Wer an Waldorfschulen denkt, hat vermutlich Kinder im Kopf, die werken, gärtnern und Theater spielen. Seit unserer gemeinsamen Recherche mit dem ZDF Magazin Royale wissen wir: Hinter Waldorfschulen steckt viel mehr. Das System Waldorf kann es gewalttätigen Lehrkräften offenbar erleichtern, unentdeckt zu bleiben. Kritische Journalist:innen werden öffentlich eingeschüchtert und notfalls verklagt. Und der deutsche Staat unterstützt das System Waldorf jährlich mit mehr als einer halben Milliarde Euro – ohne genau zu wissen, was in den Schulen passiert. Das zeigt unser siebenteiliger Waldorf-Report.
Im dritten Teil hatten wir einen ausführlichen Blick auf die Ausbildung zur Waldorflehrkraft geworfen. Viele Seminare basieren auch heute noch auf der esoterischen Lehre von Rudolf Steiner. Seine über 100 Jahre alten Texte gehören in der Lehrerausbildung zur Standardliteratur. Wir fanden Ausbilder:innen, die behaupten, dass sie mit Naturgeistern und Bäumen sprechen können.
Für einige Lehrkräfte ist die Ausbildung an einer anthroposophischen Hochschule oder Seminar nicht eine Zusatzausbildung, sondern die einzige pädagogische und fachliche Ausbildung, die sie erhalten. Wir hatten damals Kontakt zu Lehrkräften, die die Ausbildung durchliefen. Sie wollten sich aber nicht äußern.
Julia will reden. Mit Ende 30 hat sie sich zwei Jahre lang zur Klassenlehrerin an der Waldorfschule ausbilden lassen. Ein Schuljahr lang hat sie auch als Lehrerin gearbeitet. Heute sagt sie: „Ich hätte niemals unterrichten sollen.“
Als ich arbeitslos wurde, hat mir das Arbeitsamt vorgeschlagen, ich könnte mich zur Klassenlehrerin an der Waldorfschule ausbilden lassen.
Ich habe in verschiedenen Bereichen gearbeitet, handwerklich, kaufmännisch und auch im Kreativbereich. Ich habe große Veranstaltungen geplant und war für Personal zuständig. Mit Kindern habe ich zwar nicht gearbeitet, aber ich bin gut in Organisation, und das ist für Lehrerinnen wichtig. Ich habe mich früher schon mit verschiedenen Philosophien, Meditationen und Yoga-Wegen beschäfigt. Als ich das Internet durchforstete, bin ich auf Steiner und die Waldorfpädagogik gestoßen. Waldorf und die Anthroposophie waren mir also nicht fremd.
Ich hatte außerdem mal einen Chef, dessen Kinder auf eine Waldorfschule gingen. Er erzählte von Kunst, Gartenbau, Ausflügen und Musik. Damals dachte ich: Auf so einer Schule wäre ich auch gern gewesen. Also habe ich mich auf den Vorschlag des Arbeitsamts eingelassen. Warum auch nicht?
Was mich genau erwartet, hat mir niemand gesagt. Im Internet fand ich ein paar Infos, die interessant klangen. Hätte ich aber gewusst, wie die Ausbildung aussehen würde, hätte ich sie niemals angefangen.
Zu Beginn des Kurses waren wir 30 Leute: eine bunte Mischung, aber im Kern alle Quereinsteiger. Jeden Tag in der Woche saß ich beispielsweise mit einem Sportstudenten, einem Polizisten und einer Hotelfachfrau im Unterricht. Viele hatten, so wie ich, keine pädagogische Erfahrung. Gerade einmal die Hälfte aller Teilnehmer hat am Ende die Diplomarbeit geschrieben und damit den Kurs erfolgreich abgeschlossen. Die andere Hälfte hat die Ausbildung abgebrochen.
Fachlich war die Ausbildung eine reine Katastrophe
In dem zweijährigen Kurs habe ich gelernt, was Waldorfpädagogik ausmacht. Doch laut meinem Diplom bin ich offiziell befähigt, die Hauptfächer Deutsch, Geschichte, Geografie, Sachkunde, Mathematik, Biologie, Physik und Chemie zu unterrichten. Dabei habe ich keines dieser Fächer studiert – und die Ausbildung hat sich mit den Themen kaum befasst. Als Quereinsteiger an einer öffentlichen Schule muss man das Fach, was man unterrichten will, zumindest studiert haben.
