Zwei Screenshots von Headlines über gewalttätige Kinder.

Bent Freiwald

Kinder und Bildung

Kommentar: Das Medien-Märchen der immer gewalttätigeren Kinder

Kinder, die Messer zücken, Schüler:innen, die prügeln – darüber schreiben Medien in den letzten Tagen. Diese Berichterstattung führt zu einem völlig falschen Eindruck über Jugendkriminalität.

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Bildungsreporter

Tatort 1: Berlin, am vergangenen Sonntag. In einem Artikel auf rbb24 wird über Straftaten berichtet, in denen Messer benutzt wurden. Neben Statistiken über Erwachsene wird auch über die von Kindern und Jugendlichen geschrieben:

„Die Gesamtzahl aller Verdächtigen von Taten mit Messern stieg in Berlin seit 2020 deutlich an: von 1.948 auf 2.575 im vergangenen Jahr. Der größte Teil davon waren Männer im Erwachsenenalter. Aber auch die Zahl der mit Messer-Straftaten in Verbindung gebrachten tatverdächtigen Kindern und Jugendlichen unter 14 Jahren stieg von 52 im Jahr 2020 auf 142 im vergangenen Jahr an.“

Uff. Das klingt übel. Ein deutlicher Anstieg im Vergleich zu 2020. Mehr als 600 Taten mit Messern kamen in Berlin in 2023 hinzu. Und für mich besonders interessant: Die Zahl der tatverdächtigen Kinder und Jugendlichen unter 14 Jahren verdreifachte sich fast! Von 52 im Jahr 2020 auf 142 im vergangenen Jahr!

Aber Moment mal.

War 2020 nicht irgendwas?

Irgendwas mit: Niemand darf das Haus verlassen?

Da schreiben Journalist:innen einen „deutlichen Anstieg“ der Messergewalt herbei und belegen ihre Aussagen, indem sie die aktuellen Zahlen mit denen aus einem Jahr vergleichen, in dem Erwachsene wie Kinder die meiste Zeit wegen einer weltweiten Pandemie zu Hause herumsaßen. Genial.

Wenn die Zahlen so stark steigen (was sie nicht tun), braucht es natürlich auch härtere Mittel:

„Die kleinere Deutsche Polizeigewerkschaft (DPolG) will die zunehmende Verbreitung von Messern besonders bei Jugendlichen mit mehr Verboten und Vorbeugung bekämpfen. Wichtigster Punkt in einem Fünf-Punkte-Plan ist die Senkung des Alters der Strafmündigkeit auf 12 Jahre.“

Das hätte man einordnen können. Zum Beispiel so: „Länder, die das gemacht haben, haben heute mehr Probleme mit Gewalt durch Kinder. Strafen im juristischen Sinne zeigen keine Wirkung, um weitere Straftaten zu verhindern oder die Kriminalität in einer Gesellschaft zu verringern – nachweislich ist das Gegenteil ist der Fall“. Das schreibt Menno Baumm, Experte für Jugendkriminalität.

Wenn der Eindruck wichtiger ist als die Zahlen

Tatort 2: die Schulen. Beim Spiegel lese ich: „Mehr Gewalt und Mobbing unter Schülern“. Aber nicht nur beim Spiegel. Sondern bei so ziemlich jedem größeren Medium Deutschlands hat es diese News in die Headlines geschafft:

Woran machen all diese Medien fest, dass Schüler:innen immer gewalttätiger werden und mehr mobben? Die Zahlen stammen aus einer Meldung der Deutschen Presse-Agentur (dpa). Darin wird über eine repräsentative Umfrage der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) berichtet.

Bei vielen deutschen Medien ist es üblich, solche dpa-Meldungen unangepasst zu übernehmen. Manche Seiten, wie etwa Zeit Online, versehen die Meldung mit einem entsprechenden Hinweis: „ZEIT ONLINE hat diese Meldung redaktionell nicht bearbeitet. Sie wurde automatisch von der Deutschen Presse-Agentur (dpa) übernommen.“ Bei anderen Redaktionen werden Absätze ergänzt – oder Informationen weggelassen (dazu gleich mehr).

Weder in der dpa-Meldung selbst, noch in den Artikeln, die die Meldung übernommen haben, wurde die Studie der DGUV verlinkt, um die es geht. Und das obwohl sie öffentlich zugänglich ist. Hier kannst du sie selbst lesen.

In der Studie wurden nicht etwa Statistiken ausgewertet, sondern Lehrkräfte befragt.

„Mehr als die Hälfte aller Lehrkräfte an allgemeinbildenden Schulen hat den Eindruck, dass die Zahl der Mobbingvorfälle in den Klassen zugenommen hat. In einer aktuellen Umfrage berichten 56 Prozent der Lehrerinnen und Lehrer von psychischer Gewalt wie Beleidigungen und Formen des Mobbings, die seit der Coronapandemie immer häufiger aufträten“, heißt es dort.

Dass es unter Schüler:innen zu mehr Mobbing kommt, behauptet die dpa – und damit vermutlich hunderte Medien in Deutschland – also deshalb, weil eine ganz knappe Mehrheit (56 Prozent) der Lehrkräfte laut einer Umfrage „diesen Eindruck hat.“ Das heißt aber ja auch: Fast die Hälfte der Lehrkräfte sagt nicht, dass sie das denkt.

Für die Überschrift wird aus diesem Eindruck ganz fix ein Fakt.

