Es ist 1997. Die Hip-Hop Band Spektacoolär landet mit ihrem Song „Meine kleine Schwester“ in den Top 10 der deutschen Charts. Darin singt der Frontsänger: „Sie ist meine Schwester, und trägt ein Messer, sie sagt in der Schule, sei sowas besser …“ Der Tenor ist klar: Sowas hat es in seiner Jugend nicht gegeben.
14 Jahre später, im Mai 2011, titelt der Spiegel: „Mordswut: Die unheimliche Eskalation der Jugendgewalt“. Und auch im Jahr 2024 sind die Schlagzeilen die gleichen. Die Berliner Morgenpost schreibt: „Polizei: Jugendgewalt in Berlin auf neuem Höchststand“. Der Bayerische Rundfunk fragt: „Immer mehr gewalttätige Jugendliche: Wie soll man mit ihnen umgehen?“ Die AfD möchte die Strafmündigkeit auf 12 Jahre herabsetzen. Und die Union hält es zumindest für fragwürdig, dass Kinder unter 14 Jahren strafrechtlich nicht schuldfähig sind. Sie möchte diese Altersgrenze in einer wissenschaftlichen Untersuchung überprüfen lassen und gegebenenfalls das Mindestalter für die Strafmündigkeit senken.
Wenn man diese Berichte liest, kann das nur eins heißen: Seit mehr als 25 Jahren werden Kinder und Jugendliche immer gewalttätiger. Und die Zahlen müssten heute unfassbar hoch sein. Spoiler: Sie sind es nicht. Es ist aber auch nicht alles besser geworden.
Viele Berichte über kriminelle Kinder und Jugendliche haben mindestens zwei Sachen gemeinsam: Erstens verklären Erwachsene ihre eigene Jugend und denken fälschlicherweise, dass diese viel harmloser war. Und zweitens erschaffen Medien damals wie heute das Bild einer gefährlichen Entwicklung.
Deshalb habe ich mir die Daten für meine Serie „Was wir wirklich über Kinder wissen“ genauer angeschaut. Ich wollte wissen, wie gewalttätig Kinder und Jugendliche sind. Gibt es überhaupt eine Krise? Wo haben die Schlagzeilen recht? Wo übertreiben sie? Welche Erkenntnisse liefert die Wissenschaft – und wo sind Forschungslücken? Dafür habe ich mir die Langzeitdaten angeschaut und Experten gefragt, welche Details man kennen muss, um sich ein Urteil bilden zu können. Denn wer diese Details nicht kennt, könnte tatsächlich schnell denken, es würde alles schlimmer werden und migrantische Jugendliche seien besonders gefährlich.
Kapitel 1: Die Panik
Wie genau bilden wir Erwachsenen uns eine Meinung darüber, wie gewalttätig Kinder und Jugendliche sind? Wenn wir nicht gerade mit ihnen arbeiten, stammt unser Eindruck aus den Medien. Für meine Recherche habe ich mir deshalb drei Berichte genauer angeschaut, die viel Aufmerksamkeit erzeugt haben.
Beispiel 1: Im November kursiert eine Meldung, in der es heißt: „Gewalt an Hamburgs Schulen nimmt wieder zu“. Die Meldung basierte auf einer Anfrage der CDU, die den Senat zu Gewalt in Schulen befragt hatte. Demnach gab es 2023 insgesamt 219 Fälle schwerer Körperverletzung. Das sei ein Anstieg von neun Prozentpunkten. Der Hamburger CDU-Chef Dennis Thering spricht von einer „besorgniserregenden Entwicklung“. Und sagt: „Wir sehen insgesamt eine Verrohung in der Gesellschaft, auch an den Schulen.“
Beispiel 2: In einem Artikel des Nachrichtenportals RBB24 im Oktober wird über Straftaten in Berlin berichtet, in denen Messer benutzt wurden. Die Daten stammen von der Polizei Berlin:
„Auch die Zahl der mit Messer-Straftaten in Verbindung gebrachten tatverdächtigen Kinder und Jugendlichen unter 14 Jahren stieg von 52 im Jahr 2020 auf 142 im vergangenen Jahr (2023) an.“
Beispiel 3: Der Spiegel, der WDR und andere größere Medien berichten im Herbst: „Immer mehr Gewalt an Schulen.“ So heißt es zum Beispiel beim WDR. Und weiter: „Schläge, Beleidigungen und Mobbing: Schüler sind zunehmend gewalttätig untereinander.“ Grundlage der Berichte war eine Umfrage der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) unter Lehrkräften. Darüber berichtete die Deutsche Presseagentur. Viele Medien übernahmen wie üblich deren Meldung.