Jedes Fach haben wir in drei Wochen mit jeweils zwei 90-Minuten-Blöcken pro Woche durchgejagt. Chemie, zum Beispiel, fängt im siebten Schuljahr an – mit Wärme, Magnetismus, Elektrizität und Mechanik. Uns wurde gezeigt, wie wir diese Themen mit den Kindern üben können. Einen Versuch mussten wir zuhause auf Papier aufmalen. In Mathe haben wir etwas Bruchrechnen wiederholt. Das war gut, die meisten Formeln hatte ich schließlich 20 Jahre lang nicht mehr gesehen. Mathe war aber das einzige Fach, in dem es ein bisschen tiefer ging.
Am Ende dieser Blöcke wurde nicht einmal richtig geprüft, ob wir den Inhalt verstanden haben. Es wurde abgefragt, ob wir wissen, zu welchem Zeitpunkt welcher Inhalt unterrichtet werden soll und wieso das entwicklungspsychologisch sinnvoll ist. Ganz ehrlich: Wer Deutsch unterrichtet, sollte die Grammatik beherrschen, um die Arbeiten der Kinder korrigieren zu können. Fachlich war die Ausbildung eine reine Katastrophe.
Den größten Teil der Ausbildung hat Kunst eingenommen. Jeden Tag haben wir gemalt, plastiziert und musiziert. Wir haben immer wieder eurythmische Übungen gemacht, das ist eine Art Bewegungstherapie. Einmal nahmen wir Besenstiele und warfen sie uns gegenseitig rhythmisch zur Musik des Klaviers zu. Da dachte ich: Wo bin ich hier gelandet?
Was mich interessiert hat, war die Heilpädagogik. Für mich war dieser Teil der einzige qualitativ hochwertige der Ausbildung. Wir haben Diagnostik behandelt und über entwicklungspsychologische Erkenntnisse und Konzepte wie Resonanzpädagogik oder dialogisches Lernen gesprochen. Die Dozentin kannte sich sehr gut mit emotionaler und sozialer Förderung aus. Wir hatten aber auch einen Dozenten, der in seinen Ansichten über Behinderung sehr nah an dem war, was Rudolf Steiner sich damals ausgedacht hat: Behinderung habe mit Karma zu tun, mit den Handlungen im früheren Leben und sei eine Art Abrechnung. Das finde ich erschreckend.
Es gab Dozenten, die Steiners Ideen total verinnerlicht haben
Ich interessiere mich zwar sehr für Philosophie und Meditation – aber einige anthroposophische Vorstellungen gehen mir zu weit. Uns wurde beigebracht, dass Kinder einem von vier Temperamenten zuzuordnen sind. Entweder sind sie Choleriker, Phlegmatiker, Sanguiniker oder Melancholiker. Ein Choleriker sei eher der Polterhafte, der Phlegmatiker eher der Ordentliche und Träge. Es hieß, man solle die Sitzordnung in der Klasse den Temperamenten der Kinder anpassen.
Am wenigsten konnte ich mit der Theorie der Umstülpung anfangen. Das klingt schon verrückt: Der Mensch, der seine Knochen und Organe von innen nach außen umstülpen könne, sei kein Mensch mehr, sondern ein ganzes Universum. Ich habe bis heute nicht verstanden, was genau da umgestülpt werden soll.
Rudolf Steiner war während der gesamten Ausbildung gegenwärtig. Wir haben seine Erkenntnistheorie gelesen, die Philosophie der Freiheit und die Erziehungskunst. Manche Ausbilder waren echte Steiner-Urgesteine und haben sich sehr oft auf ihn bezogen. Andere wollten die Waldorfpädagogik weiterentwickeln und haben Steiner auch mal außen vor gelassen.
