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Wann hast du das letzte Mal zwei Wochen komplett ohne Handy verbracht? Würdest du das durchhalten?
Nächste Woche fahre ich mit 150 Kindern zwischen sechs und 16 Jahren ins Zeltlager. All diese Kinder müssen ihr Handy zuhause lassen – im Zeltlager herrscht striktes Handyverbot. Da ich die Freizeit leite, könnte ich dieses Verbot sofort auflösen. Ich mache es aber nicht, und habe es auch nicht vor.
Ich glaube, das Handyverbot ist nicht nur sinnvoll, es ist auch zeitgemäß. Auch, weil Eltern so nicht jeden Schritt der Kinder kontrollieren können.
Handys waren schon immer verboten
Zunächst: Ich will nicht darüber diskutieren, was Handykonsum und Social Media mit den Gehirnen von Kindern macht oder nicht macht. Diese Debatte bewahre ich mir für andere Texte auf. Die Gründe für unser Handyverbot gehen sowieso länger zurück als jede Studie zu Social Media und psychischer Gesundheit es könnte.
Als ich mit 16 zum ersten Mal als Betreuer mitgefahren bin, im Jahr 2010, gab es dieses Verbot schon, obwohl Smartphones noch eine relativ neue Erscheinung waren und sie definitiv noch nicht im Alltag von Kindern angekommen waren. Wer auch immer das Verbot eingeführt hat – ich bin dieser Person sehr dankbar.
Die Kinder und Jugendlichen im Zeltlager sind zwischen sechs und 16 Jahre alt. Für die Kleinsten ist das Handyverbot eigentlich egal. Aber für die Jugendlichen? Studien zeigen, dass Jugendliche zwischen 13 und 15 heute durchschnittlich gut zweieinhalb Stunden (154 Minuten) pro Tag am Handy verbringen. Für sie ist der Verzicht aufs Handy eine heftige Änderung ihres Alltags. Ein Drittel (33 Prozent) kann sich nach eigenen Angaben ein Leben ohne Social Media nicht vorstellen.
Warum also verzichten wir heute, immer noch, aufs Handy? Ist das nicht rückständig? Nur, weil etwas schon immer so war, muss es ja nicht immer noch richtig sein.
Völlig unterschätzt: sich auf etwas zu fokussieren
Erstens war und ist das Zeltlager schon immer ein Ort mitten in der Natur. Der Zeltplatz liegt seit den 65 Jahren, die unser Verein mittlerweile dorthin fährt, im Naturschutzgebiet, auf der einen Seite ist der Stocksee, einer der saubersten Seen Schleswig-Holsteins, auf der anderen Seite ein Wald. Das nächste Dorf ist 45 Gehminuten entfernt.
Die Tage sind vollgepackt mit Events und Spielen. Viele Angebote sind freiwillig: Es gibt Turniere im Fußball, Basketball, Tischtennis, Beachvolleyball, Handball und Floorball. Bei den Stocksee-Records stellen die Kinder neue Rekorde auf, im Ballhochhalten, Springseilspringen und Körbewerfen. Beim Biathlon kämpfen sie um die beste Zeit. Sie basteln, schleifen Specksteine und rätseln beim Kneipen-Quiz. Bei der Waldrallye durchlaufen die Kinder verschiedene Stationen, beim Chaosspiel müssen die Kinder Aufgabe nach Aufgabe bewältigen, bei den großen Bergfest-Spielen verhindern, dass ein (imaginärer) Investor das Zeltlager kauft (und einen Rentner-Hotel-Komplex baut).
See, Wald, Naturschutzgebiet: Einmal eine volle Dröhnung Natur, bitte.
Den ehemaligen Leiter:innen des Zeltlagers war diese Naturverbundenheit und der Fokus auf das, was tagsüber an Sport und Spielen angeboten wird, schon immer so wichtig, dass sie keine elektronische Abklenkung zuließen. Sie verboten erst den Gameboy und dann jede neue Generation von Nintendo-Spielgeräten. Handys zu verbieten war eine logische Weiterführung dieser Idee: Hier gibt es so viel zu erleben – wir brauchen keine Ablenkung.