Wie irrtümlich dieser Schluss ist, zeigt sich am Beispiel der Gewalttaten. Hier heißt es, 44 Prozent der befragten Lehrerinnen und Lehrer sähen eine Zunahme von körperlicher Gewalt unter den Schülerinnen und Schülern. Also nicht mal die Hälfte! Heißt im Umkehrschluss: Mehr als die Hälfte sieht keinen Anstieg von körperlicher Gewalt, die sagen: Es hat sich wenig verändert oder ist sogar weniger geworden (das sagen drei Prozent).

Der gleichen Logik von oben folgend, müsste man also über den Text schreiben: „Gewalt unter Schüler:innen kaum verändert“. Das aber wäre eine klassische Nicht-Nachricht. Wenn sich etwas nicht verändern, wenn keine Bewegung in einer Sache ist, braucht es keine dpa-Meldung.

Wenn die Zahlen der eigenen Überschrift widersprechen

Es gibt Zahlen, die etwas zuverlässiger sind, als der reine Eindruck von Lehrkräften. Der Eindruck kann schließlich manipuliert werden (zum Beispiel von übertriebener Berichterstattung über gewalttätige Kinder und Jugendliche). Solche Zahlen sind zum Beispiel die Meldedaten der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung. Wenn Schüler:innen verletzt werden, z.B. aufgrund von gewalttätigen Mitschüler:innen, fließt das in diese Zahlen mit ein. In der dpa-Meldung wird diese Zahl sogar zitiert:

„Die Zahl der gewaltbedingten Schülerunfälle stieg im vergangenen Jahr den Angaben zufolge im Vergleich zum Vorjahr um rund 11.000 auf 64.897.“

Sie wird allerdings auch direkt eingeordnet: „Sie lag damit allerdings immer noch unter dem Wert von vor der Pandemie (2019: 72.973), wie die DGUV weiter mitteilte.“

Lässt man die subjektiven Eindrücke der Lehrkräfte mal außen vor, wurden Schüler:innen – laut der Meldung – also doch nicht gewalttätiger.

„Laut ihrer Statistik lag die Unfallrate im vergangenen Jahr bei 7,5 gewaltbedingten Unfällen je 1.000 Versicherte. Diese Quote liegt demnach zwar deutlich über jenen der Pandemiejahre (2020: 4,6, 2021: 3,9, 2022: 6,4), aber immer noch unter der Unfallrate von vor der Pandemie (2019: 8,8).“

Ja, die Zahlen zeigen, die Gewalt ist wieder angestiegen und mit ihr auch die Unfälle. Darauf scheinen sich die dpa und damit alle Medienberichte zu stürzen. Verständlich, das ist ja auch erstmal schockierend. Und die Gewalt soll hier auch nicht kleingeredet werden. Aber: Was die Berichte vergessen, ist, einen sinnvollen Vergleich zu ziehen. Denn beide Zahlen – die der Gewaltfälle und der Unfallrate – liegen unter denen von 2019.

Das passt nun überhaupt nicht zu dem, was in den zahlreichen Überschriften behauptet wird.

Manche Medien ordnen einfach gar nicht ein

In der dpa-Meldung sagt der DGUV-Hauptgeschäftsführer Stefan Hussy über die Ergebnisse DGUV-Studie sogar: „Trotz der aktuellen Einschätzungen der Lehrerinnen und Lehrer sei der langjährige Trend rückläufiger Unfallzahlen durch Gewalt ungebrochen“. Trotzdem schreibt die dpa, es käme zu mehr Gewalt unter Schüler:innen.

Der WDR hat diese sowieso schon schlechte Berichterstattung auf die Spitze getrieben. Dort werden nur die aktuellen Zahlen genannt (65.000 Unfälle, bei denen beispielsweise ein Schüler einen anderen geschubst und derjenige sich im Sturz verletzt hat) und, dass diese Zahl gegenüber dem Vorjahr um 20 Prozent zugenommen habe.

Dass die Werte immer noch deutlich unter den Werten vor der Pandemie liegen, wird hier nicht erwähnt. Dieser Teil aus der Meldung wurde ignoriert. Stattdessen erzählt Aaron, selbst Schüler, dass ihm mal die Hose zerrissen wurde.

Dass so viele Medien die dpa-Meldung übernommen haben, ist auch deshalb so fatal, weil der Spin, den die dpa dieser Studie verliehen hat, jetzt in hunderten Medien Deutschlands zu lesen ist. Der Wahrheitseffekt sagt: Je öfter wir eine Information hören, desto eher glauben wir sie. Wir können also davon ausgehen, dass Millionen Menschen jetzt denken, dass Schüler:innen immer gewalttätiger sind.

Hier kommt eine Einordnung, die wirklich hilft: Von 2001 bis 2021 ist die Zahl tatverdächtiger Kinder deutlich gesunken, mit kleineren Wellen und zuletzt einem Anstieg, der sich 2023 fortgesetzt hat. 2001 gab es laut der Polizeilichen Kriminalstatistik (die an sich problematisch ist, wie meine Kollegin Nabieha Ebedat gezeigt hat) über 140.000 tatverdächtige Kinder. Selbst nach dem Anstieg der letzten drei Jahre liegt der Wert derzeit immer noch bei ungefähr 104.000.

Man muss sich das immer wieder vor Augen führen: Kinder und Jugendliche sind heute deutlich seltener kriminell als noch vor 20 Jahren. Das wäre mal eine gute Headline.


Redaktion: Astrid Probst.