In der dritten Klasse stand zum ersten Mal ein Lehrer vor mir, der keine Frau war. Er hatte breite Schultern, unterrichtete Sport, leitete den Schulchor und die Modelleisenbahn-AG und peitschte uns durch die Sporthalle (sprichwörtlich). Neben ihm unterrichtete an meiner Grundschule nur eine einzige weitere männliche Lehrkraft – unser Schulleiter. Meine Erzieherinnen im Kindergarten waren alle weiblich. Ich schwamm damals im Schwimmverein. Meine Trainerinnen? Weiblich.
Der einzige Mann, der meine Erziehung und mein Aufwachsen bis zur weiterführenden Schule beeinflusst hat, war mein Vater. Und der war selbst Lehrer.
Ich schreibe das, weil ich damit die Regel bin. In Deutschland ist Schulbildung weiblich. So betitelt die Seite Statista einen neuen Artikel. Das Ausmaß war mir bisher nicht bekannt. Neun von zehn Lehrkräften an Grundschulen sind weiblich. Im Durchschnitt, über alle Schulformen hinweg, machen Frauen einen Anteil von drei Viertel aller Lehrkräfte aus. An Gymnasien sind sie ebenfalls in der Mehrheit.
Als ich diese Grafik sah, schossen mir direkt mehrere Fragen durch den Kopf: Warum ist der Frauenanteil höher, je jünger die Kinder sind? Und: Welche Folgen hat das alles – für Jungs, ihre Ausbildung und ihr Leben?
Die erste Frage lässt sich wahrscheinlich schnell beantworten. Statista selbst schreibt: Die Geschlechterverteilung an Grundschulen sei „historisch gewachsen, die Erziehung junger Kinder werde seit Generationen den Frauen zugeschrieben. Zudem würde die schlechtere Bezahlung und die geringeren Aufstiegschancen Männer oft abschrecken, während sich für viele Frauen die Arbeit an Grundschulen gut mit der Familie vereinbaren ließe.“
Kurz: Das Patriarchat hat mal wieder zugeschlagen. Carearbeit ist Frauensache, seit Jahrhunderten und immer noch, also rein statistisch gesehen. Wie viele der Lehrkräfte gar nicht in die binäre Geschlechterzuschreibung passen, wurde übrigens nicht erhoben.
Welche Folgen hat es, wenn Lehrer:innen fast alle weiblich sind?
Welche Folgen es hat, wenn männliche Lehrer an einigen Schulformen kaum existieren, ist weniger leicht zu erklären. Klar ist: Jungen machen seltener Abitur als Mädchen. Jungen werden später eingeschult. Sie können schlechter lesen, bleiben öfter sitzen, bekommen schlechtere Übergangsempfehlungen, brechen die Schule häufiger ohne Abschluss ab und werden für die gleiche Leistung schlechter benotet. Das haben Forscher:innen vom Berlin-Institut 2015 im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung herausgefunden. Sie sagen: „Es besteht eine erhebliche Benachteiligung junger Männer im allgemeinbildenden Schulsystem der neuen Bundesländer.“
Und auch der Kinderarzt Herbert Renz-Polster sagte mir in einem Interview, Jungs würden öfter geschlagen und härter angefasst. „Wer bricht die Schule ab, wer leidet häufiger an psychischen Erkrankungen, wer hat Verhaltensprobleme, wer landet in Hilfsprogrammen? Jungs sind da immer in der Mehrzahl. Wenn man in der Schule vor die Tür geschickt wird: Wer sitzt da in der Regel? Ein Junge.“
Der Hauptgrund für die unterschiedlichen Noten von Jungen und Mädchen sind Unterschiede im Verhalten, haben die Forscher:innen vom Berlin-Institut herausgefunden. „Mädchen erleben Schule generell positiver als Jungen, und sie sind motivierter zu lernen. Sie investieren mehr Zeit in schulische Dinge und stören seltener den Unterricht.“ Die Forscher:innen schlussfolgern, das Verhalten von Mädchen passe besser zum System Schule.
Wäre all das anders, wenn es mehr männliche Lehrer gäbe?