Die Gemälde in der Schule haben mich an die Bibel erinnert
In der Ausbildung waren Praktika an Waldorfschulen vorgesehen. Die Schule, an der ich schließlich mein erstes Praktikum machen konnte, würde ich als versteinert beschreiben. Die Lehrkräfte hatten eine mystische Art, miteinander umzugehen. Das kann ich nur schwer in Worte fassen: Es wirkte gedämpft und auf eine unnatürliche Art friedlich. Mit den Kindern wurden viele Rhythmus-Übungen gemacht, morgens wurde der Morgenspruch aufgesagt und anschließend „Kein schöner Land in dieser Zeit“ gesungen, ein altes Volkslied. Überall hingen Bilder von Rudolf Steiner oder religiöse Gemälde. Kaum war ich da, wollte ich wieder weg. Deshalb machte ich ein zweites Praktikum an einer anderen Schule.
Dort habe ich eine schwierige Klasse erwischt. Es waren zwar nur zehn Schüler:innen, aber es war nie ruhig. Ich war total überfordert. Wie bekomme ich Schüler:innen motiviert, wenn sie ständig rauslaufen? Die Klassenlehrerin war seit 30 Jahren Lehrerin, hat mich aber überhaupt nicht unterstützt. Es hat sich auch kein anderer Kollege mal meinen Unterricht angeguckt.
Die Fahrt nach Dornach kam mir vor wie eine letzte Gehirnwäsche
Kurz bevor ich meine Diplomarbeit abgeben sollte, musste der gesamte Ausbildungskurs nach Dornach fahren. Das ist eine kleine Gemeinde in der Nähe von Basel. Hier hatte Rudolf Steiner das Goetheanum errichten lassen, sowas wie den Tempel der Anthroposophen. Es ist heute der Hauptsitz der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft.
Nachdem wir ankamen, sind wir ins Archiv gegangen, wo Schriften von Rudolf Steiner aufbewahrt werden. Dort mussten wir uns vier oder fünf Stunden lang eine Eurythmie-Vorstellung anschauen. Wir waren wandern und haben diverse Vorträge gehört über das Gelände, über Steiner und die Anthroposophie.
Rudolf Steiner war es wichtig, dass sich die anthroposophische Architektur den Menschen anpasst, deshalb sollte das Goetheanum keine rechten Winkel enthalten. Das sieht man auf dem gesamten Gelände. Das Goetheanum, mit seiner Größe und seinen runden Formen, wirkte auf mich ziemlich beeindruckend. Es thront auf einem Hügel. Aber die Vorträge, die Tour zum Zentrum der Anthroposophie, kamen mir vor wie eine Gehirnwäsche, bevor wir als Lehrkräfte an die Schulen entlassen werden sollten.
Ich habe Fächer unterrichtet, von denen ich keine Ahnung habe
Auch Waldorfschulen haben Lehrermangel. Deshalb wurde mir direkt eine Stelle an der Waldorfschule angeboten, an der ich das zweite Praktikum gemacht hatte. Ich sollte eine Klasse als Klassenlehrerin übernehmen. Überhaupt hatte ich nur siebenmal 90 Minuten eine Klasse unterrichtet. Aber ich fand es spannend, mit Jugendlichen zusammenzuarbeiten, ihnen Selbstvertrauen zu geben und beizubringen, dass sie ihr Leben selbst gestalten können. Also habe ich die Stelle angenommen.
Meine Klasse bestand aus 13 Schülern. Einige hatten ADHS, andere waren im Autismus-Spektrum. Auch Aggressionen und Bindungsstörungen waren ein Problem. Mir war schnell klar: Hier fliegen Stühle durch die Luft, mal knallt die Tür, mal schreien Kinder – da muss ich nicht mit Temperamenten und Sitzordnung kommen.
An Waldorfschulen wird in sogenannten Epochen unterrichtet, dafür löst man das Unterrichten in verschiedenen Fächern auf und widmet sich einem Thema über drei Wochen hinweg. Ich wollte mit einer Epoche starten, mit der ich mich etwas auskenne und habe erstmal den sozialen Klassenverband gefördert, um alle kennenzulernen. Als ich mit dem Thema durch war, wurde es schon schwieriger. Für eine Epoche stand die deutsche Geschichte auf dem Plan. In der Ausbildung habe ich dazu kaum etwas gelernt. Also habe ich den Kindern beigebracht, was ich teils selbst erst am Tag vorher im Internet gelesen habe.