Dort hieß es, 44 Prozent der befragten Lehrer:innen sähen eine Zunahme von körperlicher Gewalt wie Tritte oder Schläge unter den Schüle:rinnen. 56 Prozent erlebten auch eine Zunahme psychischer Gewalt wie Beleidigungen, Beschimpfungen und Mobbing.
Das alles klingt heftig. Das Problem: Keiner dieser Berichte erzählt die ganze Geschichte.
Das zeigen schon die Berichte über Körperverletzungen an Hamburger Schulen. Um die Meldung einzuschätzen, muss man wissen, dass die CDU in Hamburg in der Opposition ist. Sie hat also ein Interesse daran, dass die aktuelle Regierung schlecht dargestellt wird. Die Zahlen sind eigentlich ziemlich unspektakulär: Im Schuljahr 2022/23 gab es 201 Fälle schwerer Körperverletzung, im Jahr 2023/24 waren es 219 Fälle.
Es waren also 18 Fälle mehr als im Vorjahr. Bei insgesamt mehr als über 250.000 Schüler:innen in Hamburg ist das verschwindend wenig. Und vor allem sieht das eher wie eine normale Schwankung der Statistiken aus. Dass diese jedes Jahr exakt gleich bleibt, ist bei so vielen Schüler:innen enorm unwahrscheinlich.
Das zweite Beispiel der Messertaten in Berlin zeigt: Die Zahl der tatverdächtigen Kinder und Jugendlichen unter 14 Jahren hat sich fast verdreifacht. Von 52 im Jahr 2020 auf 142 in 2023. Doch der Vergleich ist irreführend. Das Jahr 2020 war der Beginn der Pandemie, die meisten von uns – auch die meisten Kinder und Jugendlichen – mussten den Großteil des Jahres zuhause verbringen, ohne Kontakt zu anderen Menschen. Dass die Zahlen im Jahr 2020 besonders niedrig waren und im Vergleich dazu die von 2023 hoch sind, ist also keine Überraschung. Der Vergleich sagt nichts darüber aus, ob Kinder und Jugendliche heute häufiger das Messer zücken als früher.
Beispiel 3: Die Umfrage unter Lehrkräften. Wenn 44 Prozent der Lehrkräfte glauben, dass die Gewalt unter Schüler:innen zunimmt, heißt das auch, dass denen gegenüber 56 Prozent stehen, die das nicht so sehen. Die entweder meinen, dass sie keine Veränderung bemerkt haben oder dass es weniger geworden ist (das sagen allerdings sehr wenige).
Was stimmt nun? Der Eindruck von Lehrkräften ist erstmal nur ein Eindruck. Aber es gibt Daten. Wenn Schüler:innen verletzt werden, fließt das in die offiziellen Zahlen der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung mit ein. Dort werden sogenannte Raufunfälle erhoben.
Die Zahl dieser Raufunfälle stieg 2023 im Vergleich zum Vorjahr um rund 11.000 Fälle an, auf insgesamt 64.897. Sie lag damit allerdings immer noch unter dem Wert von vor der Pandemie (2019: 72.973). Mehr Gewalt im Vergleich zum vergangenen Jahr? Ja. Aber „immer mehr Gewalt“ ist das nicht.
Über jedes dieser Beispiele habe ich als Bildungsreporter berichtet – und den Eindruck korrigiert. Wer die Artikel aber nur einzeln betrachtet, übersieht, dass sie zusammengenommen ein gefährliches Bild zeichnen. Wie kann es sein, dass in Überschriften und Berichten eine besorgniserregende Entwicklung dargestellt wird, die man bei genauem Hinsehen widerlegen kann?
