Wenn ihr Israel und Palästina hört, diese beiden Begriffe, was denkt ihr dann?
Jouanna Hassoun: Ich denke an Heimat und Sehnsucht.
Shai Hoffmann: Ich hätte jetzt nicht als Erstes Heimat gesagt. Sondern Krieg und Hoffnungslosigkeit.
Diese Frage habe ich bei Jouanna Hassoun und Shai Hoffmann geklaut. Normalerweise stellen sie die Schulklassen, mit denen sie über den Krieg in Nahost sprechen. Denn klar ist: Der Krieg zwischen Israel und der Hamas beschäftigt die Schüler:innen in Deutschland nicht nur, sie sehen die grausamen Bilder und Videos jeden Tag in den sozialen Medien. Wie gehen sie damit um? Und was brauchen sie jetzt von Erwachsenen? Das habe ich Hoffmann und Hassoun gefragt. Seit die Hamas Anfang Oktober brutal mordend durch Israel zogen und Israel als Gegenangriff Gaza zerbombt und über eine Million Menschen zur Flucht zwingt, bieten sie gemeinsam Trialoge in Deutschlands Schulen Krieg an. Mehr als 300 Anfragen haben sie bis heute erreicht. Dabei stehen sie selbst symbolisch für das, was sie vermitteln wollen: eine Tochter palästinensischer Geflüchteter und ein Sohn israelischer Eltern, die gemeinsam für mehr Verständnis und weniger Hass werben. Gelingt ihnen das?
Der Satiriker Shahak Shapira sagt: „Die Sache mit Israel und Palästina ist, es gibt wohl keinen anderen Konflikt, bei dem man so viele Menschen sieht, die sich aus vollem Herzen für eine Gruppe von Menschen einsetzen und null Empathie mit einer anderen haben.“ Macht ihr diese Beobachtung auch bei den Jugendlichen?
Jouanna Hassoun: Ich glaube, da verändert sich gerade etwas. Ich hatte das Gefühl, in der ersten Woche gab es viel Empathie mit der israelischen Zivilbevölkerung, mit den Menschen, die auf dem Festival getötet wurden oder die in ihrem Zuhause oder auf der Straße stundenlang um ihr Leben gebangt haben. Da war aber keine Empathie gegenüber den palästinensischen Menschen. Und jetzt haben wir noch größere Einseitigkeit, aber umgekehrt. Die Einseitigkeit besteht darin, dass viele Menschen entweder nur pro Israel sind, oder nur pro Palästina. Die Menschlichkeit und die Empathie für die Opfer auf beiden Seiten werden vergessen. Ideologien stehen derzeit über dem Mitgefühl für menschliches Leid. Das finde ich super traurig.
Eigentlich ist unser Ziel, immer wieder darauf hinzuweisen, dass es um Menschenleben geht. Und dass wir niemanden gegeneinander ausspielen sollten. Die differenzierten Stimmen gehen gerade eher unter. Die Menschen, die sowohl den Überfall der Hamas Anfang Oktober verurteilen, als auch das Vorgehen Israels im Gaza-Streifen als Kriegsverbrechen bezeichnen, werden in die sozialen Medien selten nach oben gepusht.
Ist das in den Schulen genauso? Wie polarisiert ist die Stimmung zwischen den beiden Lagern?
Shai Hoffmann: Gerade in den Schulen ist die Stimmung sehr einseitig. Viele Schüler:innen holen sich ihre Informationen aus den sozialen Medien. Dort herrscht ein Informations- und ein Meinungskrieg, der Hass schürt.
Ihr seid nach dem 7. Oktober nochmal vermehrt in die Schulen gegangen, ihr bietet Trialoge an, also: einen Austausch zwischen drei Gruppen. Was ist das Beste, was dabei in den letzten Wochen passiert ist?
Shai Hoffmann: Neulich waren wir in einer Schule, die laut einiger Schüler:innen gerade in der Anfangszeit des Krieges das Thema Israel-Palästina nicht souverän handhabte. Als die Hamas am 7. Oktober Israel überfallen haben, befanden sich israelische Austauschschüler:innen in der Schule. Wie reagierte also die Schule? Sie stand bedingungslos an der Seite Israels. Und das verstehe ich. Schüler:innen mit palästinensischen Wurzeln fragten sich aber, teilweise sehr emotional, warum der Schmerz der Palästinenser:innen in Gaza keinen Platz in den Solidaritätsbekundungen haben sollte.
Wie hat die Schule, wie hat die Lehrkraft darauf reagiert?
Shai Hoffmann: Sie war sichtlich berührt. Sie rang erst um die richtigen Worte und dann mit den Tränen. Und sie hat sich entschuldigt für die einseitige Haltung der Schule. Ich finde es mutig, sich vor 40 Schüler:innen zu stellen und aufrichtig zu reflektieren. Dafür gehen wir in die Schulen.
