Historisches Foto von stillsitzenden Schüler:innen

Austrian National Library/Unsplash

Kinder und Bildung

Warum Kinder in der Schule nicht stillsitzen sollten

Es schadet nicht nur ihrer Gesundheit, sie lernen deshalb auch schlechter.

Profilbild von Bent Freiwald
Bildungsreporter

Nach nur drei Monaten in der ersten Klasse verging Antonia die Lust am Lernen. Dabei hatte sie sich sehr auf die Grundschule gefreut. Ihr Vater Johannes dachte: Solche Phasen haben wohl alle Kinder mal. Nur: Die Phase dauerte an. Nach zwei Wochen versuchte er herauszufinden, was los war. „Der Grund war einfach“, sagt Johannes. „Antonia hasste es, in der Schule so viel stillsitzen zu müssen.“

Die Familie suchte das Gespräch mit der Klassenlehrerin. Nach wenigen Minuten war klar: Dass Antonia mehr Bewegung braucht, ist gar kein Problem. Seitdem darf sie sich umsetzen, wenn sie das will. Sie darf im Stehen arbeiten. Und wenn ihr Bewegungsdrang noch größer wird, kann sie sich melden, fragen, ob sie auf Toilette darf und stattdessen das Treppenhaus hoch- und runterrennen.

„Das hat alles verändert“, sagt Johannes. Antonia geht wieder sehr gern in die Schule. Und Spaß macht ihr das Lernen auch.

Als ich die Krautreporter-Leser:innen fragte, welche Erfahrungen sie mit Bewegung in der Schule gemacht haben, bekam ich eine E-Mail nach der anderen. Miriam Lütje unterrichtet an einem Oberstufenzentrum in Berlin. Sie schrieb: „Ich ärgere mich immer darüber, wie viele Schüler:innen während des Unterrichts auf die Toilette wollen. Dann fällt mir ab und an ein, dass der Toilettengang für sie die einzige Möglichkeit ist, sich während des Unterrichts mal zu bewegen und den Kopf durchzulüften.“

Im Schnitt verbringen Kinder und Jugendliche 10,5 Stunden am Tag in der Sitzposition. Das hat das Institut für Sport und Sportwissenschaft der Uni Heidelberg in einer Umfrage herausgefunden. Klar ist: Das viele Sitzen ist ungesund und wirkt sich sowohl auf die Gesundheit, als auch auf die Haltung von Kindern aus. Aber es verhindert auch das, wofür Schulen eigentlich da sind: Lernen. Die Hirnforschung zeigt: Denken und Bewegen hängen eng miteinander zusammen. Dass die 45-Minuten-Denkeinheiten an vielen Schulen immer noch komplett ohne Bewegung stattfinden, zeigt vor allem, dass wir nicht sonderlich viel Ahnung vom Denken haben.

Stillsitzen schadet nicht nur der Gesundheit, sondern auch dem Lernen

Dabei ist eigentlich bekannt, wozu zu wenig Bewegung führen kann: Diabetes, Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Etwa jedes sechste Kind in Deutschland ist übergewichtig oder adipös. Unter den 11- bis 13-Jährigen ist es sogar jedes fünfte, schreibt das Robert Koch-Institut. Die Schäden, die beim Stillsitzen entstehen, sind nicht sofort zu erkennen, es wirkt sich langfristig aus. Als Erwachsene wundern wir uns dann, warum wir so starke Rückenschmerzen haben.

Bewegung ist fest im Lehrplan verankert. Sogar als eigenes Fach.

Wie eine Studie zeigt, belief sich die durchschnittliche Anzahl an Schulsportstunden (45 Minuten) von Kindern in Deutschland im Jahr 2019 pro Woche allerdings nur auf 2,6 Stunden. Gegen die 10,5 Stunden Sitzen (pro Tag!) ist das lächerlich wenig.