Kinder brauchen Freiraum
Auf unserer Website steht: Im Zeltlager bilden sich Erinnerungen, die ein Leben lang halten. Ich glaube: Damit das passiert, brauchen die Kinder Freiraum. Sie brauchen den Raum, neue Freundschaften zu knüpfen, sich mit ihren neuen Freund:innen zu beschäftigen, sich in den Diskussionen darüber, welches Spiel denn nun das nächste sein soll, heftig zu streiten, um sich dann wieder zu vertragen. Kinder brauchen Konflikte, aber sie müssen auch die Möglichkeit haben, sie untereinander zu klären. Sie brauchen Zeit, in denen nicht ständig ein Erwachsener danebensteht, der ihnen sagt, was sie alles dürfen und was nicht oder wie sie sich zu verhalten haben und wie nicht.
Wer sich unfair verhält, bekommt von seinen neuen Freund:innen einen auf den Deckel. Auch das gehört dazu. Wenn das nicht klappt, stehen genug Betreuer:innen bereit, um zu vermitteln.
Foto: Hanna Mattke.
Viele Kinder erleben im Zeltlager zum ersten Mal diese Art von Freiheit, dieses Zurechtfinden, ohne sich jederzeit zuhause melden zu können. Es gibt Kinder, die durchleben an jedem Tag mehrere Krisen. Weil die beste Freundin plötzlich nicht mehr mit einem reden will, weil der Junge, in den das Mädchen verliebt ist, ein anderes Mädchen umarmt hat. Weil der Zeltnachbar bei den Betreuer:innen gepetzt hat oder der Bauch wehtut.
All das ist für viele Kinder wahnsinnig anstrengend – und ungewohnt. Wenn Kinder eine gute Beziehung zu ihren Eltern oder Erziehungsberechtigten haben, sind diese genau der sichere Anker, den man jederzeit kontaktieren kann, wenn man nicht weiterweiß.
Probleme lösen sich meistens auch ohne die Eltern
Da die Kinder ohne Handy ihre Eltern aber nicht erreichen können, müssen sie die Konflikte entweder selbst klären oder die Betreuer:innen um Hilfe bitten. Und das ist schwer: Für Kinder fühlt sich jede Krise so an, als sei sie die schlimmste.
Immer wieder kommt es vor, dass Kinder ihren Eltern eine Postkarte schreiben und von der aktuellen Krise berichten. Oft rufen mich Eltern erschrocken an, wenn die Postkarte angekommen ist. Was da steht, klingt dramatisch, kaum auszuhalten! Ich frage dann bei dem Kind nach und in 95 Prozent der Fälle weiß es entweder gar nicht mehr, worum es auf der Postkarte ging oder das Problem hat sich schon längst gelöst. Und wenn nicht, nehmen wir uns des Problems an. (Natürlich kann ein Kind seine Eltern anrufen, wenn es starkes Heimweh hat.)
Letztes Jahr rief mich mitten am Tag ein Vater an. Er wolle seine Tochter abholen, wann er das am besten machen könne, am besten noch heute?, fragte er.
Abholen? Wieso das denn?, entgegnete ich.
Ihr gehe es nicht gut, sie sei krank und müsse dringend nach Hause.
Davon wusste ich gar nichts. Ich bat den Vater um etwas Geduld und brauchte erstmal mehr Informationen. Also suchte ich die zuständige Betreuerin. Auch die wusste von nichts. Dem 13-jährigen Mädchen ging es eigentlich gut, sie sei nur ein bisschen erkältet. Allerdings: Es regnete jeden Tag, kaum jemand war nicht erkältet. Wir gingen zum Mädchen und fragten nach. Ergebnis: Alles okay soweit. Die Rotznase ist schon viel besser, sie fühle sich fitter und müsse jetzt sowieso weiter Tischtennis spielen.