Wäre das alles anders, wenn es mehr männliche Lehrer gäbe? Das klingt fast zu einfach. Man könnte sich natürlich fragen, ob es heute, in einer Zeit, in der Geschlechterrollen immer mehr hinterfragt werden, überhaupt einen Unterschied macht, ob eine Frau oder ein Mann vor einer Klasse steht. Aber: Das tut es, wie die Forscher:innen vom Berlin-Institut herausgefunden haben. Und sie haben einen erstaunlichen Zusammenhang gefunden:
Je höher der Anteil weiblicher Grundschullehrer:innen, desto mehr Jungen finden sich unter den Hauptschüler:innen beziehungsweise den Hauptschulabbrecher:innen – und desto weniger sind sie unter den Abiturient:innen vertreten.
Ihr Fazit: „Jungen Männern fehlt es an positiven männlichen Vorbildern. Hinzu kommt, dass auch der Anteil alleinerziehender Mütter in den neuen Bundesländern besonders hoch liegt.“
Je jünger die Kinder, desto mehr Einfluss haben männliche Vorbilder auf sie. Deshalb ist es umso fataler, dass männliche Vorbilder in den Grundschulen kaum existieren. Mein Kollege Christian Gesellmann hatte für eine Recherche vor zwei Jahren mit dem Grundschuldirektor Marcus Wellnhofers gesprochen, dessen Schule in der sächsischen Provinz liegt. Der sagte damals: „Meine Schule ist auf dem Dorf. Für viele Kinder ist es ein kleiner Kulturschock, wenn ich etwas Schönes male, singe oder Theater spiele. Oder wenn wir in Deutsch über Texte mit Gefühlen reden. Sowas kennen die meisten von ihren Vätern oder männlichen Verwandten nicht.“
Mein Vater ist nicht gerade für seine Gefühlsausbrüche bekannt. Mit anderen Männern, die mir in dieser Hinsicht ein Vorbild hätten sein können, hatte ich bis zur weiterführenden Schule nichts zu tun. Hat sich dieser Umstand auf mich ausgewirkt? Wahrscheinlich schon. Wenn positive Vorbilder im echten Leben Mangelware sind, suchen sich junge Männer heute ihre Vorbilder im Internet. Nicht immer, aber oft landen sie irgendwann bei Jordan Peterson oder Andrew Tate. Und nicht immer, aber oft, vermittelt das, was beide Herren verbreiten, eine sexistische und stereotype Version von Männlichkeit. Andere Männer könnten dagegen halten, wären sie da.
Wir müssen raus aus einem Dilemma
Über die Benachteiligung von Jungen zu schreiben, hat für mich immer einen Beigeschmack. Denn geht es um Erwachsene, dreht sich die Benachteiligung, leider immer noch, schnell um. Christian Gesellmann hat mein Gefühl in seinem Text gut getroffen:
„Ich denke, wir stehen in diesem Fall vor einem moralischen Dilemma: Frauen kämpfen nach wie vor um Gleichberechtigung. In medialen wie politischen Diskursen um bestehende Ungerechtigkeiten – zum Beispiel auf dem Arbeitsmarkt – stehen deswegen all die Felder im Fokus, in denen Frauen noch immer diskriminiert werden – und das sind ja nicht gerade wenige. Dieser Fokus führt wiederum dazu, dass die Nachteile, die Männer beziehungsweise Jungen erfahren, in den Hintergrund rücken. Aber ein Nachteil hebt den anderen nicht auf.“
Mehr männliche Lehrkräfte würden – nach allem, was man heute weiß – wahrscheinlich zu weniger Benachteiligung für Jungen führen. In Hamburg haben die Schulbehörde und die Zeit-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius deshalb ein auf drei Jahre angelegtes Modellprojekt gestartet, das sich speziell an männliche Oberstufenschüler, Studierende und Quereinsteiger richtet. Bis zu zweimal pro Schuljahr soll ein Schülercampus veranstaltet werden, bei dem über den Job und das Studium als Grundschullehrer informiert wird.
Aber vermutlich werden wir in den nächsten Jahren trotzdem nicht auf einmal viel mehr Männer als Grundschullehrkräfte einstellen als bisher. Vielleicht nähern sich die Anteile etwas an, aber ausgeglichen? Erstmal nicht. Was kann man also tun? Und hat der größere Anteil weiblicher Lehrkräfte nicht auch Auswirkungen auf Mädchen? Wenn ja, welche? Seid ihr selbst Lehrer:innen und wollt mir von euren Erfahrungen erzählen? Falls ihr Ideen habt oder Ansätze dazu kennt, schreibt mir gerne: bent@krautreporter.de
Redaktion: Tarek Barkouni, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert