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Ich bin Vincent, 17 Jahre alt und bin hier bei Krautreporter Schülerpraktikant. Dazu kam ich, nachdem ich mein Auslandsjahr abbrach, also etwas früher als geplant zurückkam und noch einige freie Monate ohne Schulpflicht hatte.
Ich war in den USA, erst in Florida. Nachdem dort einer der fünf Hunde meiner Gastfamilie in mein Bett kotete, gings nach Georgia. In sechs Monaten 7.600 Kilometer von zu Hause entfernt habe ich so einige Erfahrungen gemacht. Kackende Hunde zählen da eher zu den negativen.
Ich habe gewrestelt, mit Trump-Anhängern gesprochen, wurde in Waffenläden geschleppt. Ich war in Washington D.C. und Savannah, auf einem Prom, habe Freunde gefunden. Ich habe mit anderen „Seniors“ gemeinsam den Sonnenaufgang zum Start des neuen Schuljahres erlebt, den „Senior Sunrise“. Ich war eigentlich ziemlich müde, als wir dort um 6 Uhr morgens auf dem Basketballplatz standen. Cool sieht das Bild trotzdem aus. In einem Sightseeing-Shop in Washington D.C. habe ich dieses T-Shirt entdeckt:
privat
Krass, dass solche Shirts einfach so in gewöhnlichen Souvenir-Shops in Washington D.C. verkauft werden.
Ich habe die verschiedensten Perspektiven erlebt, bei einem progressiven schwulen Paar und bei einer Frau mit Südstaaten-Flagge im Wohnzimmer gelebt.
Nach einem halben Jahr nach Hause gefahren bin ich aus Heimweh, dem Gefühl, einen Eindruck bekommen zu haben und vielleicht gar nicht mehr so viel mehr sehen zu wollen.
Nun bin ich hier und habe Bents Newsletter gekapert, um über Auslandsaufenthalte zu schreiben, wieso und wie wir sie fairer gestalten müssen.
Halb Kreuzberg lebt im Ausland. Und der Rest?
Neues sehen, Erfahrungen machen, eine andere Welt erleben und dabei ne kleine Pause von der eigenen machen. So ein Jahr im Ausland, so ein Abenteuer hat mich schon immer sehr gereizt.
Und da bin ich nicht allein, viele Menschen in meinem Umfeld haben so einen Auslandsaufenthalt während der Schulzeit gemacht oder erleben ihn gerade noch. Allein an meiner Schule gehen jedes Jahr mindestens zehn Schüler:innen ins Ausland.
Doch so ein Jahr ist unglaublich teuer. Für ein Auslandsjahr in den USA zahlst du locker 10.000 bis 20.000 Euro und da kommen alltägliche Kosten vor Ort noch dazu.
Wahrscheinlich ist meine Schule, mein Umfeld, deshalb gar kein so guter Maßstab, gar nicht so repräsentativ.
Ich lebe in Kreuzberg, meine Schule, ein Gymnasium, liegt mitten im Bergmannkiez. Meine Eltern haben studiert, verdienen gut. Meinen Mitschüler:innen gehts überwiegend ähnlich.
Ein Auslandsaufenthalt ist ein Riesenprivileg, das nun mal nur in einem bestimmten Umfeld „normal“ ist. Laut der Kreuzberger Kinderstiftung, einer gemeinnützigen Organisation, die sich für Bildungsgerechtigkeit und Jugendengagement einsetzt, sind 95 Prozent aller Schüler:innen, die ins Ausland gehen, Gymnasiast:innen. 95 Prozent!!! Die Kreuzberger Kinderstiftung vergibt deswegen gezielt Stipendien für Nicht-Gymnasiast:innen. Finanziert wird das weitgehend durch Spenden, ein kleiner Teil kommt aber auch aus Bundesmitteln.
Klar, so ein Abenteuer ist sicher nichts für jeden und klar, du kannst auch scheiß Erfahrungen machen, wortwörtlich. Und trotzdem lernt jede Person, die dieses Privileg in Anspruch nehmen kann, ziemlich sicher etwas fürs Leben. Es hilft sogar später im Beruf.
„Transnationales Humankapital“ – was für jeden?
Der Soziologe Jürgen Gerhards spricht von „transnationalem Humankapital“. Komplizierter Begriff, beschreibt aber eigentlich nur zwei wesentliche Kompetenzen: das Beherrschen von Fremdsprachen und das Verständnis anderer Kulturen. In unserer globalisierten Welt ist dieses Wissen immer relevanter. Vor allem in akademischen Berufen steigt laut Gerhards die Nachfrage nach genau diesen Fähigkeiten immer weiter an. Und auch in der Gastronomie, im Hotel oder am Flughafen ist „transnationales Humankapital“ wichtig.
„Transnationales Humankapital“ ist also eine Voraussetzung für viele Jobs. Und ein Auslandsaufenthalt in der Schulzeit perfekt, um genau das zu erwerben. Aber warum muss man solche Erfahrungen eigentlich privat organisieren?
Diese Bildungslücke wird so nur für die Menschen geschlossen, die es ohnehin schon leichter haben: Jugendliche, die durch ihre Eltern aufs Gymnasium gegangen sind, wahrscheinlich studieren werden, reisen können, in der Stadt leben. Jugendliche, deren Eltern sich einen Auslandsaufenthalt leisten können. Jugendliche wie ich.
Das ist schlichtweg unfair.
Wie wir diese Ungerechtigkeiten bekämpfen können
„Transnationales Humankapital“ könnte viel weitgehender gefördert werden. Gerhards empfiehlt zum Beispiel Fremdsprachen, allen voran Englisch, schon im Kindergarten zu vermitteln. Außerdem findet er, dass Fernsehsendungen und Serien häufiger in Originalsprache veröffentlicht werden sollten. So würde man „die Fremdsprachenkompetenz der nachwachsenden Generation ohne Kostenaufwand enorm verbessern.“
Ich finde, auch Auslandsaufenthalte sollten eben nicht mehr nur für die Menschen möglich sein, die sichs leisten können. Auslandsaufenthalte müssten schulisch gefördert werden. Schulen, weniger Gymnasien als andere Schulformen, müssten Bundesmittel erhalten, um Stipendien für interessierte Schüler:innen anbieten zu können. Außerdem müssten Organisationen wie die Kreuzberger Kinderstiftung staatlich mehr gefördert werden.
Falls „transnationales Humankapital“ weiter nur privat in privilegierten Haushalten erworben werden kann, trägt das deutsche Bildungssystem ganz konkret dazu bei, dass Kinder von ökonomisch starken Akademikereltern, neben all den Privilegien, die ohnehin schon bestehen, in Zukunft noch wahrscheinlicher selbst einen gut bezahlten Job haben werden. Ein Kreislauf, der es Nicht-Akademikerkindern noch schwerer macht.
–> Hier kannst du ein Interview mit Prof. Dr. Jürgen Gerhards lesen.
–> Das ist das Stipendien-Programm der Kreuzberger Kinderstiftung.
Redaktion: Lea Schönborn, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Phillip Sipos