Wie kam es überhaupt dazu, dass Bewegung und Lernen so strikt voneinander getrennt wurden? Zum einen wurden die Grundzüge unseres Schulsystems vor 100 Jahren entwickelt. Damals bewegten sich die Kinder noch deutlich mehr als heute. Dass sie während des Unterrichts mal saßen, hatte deshalb keine so großen Auswirkungen. Zum anderen ist der Mangel an körperlicher Bewegung aber auch auf die Dominanz des akademischen Lernens und der Wissensarbeit sowie auf die Gewohnheiten und Überzeugungen zurückzuführen, die sich um diese Bemühungen herum entwickelt haben: Während wir denken, glauben wir, sollten wir stillsitzen.

Wir assoziieren Stille mit Beständigkeit, Ernsthaftigkeit und Fleiß. Wir glauben, dass es etwas Tugendhaftes hat, den Bewegungsdrang zu kontrollieren. Wer ein Kind als „Zappelphilipp“ bezeichnet, lobt es damit nicht. „Wenn es etwas zu tun gibt, wird sich nicht bewegt!“, lautet die Losung. Das ist nicht nur in Deutschland so, sondern in weiten Teilen der westlichen Welt. Dass sich Schüler:innen an vielen Schulen nur in den Sportstunden und in den Pausen bewegen dürfen, ist aus Sicht der Hirnforschung geradezu tragisch.

Lehrkräfte sollten das Wort „Stillarbeit“ aus ihrem Wortschatz streichen

In den vergangenen Jahren haben Forscher:innen herausgefunden, dass einzelne körperliche Aktivitäten unsere kognitiven Fähigkeiten direkt und kurzfristig verbessern können. Wenn wir unseren Körper auf bestimmte Weise bewegen, sind wir sofort in der Lage, besser zu denken und zu lernen.

In einer Studie untersuchten zwei Radiolog:innen eine Reihe von Bildern, einerseits im Sitzen und andererseits beim Gehen auf einem Laufband mit einer Geschwindigkeit von einer Meile pro Stunde.

Die teilnehmenden Ärzt:innen identifizierten insgesamt 1.582 bedenkliche Bereiche auf den Dias und stuften 459 davon als potenziell ernsthafte Risiken für die Gesundheit der Patient:innen ein. Als man die Ergebnisse verglich, die sie im Sitzen oder Stehen erzielten, kam heraus: Im Sitzen erkannten sie im Durchschnitt 85 Prozent der Unregelmäßigkeiten auf den Bildern. Im Gehen 99 Prozent.

Noch ein Beispiel: Für eine 2018 veröffentlichte Studie baten Wissenschaftler:innen die Teilnehmer:innen, eine Reihe von Matheaufgaben im Kopf zu lösen, während sie entweder still standen, entspannt blieben, sich aber nicht wesentlich bewegten, oder sich leicht in einem rhythmischen Muster bewegten. Die ganze Zeit über wurde die kognitive Belastung der Teilnehmer:innen mit einer Gehirnscanning-Technologie (fNIRS) gemessen.

Die Ergebnisse: Die kognitive Belastung der Proband:innen nahm unter der Anweisung „nicht bewegen“ erheblich zu. Der Befehl stillzuhalten, steigerte die Hirnaktivität in demselben Bereich wie die Matheaufgaben: dem präfrontalen Kortex, der für die Ausführung intellektueller Aufgaben wie Rechnen und für die Kontrolle unserer Impulse zuständig ist. Von den drei Bedingungen führte die Aufforderung stillzuhalten zu den schlechtesten Leistungen. „Stillsitzen“, so das Fazit der Forscher:innen, „ist nicht unbedingt die beste Voraussetzung für das Lernen in der Schule.“

Stillstehen gibt es nicht

Dass es den Begriff „stillgestanden“ nur bei der Bundeswehr gibt, ist dabei kein Zufall. Wenn wir stehen, dann niemals still. Die ständigen kleinen Bewegungen, die wir im Stehen machen, indem wir unser Gewicht von einem Bein auf das andere verlagern und unsere Arme freier bewegen, werden von Forscher:innen als „Aktivität mit geringer Intensität“ bezeichnet. Untersuchungen haben ergeben, dass die Verwendung eines Stehpults mit einer Verbesserung der kognitiven Funktionen von Schüler:innen und Studierenden verbunden ist. Außerdem widmen sie sich den Aufgaben konzentrierter. Bei Erwachsenen hat sich gezeigt, dass die Arbeit an einem Stehpult die Produktivität steigert.

