Eine Sammlung an Screenshots von rechten Menschen, die sich aufregen.

Screenshots X(Twitter) und Facebook

Kinder und Bildung

„Wer sowas veröffentlicht, der muss in die Hölle“

Carsten Müller hat ein Aufklärungsbuch für Kinder ab 5 geschrieben. Jetzt bedrohen Rechte ihn und seine Familie. Warum?

Profilbild von Lars Lindauer
Reporter

Carsten Müller kratzt sich im Gesicht. Er zögert und schaut aus dem Fenster in die Sonne.

„Pass schön auf dich auf! Wir werden dir auflauern und deinen Kopf abschneiden! Und pass auf deine Kinder auf!“

Das war die krasseste Nachricht, die er bekommen hatte, sagt er heute. Sie traf ein paar Monate ein, nachdem er sein zweites Buch veröffentlicht hatte. Ein Aufklärungsbuch für Kinder ab 5. Für manche Leser:innen war das Grund genug, ihm Todesdrohungen zu schicken.

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Ich spreche mit Carsten Müller über Zoom, im Gespräch wirkt er ruhig und bedacht. Er hat schon ein paar graue Haare, ist Mitte 40 und hat ein bisschen Bart. Müller hat die „Praxis für Sexualität“ gegründet. Das ist eine Beratungsstelle rund um „dieses große Thema Sexualität“, wie er sagt. 2021 hat er ein Aufklärungsbuch geschrieben: „Von wegen Bienchen und Blümchen“. Es ist ein Buch über Aufklärung, Gefühle und Körperwissen für Kinder ab 5, so heißt es im Klappentext. Das Buch hat sich in zehn Auflagen über 70.000 Mal verkauft. Für ein Aufklärungsbuch ist das sehr viel.

Nicht jeder findet das gut:

Ein Screenshot von Amazon.de. Torsten schreibt: Was kommt als nächstes??? Was ist los mit unserer Gesellschaft? Warum werden sämtliche Erziehungsmaßnahmen der letzten Jahre und Jahrzehnte in Frage gestellt? Mir gefällt diese Entwicklung ganz und gar nicht!!! 8 Personen fanden diese Informationen hilfreich

Screenshot: Amazon.de

Immer wieder sieht sich der Sexualpädagoge mit demselben Vorwurf konfrontiert:

Screenshot einer Amazon-Rezension: Achtung, Frühexualisierung!

Screenshot: Amazon.de

Screenshot einer Amazon.de-Rezension: Unmöglich. So etwas hat bei 5 jahrigen Kinder nichts, rein garnichts zu suchen. Ein Schande das hier Erwachsene positive Rezensionen schreiben. Unsere Kinder sollen Kinder bleiben und nicht früh sexualisiert werden. Ab 12 oder 14 Jahren wäre es jein Problem.

Screenshot: Amazon.de

„Frühsexualisierung“.

Das klingt hinterhältig und vorsätzlich. Verboten und gemein. Die armen Kinder! Der Vorwurf der „Frühsexualisierung“ kommt immer schnell, wenn es um Kinder, Sexualität oder Aufklärung geht. Und besonders laut kommt er von rechts. Konservative, Rechte und Rechtsextreme scheinen eine besondere Sorge zu haben und verwenden sehr viel Energie darauf, andere Menschen über die Gefahren von Sexualität aufzuklären, die sie vermuten. In erster Linie natürlich für Kinder. Warum eigentlich?

„Ist das wirklich schon was für Kinder?“

Carsten Müller hat 2020 schon mal ein Aufklärungsbuch geschrieben. Es heißt „Sex ist wie Brokkoli, nur anders“ und richtet sich an die ganze Familie, wie es auf dem Cover heißt. Das Buch kam insgesamt sehr gut an, 4,6 Sterne im Schnitt auf Amazon. In dem Buch gibt es auch ein Kapitel über die Aufklärung von Kindern. Manche Eltern reagierten irritiert auf dieses Kapitel, erinnert sich Müller. In seiner Praxis bietet er Schulen und Kitas an, auf Elternabenden über Sexualität von Kindern und sexualisierte Gewalt zu sprechen. Auf diesen Elternabenden fragen ihn dann manchmal Eltern: „Ist das wirklich schon was für Kinder?“ Einmal hat er auch diese Mail bekommen: „Wer sowas veröffentlicht, der muss in die Hölle.“ Er ignorierte die Nachricht. Seltsame Mails bekommt er in seiner „Praxis für Sexualität“ immer mal wieder. Sexuelle Anzüglichkeiten, Sexismus und Stammtischgelaber gehören dort zum Alltag. Dafür, dass er auch mit Täter:innen sexualisierter Gewalt arbeitet, gab es auch schon „Hasskram“, wie Müller sagt: „Ihr seid ja selber pädophil, wenn ihr mit diesen Menschen arbeitet!“

Man gewöhnt sich dran, sagt er.