Eine Stunde später hatte ich den Vater wieder am Telefon. Er war schnell beruhigt. Bis ich ihn fragte, woher er denn überhaupt wusste, dass seine Tochter erkältet sei. Dann begann er zu stottern. Er habe das halt so gehört, sagte er. Das ist Zeltlager-Eltern-Deutsch und heißt übersetzt: Meine Tochter hat mir bei Whatsapp geschrieben.
Oft muss ich die Eltern mehr beruhigen als die Kinder
Nicht falsch verstehen: Ich glaube nicht, dass es für ausnahmslos alle Kinder gut ist, zwei Wochen lang keinen Kontakt zu den Eltern haben zu können. Wir bieten dieses Setting aber an, weil wir davon überzeugt sind, dass es für viele Kinder enorm hilfreich sein kann. Und übrigens auch für viele Eltern.
Jedes Jahr spreche ich mit Eltern, für die es eine riesige Herausforderung ist, ihre Kinder bei uns abzugeben und dann für zwei Wochen nicht unmittelbar mit dem Kind kommunizieren zu können. Oft muss ich die Eltern mehr beruhigen als die Kinder. Vor der Abfahrt sage ich stets: Solange wir uns nicht melden, geht es den Kindern gut.
Solange wir uns nicht melden, geht es den Kindern gut. Foto: Hanna Mattke
Ich glaube, darin liegt ein Learning, das über das Zeltlager hinausgeht: Eltern sollten bedenken, dass die ständige digitale Verbindung zu heranwachsenden Kindern ihre Fähigkeit beeinträchtigen kann, sich in alltäglichen sozialen Situationen zurechtzufinden.
Und ist das nicht unser oberstes Ziel?
Klappt das?
Natürlich haben viele der Jugendlichen ihr Handy dabei. Natürlich wissen wir Betreuer:innen das, wir sind nicht komplett naiv. Wir sagen immer: Lasst euch einfach nicht erwischen! Und wenn sie doch erwischt werden, sammeln wir das Handy ein und verwahren es bis zum Ende der Freizeit in einem Safe.
Aber selbst, wenn die Jugendlichen ihr Handy dabei haben, sorgt das Verbot dafür, dass sie tagsüber kaum Zeit mit ihm verbringen. Wenn sie lediglich abends im Bett heimlich aufs Handy gucken, reduziert sich ihre Bildschirmzeit schon mal drastisch. Und vor allem werden dadurch all die positiven Effekte, die der Alltag im Zeltlager haben kann, nicht beeinträchtigt.
Ich wurde schon mal gefragt, ob es nicht ein Unding sei, Jugendliche dazu zu zwingen, aufs Handy zu verzichten. Ich finde nicht. Erstens muss niemand mit ins Zeltlager kommen. Wenn Eltern mit ihrem Kind gemeinsam zum Ergebnis kommen, dass zwei Wochen ohne Handy unzumutbar sind, gibt es viele andere Ferienangebote.
Zweitens sagen vier von zehn (42 Prozent) Kindern und Jugendlichen zwischen zehn und 18, die sozialen Medien nutzen, dass sie mehr Zeit in sozialen Netzwerken verbringen, als sie eigentlich möchten. Wir wissen schon lange: Die Algorithmen sind genau darauf ausgelegt, dass man mehr Zeit mit dem Handy verbringt, als man will. Ab und zu mal keine andere Wahl zu haben, als zu verzichten, halte ich deshalb für ziemlich zeitgemäß.
Und drittens geht es lediglich um zwei Wochen. Sollte man die nicht durchhalten können?
52 Prozent der Kinder und Jugendlichen ab zehn Jahren finden, ohne das Internet wäre das Leben langweilig. Ich leite das Zeltlager jetzt seit sechs Jahren. Noch nie kam ein Kind zu mir, weil es ohne Handy nicht zurechtkam.
Schlussredaktion: Isolde Ruhdorfer.