Diese Frage habe ich Thomas Hestermann gestellt. Er ist Professor für Journalismus an der Hochschule Macromedia in Hamburg und forscht zu Mustern der Gewaltberichterstattung. Er sagt: „Medien leben von Aufmerksamkeit. Die generiert man am ehesten, wenn man Alarm schlägt. Wenn ich Verkehrsfunk höre, will ich nicht hören, wo der Verkehr fließt. Da interessiere ich mich für Unfälle, Staus und Falschfahrer. Dieser Alarmismus der Medien kann aber dazu führen, dass die Risiken völlig überschätzt werden.“
Die Berichterstattung über Kinder- und Jugendkriminalität sei auf die spektakuläre Einzeltat und einzelne Phänomene konzentriert. In diesem Sinne also skandalisierend. Manchmal seien es nur wenige Fälle, die zum Trend hochgejazzt werden.
Wer Artikel über gewalttätige Kinder und Jugendliche liest, sollte also vorsichtig sein. Aber wie sieht der Trend wirklich aus?
Kapitel 2: Die Langzeitdaten
In den letzten Jahren wird in den Schulen tatsächlich mehr gerauft. Im Langzeittrend aber ist die Entwicklung schon lange rückläufig. Die Entwicklung fasst der DGUV-Hauptgeschäftsführer Stefan Hussy so zusammen: „Trotz der aktuellen Einschätzungen der Lehrerinnen und Lehrer ist der langjährige Trend rückläufiger Unfallzahlen durch Gewalt ungebrochen.“ Auf dieser Grafik sieht man, wie stark die Zahl von Raufunfällen in den letzten 30 Jahren gesunken sind. Dass die Kurve derzeit so starkt ansteigt, liegt daran, dass sie während der Pandemie logischerweise so stark gesunken ist. Der Trend an sich bleibt aber unverändert.
Wenn es um Kriminalität und Gewalt geht, bekommt eine Statistik in Deutschland besonders viel Aufmerksamkeit: die PKS, also die Polizeiliche Kriminalstatistik. Dort gibt die Polizei an, wie viele Tatverdächtige (plus Mittäter, Anstifter und Gehilfen) sie im vergangenen Jahr ermittelt hat und zwar in verschiedenen Bereichen der Kriminalität, sortiert nach Altersgruppen, aber auch nach der Art der Delikte. Das sind zum Beispiel Gewalttaten wie Mord oder Totschlag, Diebstahl, Betrug, Beleidigungen, aber auch politische Straftaten. Die PKS ist eine sogenannte Ausgangsstatistik. Das bedeutet, dass in ihr nur die der Polizei bekannt gewordenen Straftaten geführt werden.
Man sieht: In den vergangenen Jahren sind die Fallzahlen deutlich gestiegen. 2019 waren 73.000 Kinder unter 14 Jahren tatverdächtig, 2023 waren es 104.000. Das ist ein Anstieg. Und darüber haben viele Medien berichtet. Thomas Hestermann aber sagt: „Der mediale Blick ist oft verengt auf kurzfristige Veränderungen.“ Was er damit meint:
Der Blick auf die Langzeitdaten ist viel unspektakulärer. Ab 1993 gab es zunächst einen starken Anstieg, seit 2000 ungefähr aber insgesamt einen wellenartigen Rückgang der Fallzahlen. Die Zahlen gehen immer wieder für ein paar Jahre hoch, im Gesamttrend aber herunter. Derzeit geht die Welle wieder nach oben. Die entscheidende Frage ist, ob der aktuelle Anstieg eine kurzfristige Welle ist oder ob sich der Trend umkehrt und langfristig steigt. Wenn man sich nur die letzten fünf Jahre anschaut, kann man sich diese Frage allerdings gar nicht stellen.
Als ich in den vergangenen Jahren über diese Zahlen berichtet habe, haben mich einige Leser:innen gefragt, ob es überhaupt sinnvoll ist, mit tatsächlichen Fallzahlen zu arbeiten. Wenn es immer weniger junge Menschen gibt, ist es schließlich nur logisch, wenn auch die Fallzahlen sinken. Die Leser:innen haben recht. Deshalb habe ich mir auch stichprobenartig angeschaut, wie hoch der Anteil der tatverdächtigen Kinder unter 14 im Jahr 2001 war und wie hoch er 2023 war.