Als Professor für Bewegungs- und Sportpädagogik an der Fachhochschule für Sport und Management in Potsdam forscht Christian Andrä seit 2008 zum Zusammenhang von Bewegung und Lernen. Für eine seiner Studien ließ er achtjährige Schüler:innen Vokabeln üben. Er teilte sie dabei in drei Gruppen ein. Die erste Gruppe hörte die Vokabeln nur, die zweite Gruppe hörte die Vokabeln und sah dazu ein Bild und die dritte Gruppe hörte die Vokabeln und machte zusätzlich noch eine Geste. Wie gut die Schüler:innen die Vokabeln behalten hatten, testete er nach drei Tagen, zwei Monaten und sechs Monaten.

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Das Ergebnis: Wer die Vokabel nicht nur hörte, sondern auch ein entsprechendes Bild sah oder eine passende Geste dazu machte, schnitt in den anschließenden Vokabeltests besser ab. Christian Andrä sagt: „Wir lernen generell besser, wenn mehr Sinne angesprochen sind.“ Das Betrachten von passenden Bildern und das Gestikulieren führte in den ersten Tests zu gleich guten Ergebnissen. Und das sei im Prinzip spektakulär, sagt Andrä. Denn: „Bei der Bewegung kommen noch ganz andere, positive Effekte hinzu, die beim bloßen Ansehen wegfallen: Prävention gegen Rückenschmerzen, Kinder lernen ihren Körper durch die unterschiedlichen Bewegungen besser kennen.“ Wenn man die Ergebnisse langfristig betrachtet, schneiden die Gesten sogar besser ab: „Bei uns gab es die Tendenzen, dass die Gesten vor allem nach sechs Monaten besser erinnert wurden.“ Bei einer von ihm ganz ähnlich angelegten Studie zeigten 14-Jährige, die beim Einüben Gesten verwendeten, sogar die besten Ergebnisse.

Warum denken wir besser, wenn wir uns bewegen?

Wenn wir uns körperlich betätigen, ist unser Sehsinn geschärft, insbesondere im Hinblick auf Reize, die in der Peripherie unseres Blickfelds erscheinen. Evolutionär ergibt das Sinn: Wenn wir unterwegs sind, müssen wir aufmerksamer sein, als wenn wir ruhig in unserer kleinen, dunklen Höhle sitzen (ich meine jetzt nicht die Klassenräume).

Christian Andrä sagt außerdem: „Wenn der Körper bewegt wird, ist der Blutfluss in Schwung und es kommt zur besseren Versorgung mit Nährstoffen. Dies bewirkt, dass der ganze Organismus besser funktioniert. Das gilt auch für das Gehirn. Bewegung durchblutet das Gehirn und optimiert die Sauerstoffversorgung. Mehr regelmäßige Bewegung führt deshalb dazu, dass es effizienter arbeiten kann.“

Unser Gedächtnis scheint für das, was wir getan haben, also für physische Handlungen, empfänglicher zu sein als für das, worüber wir nur nachgedacht haben. Bewegungen setzen einen Prozess in Gang, der als prozedurales Gedächtnis bezeichnet wird (die Erinnerung daran, wie man etwas tut, z. B. wie man Fahrrad fährt) und sich vom deklarativen Gedächtnis (der Erinnerung an Informationsinhalte, z. B. den Text einer Rede) unterscheidet. Wenn wir Bewegung mit Informationen verbinden, aktivieren wir beide Arten des Gedächtnisses, und unser Abruf dieser Informationen ist infolgedessen genauer. Dieses Phänomen nennen Forscher:innen „Enactment-Effekt“.