Immer wieder wird er nach Veröffentlichung des Buches gefragt, ob er das Aufklärungskapitel nicht auch als Bilderbuch für Kinder veröffentlichen möchte. Kleine Kinder, die noch nicht lesen können oder das Lesen gerade noch lernen, starten natürlich nicht mit langen Texten, sondern brauchen auch Bilder, Zeichnungen und Farben. Was zum Draufzeigen und ganz genau angucken. Er fängt also an, sich auch aus Autorensicht mit Aufklärungsbüchern für kleinere Kinder im Vorschulalter zu beschäftigen. Ihm fällt auf, dass viele der populären Bücher, die es zu kaufen gibt, nicht sehr konkret sind und oft vage bleiben. Überall geht es um Bienchen, Blümchen oder Störche. Sex ist dort dafür da, um Kinder in die Welt zu setzen. Um Lust oder Spaß geht es nicht. Verschiedene Familienkonstellationen, Gefühle, Diversität, Homosexualität – alles kein Thema. Der Autor geht auf seinen Verlag zu und schlägt vor, ein modernes Aufklärungs-Bilderbuch zu schreiben. Kurz danach beginnt er gemeinsam mit seiner Schreibpartnerin Sarah Siegl und der Illustratorin Emily Claire Völker, das Buch zu planen.

Ungefähr ein halbes Jahr arbeiten sie an dem neuen Buch. Abends, nach der Arbeit in der Praxis, werkelt Müller noch an Texten und dem Aufbau. Er telefoniert mit der Illustratorin über die Zeichnungen und stimmt sich mit seiner Text-Partnerin ab. Sie überlegen sich klare Bilder und eine Sprache, die korrekt ist, aber auch kindgerecht. Der Penis soll ein Penis sein, die Vulva soll aussehen wie eine Vulva. Harnröhrenöffnung und Klitoris – alles soll da hin, wo es hingehört und damit auch sichtbar und besprechbar sein. Außerdem wollen sie Menschen im Buch so divers darstellen, wie Menschen halt sind. Verschiedene Hautfarben und Körperformen, Menschen mit Behinderungen. Und unterschiedlich groß und alt. Jede:r soll sich darin wiederfinden können. Es soll ein Buch für alle entstehen. Darauf haben sie Bock.

Carsten Müller erinnert sich daran, dass es im Gespräch mit seinem Verlag an manchen Stellen Vorbehalte gab. Nicht immer kann Carsten sich mit seinen Wünschen durchsetzen. In der ersten Auflage wird die Vagina darum noch Scheide genannt. Erst später darf er das Wort ändern. Carsten ist auch dafür, die „Doktorspiele“ so darzustellen, wie sie auch sein können: nackt und intim. Und da wird halt am Po gerochen und zwischen die Beine geguckt. Es entsteht ein buntes Kinderbuch, fast 50 Seiten dick, voll mit Zeichnungen von Kindern und Erwachsenen und Erklärhilfen für Erwachsene.

„Links-grün-versiffte Scheiße“

„Von wegen Bienchen und Blümchen“ erscheint am 30. März 2021. Der Titel ist eine Anspielung darauf, wie Kinder früher aufgeklärt wurden. Wenn überhaupt, erzählten die Erwachsenen ihnen Geschichten vom Storch, der die Kinder bringt, oder eben von Bienen, die Blumen bestäubt. Was kaum half, um die Realität menschlicher Sexualität zu verstehen (und das nicht nur, weil eine Biene bei einem einzelnen Flug bis zu 100 Blüten bestäubt). Heute versuchen Pädagog:innen und Eltern oft, Geschlechtsteile und Vorgänge so zu bezeichnen und zu erklären, wie sie tatsächlich sind. Das ist auch für Kinder wichtig, sagt der deutsche Sexualwissenschaftler Heinz-Jürgen Voß, der an der Hochschule Merseburg lehrt. „Natürlich brauchen auch Kinder Begriffe für Genitalien, für ihr eigenes Wohlbefinden und für eine Selbststärkung. Und auch, um zu signalisieren, wenn etwas Negatives passiert.“