Auch der Anteil der Kinder, die tatverdächtig sind, ist heute geringer als noch vor 20 Jahren, wenn auch nur etwas. Und das obwohl es zuletzt wieder einen Anstieg gab, der medial sehr breitgetreten wurde. Interessanterweise ist diese positive Entwicklung sogar altergruppenspezifisch. In den letzten zehn Jahren stieg der Anteil der Tatverdächtigen, die über 60 Jahre alt waren, zum Beispiel leicht an.
Der langfristige rückläufige Trend bei Kindern ist unabhängig davon, ob man sich das Hellfeld oder das Dunkelfeld anschaut. Das Hellfeld ist all das, was wir wissen, weil es polizeilich erfasst wird (also in der PKS auftaucht). Je schwerer die Delikte sind, desto höher ist auch das Hellfeld. Ein Mordversuch entgeht der Polizei in der Regel nicht. Aber die wenigsten Vorfälle im Bereich der familiären Gewalt werden polizeilich erfasst.
Wie wir bei Krautreporter schon häufiger berichtet haben, hat die PKS Schwächen, die in den Berichten meistens verschwiegen werden. Die PKS macht zum Beispiel Angaben über Tatverdächtige, nicht über Straftäter:innen (ist also eher eine Arbeitsstatistik der Polizei als eine Kriminalstatistik). Die PKS zeigt nur Ausschnitte (was die Polizei nicht mitbekommt, taucht dort nicht auf), die Zahlen der PKS sind manipulierbar: Je nachdem, wo die Polizei ihre Schwerpunkte setzt und was sie wie intensiv verfolgt, beeinflusst die Zahlen. Personen, die allein aufgrund ihres physischen Erscheinungsbildes als „ausländisch“ wahrgenommen werden, werden zum Beispiel tendenziell häufiger von der Polizei kontrolliert.
Es gibt einen Treiber der Statistik, den ich überhaupt nicht auf der Rechnung hatte – Menno Baumann schon. Er ist Professor für Intensivpädagogik und Experte für Jugendkriminalität und Gewalt. Er sagt: „Der wesentliche Anstieg der Kriminalität im Jugendalter geht auf die Delikte des Besitzes und der Verbreitung von kinderpornografischem Material zurück.“ Die Zahlen steigen aber nicht, weil junge Menschen heute häufiger solche Straftaten begehen. Es gehe vor allem darum, dass man sich heute, im Gegensatz zu früher, strafbar macht, wenn in einer Chatgruppe zum Beispiel Bilder und Videos gepostet werden, die sexuelle Handlungen Minderjähriger zeigen. „Das ist ein Delikt, das erst seit 2021 überhaupt eine Gesetzesgrundlage hat: Sobald ich etwas in eine Chatgruppe stelle, ist es ein Tatverdacht. Das betrifft auch Lehrer und Eltern, die in diesen Gruppen sind. Der Anstieg der Sexualdelikte geht fast vollständig auf diesen Tatbestand zurück.“
Weil die PKS also niemals objektiv darstellen kann, wie kriminell eine Gesellschaft ist, gibt es Dunkelfeld-Studien: Wissenschaftler:innen befragen Menschen, um herauszufinden, wie hoch die Gewalt ist, die nicht von der Polizei erfasst wird. Bei diesen Feldstudien kann man davon ausgehen, verlässliche Zahlen zu bekommen. Die Umfragen sind anonym, die Teilnehmer:innen haben kaum Grund zu lügen oder Straftaten zu verschweigen.
Die Dunkelfeldstudien zeigen einen viel langsameren Anstieg der aktuellen Zahlen zu gewalttätigen Jugendlichen als es zum Beispiel die Daten der Polizeilichen Kriminalstatistik tun.
Für eine repräsentative Dunkelfeldstudie vom Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen wurden zum Beispiel 8.539 Schüler:innen der neunten Klasse zu Täter:innen- und Opferschaft in Bezug auf Eigentums- und Gewaltdelikte befragt. Das Ergebnis: 6,4 Prozent der 2022 befragten 15-Jährigen in Niedersachsen hatten in den vorangegangenen zwölf Monaten eine Gewalttat verübt. 2019 lag dieser Wert noch bei 7,5 Prozent.
Entgegen der Polizeilichen Kriminalstatistik zeigt sich, dass die Gewalt sinkt, sogar in den vergangenen Jahren, die laut PKS besonders schlimm waren. Wie kann es zu einem Anstieg der Zahlen im Hellfeld bei der PKS und gleichzeitig zu einer Abnahme der Zahlen im Dunkelfeld kommen? Die beste Erklärung ist, dass die Gesellschaft sensibler für Gewalttaten geworden ist und diese häufiger zur Anzeige bringt. So vermeldet die Polizei mehr Gewalttaten, während die Zahl eigentlich zurückgegangen ist. Darüber kann man aber nur spekulieren. Die Anzeigebereitschaft aber ist ein weiterer Faktor, der die Datenlage so komplex macht.
Kapitel 3: Die komplizierte Wahrheit
Es ist kompliziert, die Daten der PKS und die des Dunkelfelds richtig zu interpretieren. Das liegt nicht nur an der PKS an sich, sondern auch an anderen Faktoren:
Bei den Delikten, die junge Menschen typischerweise begehen, handelt es sich mehrheitlich um vergleichsweise harmlose Delikte, sie klauen im Supermarkt oder stehlen Geld, sie prügeln sich auf der Straße. Erwachsene hingegen begehen auch Straftaten, die unter Kindern und Jugendlichen nicht vorkommen, wie Steuerhinterziehung, Korruption, Schwarzarbeit, Identitätsdiebstahl oder Menschenhandel. Gleichzeitig sind diese Straftaten schwerer nachzuweisen als der einfache Ladendiebstahl eines Jugendlichen. Die Folge: Junge Menschen sind in den Polizeistatistiken eher überrepräsentiert, Erwachsene im Vergleich dazu eher unterrepräsentiert.
Die Zahl der polizeilich registrierten Fälle hängt fast vollständig davon ab, ob jemand zur Polizei geht und eine Straftat anzeigt. In einem Beitrag bei der Bundeszentrale für politische Bildung schreibt der Strafrechtler und Kriminologe Wolfgang Heinz: „Würde binnen eines Jahres die Anzeigebereitschaft bei ‚Körperverletzung durch eine einzelne Person‘ von 12,5 Prozent auf 15 Prozent steigen, dann würde die Zahl der registrierten Fälle ‚dramatisch‘ um 20 Prozent steigen.“
Und die Folgen werden noch deutlicher, wenn es um ausländische Täter:innen geht. Im Jahr 2021 waren circa 13 Prozent der strafmündigen Menschen in Deutschland Ausländer:innen, bei den Jugendlichen waren es ungefähr 11 Prozent. Im selben Jahr machten Ausländer:innen aber 34 Prozent der Tatverdächtigen und 36 Prozent der Verurteilten aus. Bei den jugendlichen Tatverdächtigen immerhin 23 Prozent und bei den Verurteilten 22 Prozent.
Schaut man auf diese Daten, scheint die Sache klar: Ausländer:innen begehen mehr Straftaten als Deutsche. Nur: So einfach ist es nicht. Die bundesweit repräsentative Schülerbefragung des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen von 2007/2008 ergab, dass deutsche Opfer einen Gewaltübergriff eines deutschen Jugendlichen in 19,5 Prozent der Fälle anzeigten, eines nicht-deutschen Täters zu 29,3 Prozent. Wenn du als Nicht-Deutscher eine Straftat begehst, ist das Risiko, dass du dafür angezeigt wirst, um circa 50 Prozent höher.
Thomas Hestermann hat untersucht, wie solche Phänomene in den Medien dargestellt werden: „Unsere Analyse der TV-Gewaltberichterstattung 2023 zeigt: In 29,8 Prozent der Fernsehbeiträge wird die Herkunft von Tatverdächtigen genannt, und wenn dies passiert, sind es zu 84,2 Prozent Verdächtige ohne deutschen Pass. Das ist eine krasse Umkehrung der polizeilichen Kriminalstatistik.“ Übrigens, ist ein Täter „nicht-deutscher“ Herkunft, schafft er es bereits doppelt so häufig wie ein Deutscher in Pressemitteilungen der Polizei.