Ich hatte noch nie einen so schlechten Arbeitgeber wie diese Schule
Mir ist ziemlich schnell aufgefallen, wie schlecht die Schule organisiert ist. Waldorfschulen sind selbstverwaltet, es gibt keine Behörde, die sich einmischt. Entscheidungen werden im Kollektiv getroffen. Das finde ich erstmal nicht schlecht.
Aber ich habe in meinem Berufsleben noch nie so einen schlechten Arbeitgeber erlebt und so schlechte Arbeitsbedingungen wie an dieser Waldorfschule. In den Donnerstagskonferenzen, die mit einem Sinnspruch anfingen, wurde jeder Vorschlag totdiskutiert. Einmal wurde über fünf Wochen lang darüber debattiert, wie wir das Personal weiterentwickeln können. Passiert ist aber nichts. Stattdessen wurden immer weiter Bedenken geäußert und ich kam mir vor wie in einer Wiederholungsschleife.
Ich wurde nicht darauf vorbereitet, mit solchen Kindern umzugehen
Neben meiner eigenen Klasse habe ich auch andere Klassen unterrichtet, eine in Gartenbau. Ich dachte, da kann ich nichts falsch machen. Die Klasse bestand zwar nur aus fünf Schülern, aber sie hat mich von Anfang an total fertig gemacht. Sie haben mich beschimpft, mir gesagt, ich sehe komisch aus. Ich wurde permanent von ihnen abgelehnt. Egal, was ich ausprobiert habe – nichts hat funktioniert. Die Schüler sind während der Stunde auf die Straße gelaufen oder haben Pflanzen ausgerissen.
Da habe ich gemerkt: Ich kann das nicht. Ich halte es nicht aus, mit Schüler:innen zu arbeiten, die so viel Hilfe brauchen. Wenn ich freitags aus der Schule gekommen bin, habe ich meistens eine Flasche Wein aufgemacht. Und samstags wollte ich erstmal nicht unter Menschen. Nach nur drei Monaten an der Schule wusste ich: An diesem Job gehe ich kaputt.
Als ich Physik unterrichten sollte, habe ich Panik bekommen. Physik hatte ich das letzte Mal in der Realschule, das ist 20 Jahre her. Wie soll ich das Kindern beibringen? Bevor die Epoche losging, wurde ich krank, ich bekam eine Mandelentzündung. Als ich wieder gesund wurde, bin ich wieder zurück in die Schule gegangen – für einen Tag. Dann habe ich mich direkt krankgemeldet. Schließlich bin ich noch ein letztes Mal hingefahren und habe persönlich gekündigt.
Mir wurde verboten, nochmal mit den Kindern oder Eltern zu kommunizieren. Den Eltern wurde gesagt, dass ich den Job nicht gepackt hätte. Und das stimmt vielleicht. Aber ich habe als Lehrerin eine Verantwortung für die Kinder. Und die konnte ich so nicht erfüllen.
Es gibt gute Lehrkräfte, die mit all dem klarkommen. Was für mich total unpassend erschien, kann für andere die absolute berufliche Erfüllung sein. Schule braucht dringend neue Wege, hier müssen neue Ansätze verbunden werden. Auch die der Waldorfpädagogik. Schule sollte heißen: Lernen und Neugier für alle Beteiligten mit Begeisterung.
Aber ich wurde weder fachlich ausreichend ausgebildet, noch darauf vorbereitet, wie man mit schwierigen Kindern umgeht. In dieser Hinsicht ist die Ausbildung zur Waldorflehrerin ein Witz. Man guckt überall mal kurz rein, aber so richtig viel lernt man nicht. Ich finde es unverantwortlich, Lehrkräfte so auf die Kinder loszulassen.
Julia ist nicht der tatsächliche Name, ihr richtiger Name ist uns aber bekannt. Außerdem liegen uns das Diplom und das Arbeitszeugnis vor.
Redaktion: Astrid Probst, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert