In den vergangenen Tagen haben mich wieder besonders viele E-Mails von Leser:innen erreicht. Das ist immer so, wenn ich etwas über Waldorfschulen schreibe. Manche Mails sind voller Beleidigungen, mir wird Hetze vorgeworfen. Es gibt aber auch solche, in denen Leser:innen ernste Anliegen haben, obwohl sie meine Texte nicht mögen.
Da war zum Beispiel Daniel. Daniel warf mir erst einen Feldzug gegen Waldorfschulen vor. Dann aber schrieb er etwas, das ich in vielen anderen Mails von Waldorf-Fans wiedergefunden habe: „Egal, welches Thema (Montessori, Waldorf, Jogurt, oder was auch immer…), es gibt immer Aussteiger, die viel Negatives zu berichten haben.“ Und weiter: „Die Frage ist, wie valide die Aussagen dieser Aussteiger im Gesamtkontext sind.“
Und da hat er natürlich recht. Seine Frage ist völlig berechtigt und überhaupt nicht trivial zu beantworten.
So gehe ich mit Erfahrungsberichten um
Würde man sofort loslaufen und berichten, sobald mal jemand von schlechten Erfahrungen mit Waldorf, Montessori oder – ja gut, Jogurt – erfährt, wäre das ziemlich unseriös. Vor etwa zwei Jahren hat die Investigativ-Journalistin Juliane Löffler (Der Spiegel) auf Twitter gepostet, wie sie mit MeToo-Berichten umgeht. Das war zwar bisher nie mein Thema, aber was sie schrieb, kann man – denke ich – auf so ziemlich alle Bereiche übertragen, in denen Menschen über Missstände berichten. Zumindest mache ich das in meiner Arbeit.
Wie finde ich also als Journalist heraus, ob ich es (in meinem Fall beim Thema Waldorf) mit ärgerlichen Einzelfällen oder doch mit größeren, vielleicht systematischen Problemen zu tun habe? Diese Hinweise helfen mir dabei:
- Viele Menschen schildern ähnliche Vorwürfe.
- Die Schilderungen ergeben ein Muster.
- In den Schilderungen ähneln sich Details.
- Mutmaßliche Betroffene haben bereits nachweislich anderen Menschen von Vorwürfen erzählt (in Mails, Nachrichten, am Telefon).
- Sie haben sich Hilfe geholt (Aussage, Anzeige, Beschwerde, bei Polizei/Behörde/Hilfseinrichtung/Presse).
- Die Umstände der Vorwürfe können belegt werden (Ort, Zeit, Treffen etc.).
Überprüfen kann man außerdem:
- Was ist die Motivation, die Vorwürfe öffentlich zu machen?
- Stimmen Informationen rund um die Vorwürfe?
- Ergeben sich Unstimmigkeiten/logische Fragen?
Und ich würde selbst noch ergänzen:
- Gibt es Umstände (in meinem Fall an Waldorfschulen), die die geschilderten Erfahrungen begünstigen?
- Bestätigen Expert:innen, dass diese Umstände die geschilderten Erfahrungen begünstigen können?
- Wie spezifisch sind diese Umstände? (In meinem Fall: Gibt es diese Umstände auch an öffentlichen Schulen? Gibt es diese Vorwürfe auch in dieser Häufung an anderen privaten Schulen, z.B. Montessori?)
Es braucht Berichterstattung, die aufdeckt. Das steht für mich fest und darüber diskutiere ich auch nicht. Im besten Fall finden Menschen dadurch den Mut, sich ebenfalls öffentlich zu äußern. Manchmal wünsche ich mir, ich könnte den Waldorf-Fans, die mir Hetze vorwerfen, einfach die unzähligen Mails, in denen mir Eltern täglich (!) von Übergriffen und Missständen berichten, weiterleiten. Mache ich natürlich nicht.
Vorwürfe, die immer wieder auftauchen, und Umstände, die genau solche Erfahrungen begünstigen, nicht zu veröffentlichen und als Einzelfälle abzutun – das halte ich für unverantwortlich. Klar ist aber auch, und das deutet die Liste oben hoffentlich an: Sowas mache ich niemals leichtfertig.
Redaktion und Schlussredaktion: Rico Grimm, Audioversion: Christian Melchert