Besonders ausgeprägt sei dies bei bestimmten Delikten, etwa Messerdelikten. Die werden nach polizeilicher Erkenntnis zur Hälfte von Deutschen verübt. Hestermann und seine Kollegen haben in den untersuchten Beiträgen allerdings nur einen einzigen Bericht über einen deutschen mutmaßlichen Messertäter gefunden.
Anders als oftmals suggeriert wird, sagen die Daten der PKS nichts über den Migrationshintergrund von Täter:innen aus. Sie erfassen zwar, ob jemand deutsch oder nicht-deutsch ist, aber nicht, ob Menschen mit deutschem Pass eine migrantische Vorgeschichte haben. Menno Baumann sagt: „Der Migrationshintergrund verschwindet aus jeder Statistik sofort, wenn ich irgendeinen anderen Faktor wie Alter, Geschlecht, Adresse oder Armutsbelastung mit einbeziehe.“
In einer seiner Dunkelfeldstudien hat Baumann unter anderem erhoben, ob die Jugendlichen ein eigenes Zimmer haben. Bei Menschen mit Migrationshintergrund hatte jeder zweite kein eigenes Zimmer, bei denen ohne Migrationshintergrund war es nur jeder zehnte. Vergleicht man diese zehn Prozent mit den Menschen mit Migrationshintergrund, gibt es keinen Unterschied mehr in der Gewaltbereitschaft. „Und sofort ist der Faktor Migrationshintergrund weg.“
Einfluss auf die Gewaltbereitschaft haben andere Faktoren, die unter Jugendlichen mit Migrationshintergrund häufiger auftauchen: geringe soziale Bindung, Gewalt im Elternhaus, geringe Schulbildung und ein niedriger sozialer Status. Aber auch die Frage, ob man in einem Wohnviertel wohnt, in dem es häufiger zu Gewalt auf der Straße kommt, ob die eigenen Freund:innen gewalttätig sind und ob man selbst wegen seiner Herkunft diskriminiert wird. All das erhöht das Risiko, dass jemand straffällig wird.
Kapitel 4: Die Zukunft
In den Schulen geht es heute nicht gewalttätiger zu als früher. Das Gegenteil stimmt. Die offiziellen Zahlen der tatverdächtigen Kinder und Jugendlichen steigen zwar seit wenigen Jahren. Sie sind in den 20 Jahren zuvor allerdings zurückgegangen, zumindest wellenartig. Das heißt, es könnte sein, dass der aktuelle Anstieg ebenfalls nur eine Welle auf dem Weg nach unten ist. Es könnte aber auch sein, dass die Zahlen wieder über mehrere Jahre am Stück steigen. Menno Baumann fände das durchaus logisch. Ein Grund dafür ist, dass die Kinder heute tendenziell im jüngeren Alter gewalttätig werden als früher, auch gegenüber Erwachsenen.
Seine Erklärung: Kinder und Erwachsene haben heute eine ganz andere Beziehung zueinander. „Die Idee, dass Erwachsene und Kinder gewaltfrei zusammenleben können, ist kulturhistorisch gesehen sehr jung“, sagt Baumann. In Deutschland ist es erst seit dem Jahr 2000 verboten, Kinder körperlich zu bestrafen, also beispielsweise durch Schläge zu „erziehen“. Je mehr wir Kindern auf Augenhöhe begegnen, desto weniger macht die Gewalt automatisch vor Erwachsenen Halt. Dass Feuerwehrleute oder Lehrkräfte immer wieder von Kindern und Jugendlichen angegriffen werden, sei eine Folge dieser eigentlich positiven Entwicklung.
Thomas Hestermann, der das Zusammenspiel von Medien und ihren Rezipient:innen untersucht, sagt: „Die meisten Leserinnen und Zuschauer sind an diesen ‚Immer-mehr-ismus‘ der Medien gewöhnt. Sie spüren, dass der Alltag nicht so dramatisch ist wie Schlagzeilen vermitteln.“ Die Langzeitstudie „Die Ängste der Deutschen“ zeige beispielsweise, dass in den 1990er Jahren bis zu 45 Prozent der Befragten gesagt haben, dass sie sich vor Straftaten fürchten, aktuell sind es mit 23 Prozent etwa halb so viele. Nur: Auch von dieser positiven Entwicklung haben wohl die Wenigsten schon mal gehört.
Redaktion: Astrid Probst, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Iris Hochberger