Jouanna Hassoun: Wir sehen unsere Aufgabe und auch die der Lehrkräfte darin, die Polarisierung aufzubrechen. Wir möchten für Verständigung sorgen. Wir möchten dafür sorgen, dass die Jugendlichen ihre Emotionen, ihre Wut, ihre Frustration loswerden können. Dass wir beide ganz unterschiedliche persönliche Bezüge dazu haben, hilft da sehr.
Shai Hoffmann: Die Jugendlichen sollen sich etwas abgeholter fühlen. Der Krieg findet nicht nur in Israel und in Palästina statt, sondern auch in den Lebensrealitäten der Jugendlichen. Sie hängen auf Social Media rum und sehen dort die grausamsten Bilder und Videos. Sie haben vielleicht Familie in Palästina oder Israel. Aber vor allem wollen wir dafür werben, dass die Jugendlichen die verschiedenen Meinungen zum Krieg nicht nur akzeptieren, sondern auch verstehen. Jede Meinung muss erstmal Platz haben. Wenn wir da stehen, steht da eine Jouanna Hassoun, die deutsch-palästinensisch ist, und ein Shai Hoffmann, der deutsch-jüdisch ist. Wir sind beide vielleicht nicht immer einer Meinung, aber wir gehen trotzdem respektvoll miteinander um.
Ihr seid sehr verständnisvoll miteinander und kämpft dagegen an, dass die beiden Lager Hass aufeinander entwickeln. Trotzdem: Hattet ihr so einen Hass auf die jeweils andere Seite jemals selbst in euch?
Jouanna Hassoun: Vielleicht ist Hass bei mir nicht der richtige Begriff, aber Unverständnis. Wenn ich alleine bin und in diese Nachrichtenfalle tappe und mir das alles angucke, dann kommt für mich ein Moment des Unverständnisses. Unverständnis, was die Verhältnismäßigkeit angeht. Unverständnis, dass die Menschen dort dermaßen leiden. Unverständnis aber auch dafür, wie die Hamas Menschen massakriert hat. Ich habe grundsätzlich ein Unverständnis dafür, wie Menschen so weit gehen können, wie sie andere demütigen, umbringen und foltern können.
Shai Hoffmann: Ich hatte früher einen größeren Groll gegenüber Palästinenser:innen. Aber ich kannte auch einfach keine. Ich kannte nur die Geschichten und das Leid der Israelis. Vor drei, vier Jahren bin ich aber ganz bewusst in die besetzten Gebiete gereist und habe dort mit Palästinenser:innen gesprochen, mir ihre Geschichten und ihr Leid angehört. Da hat viel mehr Verständnis bei mir eingesetzt. Das hatte ganz viel mit der Begegnung an sich zu tun. Wenn man Menschen nicht trifft, sondern immer nur über sie liest oder von ihnen hört, projiziert man alles Mögliche in sie hinein. Seit ich mehr Aktivisten und Aktivistinnen getroffen habe, kann ich auch die Nachrichtenlage besser verstehen.
Ihr bietet in den Schulen einen Braver Space an. So nennt ihr einen Raum, der Dissens und Unstimmigkeiten zulässt, wo Schüler:innen ihre Meinung äußern und den Mut haben können, auch kontroverse Themen anzusprechen. Fehlt dieser Raum im Schulalltag?
Jouanna Hassoun: Der fehlt in unserer gesamten Gesellschaft. Der fehlt in den Schulen, der fehlt in nahezu allen politischen Diskursen. Ich glaube, dass es vielen Menschen heute immer schwerer fällt, die abweichende Meinung von anderen auszuhalten und sich vor allem trotzdem respektvoll zu begegnen – ohne dabei das Leid der anderen anzuerkennen. Warum also sollte das in Schulen anders sein? Das Problem ist nur, dass in Schulen die Zukunft gebildet wird. Und wenn wir den Schüler:innen dort keinen sicheren Raum zum Diskutieren bereiten, haben wir mit den sozialen Medien eine starke Macht, die uns überwältigt.
Ihr sagt Lehrkräften, die verunsichert sind, wie sie mit ihren Schüler:innen über den Konflikt in Nahost sprechen sollen: „Kommen Sie jetzt bloß nicht mit Fakten.“ Warum eigentlich nicht? Mangelt es nicht in der heutigen Debatte genau an Fakten?
