
Die Telefonzeiten sind: Mo., Mi., Fr.: 9.00 - 14.00 Uhr, Di., Do.: 15.00 - 20.00 Uhr

Auf der Homepage könnt ihr auch online nach Hilfe und Beratung in eurer Nähe suchen.

Es gibt außerdem einen Fonds, aus dem Betroffenen von sexualisierter Gewalt in der Familie oder in Institutionen wie der katholischen oder evangelischen Kirche bestimmte Sachleistungen bis zu 10.000 Euro zustehen. Das Geld kann etwa für spezielle Therapien oder Aus- und Weiterbildungen genutzt werden. Beim Antrag hilft der gemeinnützige Verein „Weißer Ring“. In bestimmten Fällen geht der Verein in Vorleistungen.

Der Weiße Ring hat außerdem ein Opfertelefon, an das ihr euch kostenfrei und anonym täglich von 7 bis 22 Uhr wenden könnt. Die Telefon-Nummer ist 116 006.

Wir haben die Namen der Betroffenen zum Schutz geändert. Die echten Namen sind uns bekannt.

Redaktion: Bent Freiwald, Schlussredaktion: Rebecca Kelber, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert

„Wir haben unsere Tochter in guten Händen gewähnt“

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