Was steckt dahinter? Wie gut wir Informationen abspeichern, hängt davon ab, wie wir sie aufnehmen. Wenn wir eine Information nur hören, wird sie zum Großteil auch nur im auditiven Kortex gebildet. Wenn wir sie zusätzlich noch sehen, kommt der visuelle Kortex dazu. Bei Gestik gesellt sich außerdem der motorische Kortex dazu. So vernetzten sich mehrere verschiedene Areale zu einer Erinnerung, was uns wiederum beim späteren Abrufen hilft.

So können Lehrkräfte mehr Bewegung in ihren Unterricht bringen

Viel zu oft trennen wir aber noch Denkphasen von Bewegungsphasen. Das gilt nicht nur für Kinder. Viele von uns gehen zum Beispiel nur nach der Arbeit oder an den Wochenenden ins Fitnessstudio. Stattdessen sollten wir uns überlegen, wie wir körperliche Aktivität in den Arbeits- und Schultag einbauen können. Mittagspausen, Kaffeepausen, Pausen zwischen Aufgaben oder Besprechungen: Sie alle werden zu Gelegenheiten, unserem Gehirn durch Bewegung etwas Gutes zu tun.

Die Möglichkeiten in den Schulen sind riesig. Manche Schulen öffnen die Turnhallen in den Pausen, damit die Kinder sich dort mit Bällen, Badmintonschlägern und anderen Sportgeräten austoben können. Andere Schulen schaffen Bewegungsinseln oder Kletterwände auf dem Schulhof und weiten ihr AG-Angebot aus. In einigen Klassenräumen dürfen sich die Kinder eigenständig und frei bewegen („flexibles Sitzen“) und auch an Waldorfschulen, über die ich eine Serie geschrieben habe, ist Bewegung oftmals im Schulalltag verankert.

Christian Andrä rät, Bewegung und Lernen gar nicht voneinander zu trennen: „Es muss nicht immer gleich Sport sein. Bewegungen kann man ganz unkompliziert in den Unterricht einbauen.“ Auf seinem Youtube-Kanal zeigt er, wie das gelingt. Wenn es in der Grundschule um Groß- und Kleinschreibung geht und die Lehrkraft Sätze vorliest, können sich die Kinder beispielsweise bei jedem großgeschriebenen Wort ganz groß machen und sich bei jedem kleingeschriebenen Wort tief in die Hocke gehen.

Ein anderes Beispiel sind Zahlenreihen, die Kindern helfen sollen, Addition und Subtraktion zu lernen. Sie stehen dabei auf einer überdimensionalen Zahlenreihe und lösen die Aufgaben, indem sie die Reihe entweder entsprechend hoch oder runter gehen. Wie genau die Bewegung durchgeführt wird, ist dabei kongruent mit der mentalen Operation: Wer noch unsicher ist, kann einen Schritt nach dem anderen machen. Wer sicherer wird, kann auch direkt zur richtigen Zahl springen. Es gibt Studien, die zeigen: Schüler:innen, die auf diese Weise üben, sind später besser in Mathematik.

Bewegung im Unterricht ist heute vor allem in Grundschulen angekommen. Das bestätigten mir auch die E-Mails der Krautreporter-Leser:innen. In den weiterführenden Schulen hingegen wird meistens weiter gesessen. „Kinder haben Bock, sich zu bewegen, altersübergreifend“, sagt Christian Andrä. „Viele sagen immer, das geht nur in der Grundschule gut. Ich sage, das ist Quatsch.“


Redaktion: Andrea Walter, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Iris Hochberger

Warum Kinder in der Schule nicht stillsitzen sollten

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