Shai Hoffmann: Gerade geht es darum, die Emotionen aufzufangen und die sind da. Die Wut ist da, die Verzweiflung ist da, der Schmerz ist da, die Trauer ist da, auch bei mir. Kinder und Jugendliche nehmen den Krieg auf ihrem Smartphone mit nach Hause. Das ist wahnsinnig verstörend. In so einer Situation sollte man den Fokus nicht auf die Fakten legen. Fakten können nicht trösten. Der ganze Krieg ist hochemotional. Aber er ist auch nicht das einzige hochemotionale Thema. Die Covid-Pandemie, die Klimakrise, der Ukraine-Krieg: Viele Jugendliche sind entwurzelt und so verunsichert durch die vielen Krisen um sie herum. Der Krieg in Israel und Gaza war dafür nur ein weiterer Auslöser. Deshalb brauchen sie in erster Linie jemanden, der ihnen zuhört.
In den Schulen sitzen ja jetzt nicht nur Israelis oder Palästinenser:innen, sondern auch Schüler:innen ohne Verbindung in diese Region, die mit dem Konflikt persönlich nichts zu tun haben. Wie schwer fällt es diesen Schüler:innen, sich zu diesem Konflikt eine Meinung zu bilden?
Shai Hoffmann: Das ist ein Irrglaube. Auch deutsche Kinder ohne Migrationshintergrund haben etwas mit dem Konflikt zu tun. Ihre Großeltern waren vielleicht Nazis, die waren mit dafür verantwortlich – ob aktiv oder passiv –, dass sechs Millionen Juden und Jüdinnen kaltblütig ermordet wurden. Das ist einer der Hauptgründe dafür, dass die Gründung des Staates Israels so schnell vorangetrieben wurde. Diese historische Verantwortung liegt nicht nur bei Politiker:innen, sondern bei allen Menschen in Deutschland. Lehrkräfte dürfen niemals aufhören, darüber mit ihren Schüler:innen zu sprechen.
Ihr sprecht auch viel mit Lehrkräften. Wie ist das denn bei denen? Kriegen die es hin, ihre Gefühle zu ordnen? Das wäre ja Voraussetzung dafür, dass sie mit ihren Schüler:innen sprechen können.
Jouanna Hassoun: Wenn Lehrkräfte das hinbekommen würden, hätten wir nicht über 300 Anfragen. Nicht alle Lehrer und Lehrerinnen sind überfordert, aber ich glaube, dass wahnsinnig viele Menschen verunsichert sind und nicht wissen, wie sie mit den Gefühlen der Schüler:innen umgehen sollen. Wir brauchen Braver Spaces deshalb auch für Lehrkräfte. Wenn eine Krise auf die nächste folgt, müssen auch Lehrkräfte einen Raum haben, in dem sie Gefühle äußern können und Erfahrungen austauschen können. Empathiebildung, Gefühlsbildung und auch das Ansprechen von Gefühlen sollten auch Teil der Lehrerausbildung sein.
Wenn Schüler:innen dazu ermutigt werden, alle Meinungen zu äußern, kann es auch schnell verletzend werden. Wie geht ihr selbst damit um?
Shai Hoffmann: Manchmal ist das schwierig. Wenn zum Beispiel Schüler:innen ketzerische Nachfragen stellen, wenn sie ein Überlegenheitsgefühl uns gegenüber haben. Ein Jugendlicher hat mir mal meine israelische Herkunft abgesprochen, weil ich nicht in Israel, sondern in Deutschland geboren wurde. Genauso hat eine Schülerin Jouanna mal ihre palästinensische Herkunft abgesprochen, weil sie in einem Flüchtlingsheim im Libanon geboren wurde. Das sind Momente, die auch persönlich wehtun. Wir kommen nicht mit dem Anspruch, dass wir unsere eigenen Emotionen komplett unterdrücken wollen. Und gleichzeitig sitzen da immer noch Schüler:innen.
Sehen die Schüler:innen ein, dass sie euch damit verletzt haben?
Shai Hoffmann: Die Schüler:innen haben ihre Aussagen nicht zurückgenommen und wir hatten auch nicht das Gefühl, dass bei diesen Schüler:innen die eineinhalb Stunden, die wir in der Klasse verbringen, wirklich viel verändert haben. Bei manchen, würde ich sagen, findet schon eine Art Radikalisierung statt. Da geht es nur noch um Hass, die sind nicht mehr empfänglich für Argumente oder Mitgefühl. Und dafür sind wir nicht die richtigen Ansprechpartner. Aber wir haben danach nochmal mit den Lehrkräften gesprochen und das thematisiert.
Wenn es hochkommt, erreichen wir vielleicht zwei Schüler:innen pro Klasse gar nicht. Aber wenn drei oder vier Schüler oder Schülerinnen, bevor sie etwas auf Social Media posten, daran denken, dass es immer mehrere Perspektiven auf dieses Thema gibt, haben wir schon viel bewirkt.
Redaktion: Theresa Bäuerlein, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert und Iris Hochberger