Christian Lindner hat es wieder getan: Für jeden Schritt, den Deutschland in der Debatte um die Kindergrundsicherung nach vorn geht, macht Christian Lindner zwei zurück.
Was war passiert? Beim Tag der offenen Tür seines Ministeriums griff der Finanzminister ein Argument auf, das mir sonst nur von rechten Trollen auf Twitter entgegengeworfen wird: von Kinderarmut seien vor allem Familien betroffen, die seit 2015 nach Deutschland eingewandert seien. „Es gibt also einen ganz klaren statistischen Zusammenhang zwischen Zuwanderung und Kinderarmut.“
Linder sagt weiter: „Hilft man ihnen am besten dadurch, dass man den Eltern mehr Geld aufs Konto überweist? Oder ist nicht vielleicht mindestens diskussionswürdig, in die Sprachförderung, Integration, Beschäftigungsfähigkeit der Eltern zu investieren und die Kitas und Schulen für die Kinder so auszustatten, dass sie vielleicht das aufholen können, was die Eltern nicht leisten können?“
Was Lindner da sagt, fasst FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai gegenüber der Nachrichtenagentur AP nochmal zusammen: „Diesen Eltern einfach nur mehr Geld zu überweisen, verbessert nicht die Chancen und Perspektiven der Kinder.“
Man könnte jeden einzelnen dieser Sätze auseinandernehmen und zeigen, wo Lindner überall falsch liegt, was daran klassistisch oder auch rassistisch ist. Marcel Fratzscher, der Präsidenten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, hat auf Twitter drei Anmerkungen zu Lindner veröffentlicht. Dort beschreibt er auch, warum der statistische Zusammenhang zwischen Kinderarmut und Zuwanderung ein ganz anderer ist als der, den Lindner suggeriert. Kurzfassung: Viele der „ursprünglich deutschen Familien“ seien vor allem deshalb aus der Armut herausgekommen, weil Armut relativ gesehen wird und schlichtweg mehr arme Familien (aus dem Ausland) dazugekommen seien. Die Reallöhne und die Lebensstandards hätten sich nicht etwa tatsächlich verbessert, sondern nur im Vergleich.
Der größte Fehler der FDP ist aber die Annahme, es sei keine Investition in die Zukunft der Kinder, wenn man Eltern mehr Geld aufs Konto überweist.
Denn: Armut ist Stress. Das stimmt nicht nur intuitiv, sondern auch aus Sicht der Hirnforschung. Und Stress verändert unser Gehirn. Geld wiederum? Hilft dagegen. Großteile dieses Textes sind bereits im vergangenen Dezember in meinem zweiten Newsletter „Das Leben des Brain“ erschienen. Dort erzähle ich jeden Freitag von Erkenntnissen aus der Hirnforschung, die man kennen sollte. Mehr dazu: hier.
Armut ist Stress und Stress verändert unser Gehirn
Um die Erkenntnisse der Hirnforschung zu erklären, muss ich etwas ausholen. Ihr kennt alle den Marshmallow-Test? Man gab Kindern einen Marshmallow und versprach einen zweiten, wenn sie den ersten 15 Minuten lang nicht aßen. Der Test war berühmt, weil man lange Zeit davon ausging, durch diesen Test der kindlichen Selbstkontrolle voraussagen zu können, wie intelligent oder erfolgreich man als erwachsene Person mal werden würde.
Bis unter anderem der Psychologe Tyler Watts von der New York University das Experiment wiederholte und feststellte: So einfach ist das nicht.
Zum Glück waren Tyler Watts und seine Kolleg:innen so vorausschauend, bei der Wiederholung des Marshmallow-Experiments auch die familiären Hintergründe, die häusliche Situation und das Verhalten der mehr als 900 getesteten Kinder zu betrachten. Denn wie sich herausstellte, konnten Kinder aus reichem Elternhaus besser auf die Marshmallows warten als Kinder mit armen Eltern. Die Erklärung schien simpel: Arme Menschen haben gelernt, mit Knappheit umzugehen. Sie nehmen das, was sie können, bevor es zu spät ist – oder? Das scheint aber nur die eine Hälfte der Wahrheit zu sein.
Die andere Hälfte könnte Stress heißen. Denn Armut ist Stress. Und Stress verändert unser Gehirn, auf vielfältige Art und Weise. Eine Auswirkung könnte sein, dass unser präfrontaler Kortex schlechter arbeitet.
Oft wird der präfrontale Kortex als das Kontrollzentrum des Gehirns bezeichnet. Eine Hauptaufgabe des präfrontalen Kortex scheint darin zu bestehen, unsere emotionalen Reaktionen auf Stress zu kontrollieren. Er spielt auch eine wichtige Rolle beim Lernen und für unser Gedächtnis. Und er ist laut Studien auch dann besonders aktiv, wenn wir unsere Impulse oder persönlichen Gelüste unterdrücken, um ein größeres Ziel zu erreichen. Stress sorgt dafür, dass wir schlechter darin werden. Und könnte so auch unsere Fähigkeit der Selbstkontrolle beeinflussen.
Geld könnte eben doch helfen
Nochmal etwas deutlicher: Armut verändert Gehirne. Das zeigen auch weitere Studien. Zum Beispiel diese hier, bei der magnetresonanztomographische Aufnahmen der Gehirne von 145 Sechs- bis Zwölfjährigen angefertigt wurden. Das Ergebnis: Kindern aus armen Familien wiesen weniger graue und weiße Substanz auf; zudem waren Hippocampus und Amygdala kleiner.
Kinderarmut zu bekämpfen könnte wiederum direkte Auswirkungen auf die Gehirne von Kindern haben. Das zeigt eine Studie, für die Forscher:innen Daten von 1.000 Müttern mit niedrigem Einkommen und deren Neugeborenen auswerteten. Die Mutter-Kind-Paare wurden per Zufall in zwei Gruppen aufgeteilt. Eine Gruppe bekam monatlich 20 Dollar, die andere 333 Dollar.
Nach einem Jahr zeigten sich Unterschiede. Die Kleinkinder, deren Mütter monatlich 333 Dollar zusätzlich zu ihrem Einkommen erhielten, zeigten eine verstärkte Hirnaktivität. „Dies ist die erste Studie, die zeigt, dass Geld einen kausalen Einfluss auf die Gehirnentwicklung hat“, sagte die an der Studie beteiligte Neurowissenschaftlerin Kimberly G. Noble der New York Times.
Warum genau mehr Geld für die Mutter Auswirkungen auf das Gehirn ihres Kindes haben könnte, wissen die Forscher:innen aber noch nicht. Es könnte sein, dass die Mütter mit dem zusätzlichen Geld bessere Nahrung kaufen oder mehr für Gesundheitsversorgung ausgeben. Vielleicht liegt es auch daran, dass die Mütter weniger Stress an die Kinder weitergeben oder dass sie weniger arbeiten müssen und so mehr Zeit mit ihren Kindern verbringen können.
Eines zeigt die Studie aber erneut: Armut wirkt sich ab der Geburt auf die Kinder und ihre Gehirne aus. Und Geld könnte ganz direkt gegen den negativen Einfluss davon helfen. Nicht nur langfristig, sondern sofort.
P.S. Das gilt sogar für Gehirne, die erst 2015 nach Deutschland eingewandert sind, Herr Lindner.
Redaktion: Theresa Bäuerlein, Schlussredaktion: Theresa Bäuerlein, Fotoredaktion: Bent Freiwald, Audioversion: Christian Melchert