Ungefähr ein Drittel aller Jugendlichen berichtet später, als Kind an „Doktorspielen“ beteiligt gewesen zu sein, so Voß. Die Themen Sexualität und Körperlichkeit sind also ohnehin ein Thema in den Familien und im Kinderzimmer. Die Sexualpädagogik setzt dort an. Neben dem Kennenlernen des eigenen Körpers soll Kindern so auch Empathiefähigkeit vermittelt werden. Also, wer darf mich wo anfassen und wer nicht. Wo sind meine Grenzen? Das sei auch wichtig zum Schutz vor sexualisierter Gewalt.

Viele Erwachsene wissen das nicht. Anders lässt sich kaum erklären, was passiert, als Carsten Müllers Buch immer mehr Leser:innen findet.

Zunächst läuft alles bestens. Das Buch kommt in Müllers Community gut an, auch, weil er alles dafür tut, es in die Welt zu tragen. In einer kleinen Kammer in seiner Praxis hat er ein Mini-Studio eingerichtet, dort gibt er in der Pandemie abends nach der Arbeit Interviews, liest aus dem Buch und spricht in Livestreams zu interessierten Menschen. Elternblogs schreiben Rezensionen über das Buch, Müller geht in einige Podcasts. Er spricht mit der Bloggerin Tina Ruthe, ist bei der Zeit und im Bayerischen Rundfunk im Gespräch.

Die vielen Stunden in dem kleinen Studio zahlen sich aus: Nach zwei Monaten ist die erste Auflage des Buches ausverkauft. 4.500 Bücher stehen nun in den Kinderzimmern der Republik. Sie sollen für einen offenen Umgang mit Sexualität stehen, wünscht sich Carsten. Der Verlag kann nicht sofort nachdrucken. Müller hat noch ein paar hundert Bücher zuhause und fängt an, sie über Amazon zu verkaufen. Zu Hause in seinem Wohnzimmer packt er Hunderte Pakete und bringt sie zur Post.

Als er Anfang 2022 zu Hause auf der Couch sitzt, kommt über Instagram eine Nachricht von seinem Verlag: „Hey, freu dich mal! Du bist ab morgen auf der Spiegel-Bestsellerliste!“

Schon vorher hat er vereinzelt aber auch kritische E-Mails bekommen. „Was fällt ihnen ein?!“, wird er gefragt. Hier und da gibt es auch 1-Sterne-Bewertungen auf Amazon: „Links-grün-versiffte Scheiße! Ihr überfordert die Menschen! Die armen Kinderseelen!“ Carsten Müller kennt das schon. Solche Nachrichten gehören zum Alltag für Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen und vermeintlich „woke“ Ideen vertreten.

Und dann geht es los.

„Die haben wohl nicht mehr alle latten am Zaun“

Über den Mann einer Freundin bekommt der Autor mit, dass sein Buch gerade in einem Telegram-Kanal rumgereicht wird. Es verbreitet sich schnell:

Screnshots diverser Unterhaltungen. Menschen regen sich über das Kinderbuch auf.

Screenshot Telegram, Facebook, X(Twitter)

In den Posts wird sein Aufklärungsbuch als Grundschulbuch bezeichnet. Dazu viele wütende Smileys. Jemand hat eine Doppelseite aus dem Buch abfotografiert und dazu gepostet. Auf dem Bild sind homo- und heterosexuelle Paare beim Sex zu sehen, die gezeichneten Menschen haben verschiedene Hautfarben. Was man auf dem Foto nicht lesen kann, sind die Erklärungen, die neben der Zeichnung im Buch stehen: „Sex ist aber noch mehr als Babys machen. Miteinander zu schlafen macht nämlich Spaß. Deshalb haben viele erwachsene Menschen Sex, obwohl sie keine Kinder bekommen möchten.“ Ines, Rosi, Tobi und Birgit kommentieren: „Abartig!“, „Man kann gar nicht so viel Essen wie man kotzen könnte 🤮🤮🤮🤮🤮🤮🤮🤮“, „Die haben wohl nicht mehr alle latten am Zaun 😡😡😡“.

Als Müller den ersten dieser Posts sieht, ist sein erster Gedanke: „Boah ey, Leute, gibt es nicht andere Probleme?“ Der zweite: „Scheiße, das kann ja noch heiter werden!“ Ihm war von Anfang an klar, dass das Buch bei Gegner:innen einer inklusiven und diversen Darstellung von Sex und Gesellschaft auf Widerstand stoßen könnte. Fast hat er darauf gewartet. Er findet heraus, dass das Foto aus dem Telegram-Kanal aus einer Blog-Rezension stammen muss, wo das Buch positiv besprochen wurde. Auch die Bloggerin bekommt daraufhin Hass-E-Mails. Müller macht sich Sorgen und schreibt ihr, dass er Verständnis dafür hätte, wenn sie den Post löscht. Sie nimmt die Rezension runter.

Auch auf Twitter wird der Screenshot gepostet. Nun gibt es immer mehr Posts, auch aus Frankreich und Polen. Mithilfe von Online-Übersetzern versucht er zu verstehen, worum es geht. Immer wieder liest er, sein Kinderbuch sei offizielle Grundschulliteratur. In den Kommentaren wird dazu aufgerufen, das Buch auf Amazon schlecht zu bewerten, was viele machen. Das Buch hat heute zwar 4,6 Sterne bei 715 Bewertungen, aber fünf Prozent der Bewertungen haben nur einen Stern. Das ist in der Welt der Kinderbücher sehr viel.

Screenshot einer Amazon.de-Rezension: Bitte nicht kaufen! Bitte nicht den Kindern zeigen

Screenshot: Amazon.de

Screenshot eine Amazon.de-Rezension: Gefährlich, manipulativ, verantwortungslos und schadet dem Kindeswohl

Screenshot: Amazon.de

Screenshot einer Amazon.de-Rezension: Achtung, Frühsexualisierung!

Screenshot: Amazon.de

Aus sexualwissenschaftlicher Perspektive ist das Unsinn. „Frühsexualisierung“ ist ein Begriff, der dort gar nicht vorkommt.

„Wir bekennen uns zum Recht jedes Kindes, vor Frühsexualisierung geschützt zu werden“

2016 hat die AfD-Fraktion im Landtag von Sachsen-Anhalt die „Magdeburger Erklärung zur Frühsexualisierung“ veröffentlicht und damit den Begriff für sich gebucht. In der Erklärung „bekennt“ die Fraktion sich zum 6. Artikel im Grundgesetz, „Ehe und Familie in besonderer Weise zu schützen.“ Für sie besteht eine „Familie“ aus der „Verbindung aus Mann und Frau, aus der Kinder hervorgehen.“ Sie ist die „Keimzelle der Gesellschaft“, die den „Erhalt unseres Volkes, unseres Staates und unserer Nation [garantiert].“ Weiter schreiben die Autor:innen: „Wir bekennen uns zum Recht jedes Kindes, vor Frühsexualisierung geschützt zu werden. Kinder sind keine jungen Erwachsenen. […] Wir bekennen uns zu einem Schulunterricht, der auch die Botschaft vermittelt, dass nicht Triebbefriedigung, sondern eine intakte Familie primäres Lebensziel sein sollte.“

Die Partei stellt damit einen Zusammenhang zwischen früher sexueller Aufklärung und frühen sexuellen Erfahrungen oder Missbrauch her, der nicht existiert. 99 Prozent der sexualisierten Gewalt etwa wird bei Kindern im Vorschulalter vom nahen oder familiären Umfeld eines Kindes begangen, so der Sexualwissenschaftler Voß. Die größte Gefahr geht demnach von den eigenen Eltern aus, am häufigsten von den Vätern.

Für die Partei steht nicht der individuelle Charakter, also das Kind selbst und dessen Stärkung, im Mittelpunkt, sondern das Volk und die Nation und ein „massiv völkisch überspitzter Familienbegriff“, so sagt Voß.

Müller informiert seinen Verlag über die Situation. Derweil werden die E-Mails strenger und bedrohlicher im Ton. „Pass schön auf, wo du langläufst, wir wissen, wo du wohnst“, schreibt einer. Müller bekommt Mails, in denen ihm Unbekannte drohen, in seinen Wohnort zu kommen. Der Ort ist im Internet mit ein wenig Recherche leicht zu finden. Die Zugriffszahlen auf der Website seiner Praxis steigen auch an, viele Menschen scheinen ihn zu googlen. Ein komisches Gefühl, sagt er. Immer wieder gibt es auch Anrufe mit unterdrückter Nummer in seiner Praxis. Meistens legen die Menschen direkt wieder auf, manchmal rufen sie noch „Du pädophiles Schwein!“ ins Telefon. Müller erinnert sich daran, wie er einmal neben einer Kollegin in der Praxisküche stand, als sein Handy klingelte. Er hatte zufällig die Praxisnummer auf sein Handy umgeleitet. Wieder ruft jemand eine Beleidigung ins Telefon. „Scheiße, was passiert da gerade? Auf dem eigenen Handy! Das war plötzlich so nah!“, denkt Müller. Ihm wird kotzübel. Er hört auf, seine Praxis-E-Mails selbst zu lesen und leitet das Telefon nicht mehr um.

„Es gibt immer eine gewisse Erregungsfähigkeit“

Fünf Wochen lang ist das Buch ständig Thema im Internet, immer wieder ruft jemand an, kommen böse Mails. Carsten Müller geht trotzdem normal weiter in die Praxis und „funktioniert“, sagt er. Er spricht mit Menschen, die ihm nahestehen, über die Situation. Gemeinsam versuchen sie, beleidigende Bewertungen oder Posts zu melden und löschen zu lassen. Öffentliche Stellung bezieht er damals nicht, er möchte die Sache nicht noch größer machen. Auch heute hadert er noch damit, darüber zu sprechen. Trotzdem stimmte er diesem Gespräch zu. Er sagt, er wolle darauf aufmerksam machen, was Menschen erleben, die sich öffentlich zu Diversität, Aufklärung und sexueller Selbstbestimmung äußern oder Bücher darüber schreiben. Und was niemand mitbekommt, auch wenn man 70.000 Bücher verkauft.

Viele der aufgebrachten Erwachsenen, die böse Kommentare über Müllers Buch im Internet hinterlassen, übersehen vermutlich einen wichtigen Punkt: Auch Kinder sind sexuelle Wesen. „Es gibt immer eine gewisse Erregungsfähigkeit“, erklärt Voß, der Sexualwissenschaftler. Dabei gehe es bei Kindern um Wohlbefinden und um Nähe. Nicht um Geschlechtsverkehr. Das Problem ist, dass Eltern oder Fachkräfte mit ihrem eigenen Verständnis von Sexualität auf Kindersexualität schauen. Sexualität von Erwachsenen sei eher befangen und sehr genital orientiert. Erwachsene haben meistens schon Pornografie konsumiert und eine sexuelle Identität ausgebildet. Das, was man sexualwissenschaftlich und gesellschaftlich aber als Kindersexualität einordnet, ist unbefangen und bezieht sich auf die Neugier der Kinder. Sie entdecken ihren Körper und möchten verstehen, wie er funktioniert. Mit Pornografie oder sexueller Identität hat das aber nichts zu tun. Die Unterschiede lassen sich eigentlich einfach vermitteln. Wir müssten uns aber die Zeit dafür nehmen, meint Voß.

„Erschrocken und schockiert“

Ungefähr zwei Monate nach dem ersten Post veröffentlicht die französische Nachrichtenagentur AFP einen Faktencheck und widerlegt die Behauptung, dass es sich bei dem Aufklärungsbuch um ein Schulbuch handeln würde. Kein Bundesland plane das, die Nachrichtenagentur hat bei allen zuständigen Stellen nachgeforscht. Die Faktenchecker sprachen mit Müllers Verlag, dort war das Team über die Kommentare im Internet „erschrocken und schockiert“ und sah sich an „düstere Zeiten in Deutschland“ erinnert, schreibt die Nachrichtenagentur. Carsten Müller fragt niemand nach einem Interview an.

Danach wird es ruhiger in Müllers E-Mail-Postfach, auch die wütenden Anrufe werden weniger. Der Mob ist weitergezogen. Bis heute kann man im Internet aber noch lesen, dass er Gehirnwäsche betreiben würde, eine Ideologie vorantreibe und Kinder in Gefahr bringe. Eine Kollegin von Carsten Müller checkt immer mal wieder auf Amazon, wie die Stimmung in den Bewertungen für das Aufklärungsbuch gerade ist. Immer noch müssen sie regelmäßig Bewertungen löschen lassen. Was man jetzt öffentlich aus diesem Jahr noch lesen kann, ist bis auf eine Ausnahme positiv. Eine Käuferin namens Melanie schreibt zum Beispiel, dass die Bilder der Geschlechtsteile für ihre Tochter sehr aufregend seien. 5 von 5 Sterne.


Redaktion: Theresa Bäuerlein, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Iris Hochberger

„Wer sowas veröffentlicht, der muss in die Hölle“

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