Ist 0,999… und 1 dieselbe Zahl? Oder anders: Passt noch etwas zwischen 0,999… und 1? Ihre siebte Klasse ist verwirrt, als Frau Nowak diese Frage stellt.
Eine Schülerin kommt nach vorn an die Tafel, versucht die Aufgabe zu lösen – und scheitert. Der Klassenstreber soll es richten: Oskar. In vier Zeilen legt er dar, warum 0,999… und 1 dieselbe Zahl ist. Frau Nowak erklärt der Klasse, warum sie die Aufgabe gestellt hat: „Ein Beweis braucht immer eine Herleitung, Schritt für Schritt.“
Das ist die erste Szene des derzeit erfolgreichsten deutschen Kinofilms. Gerade räumte „Das Lehrerzimmer“ beim Deutschen Filmpreis ab und gewann die Goldene Lola. Ich habe den Film mit zehn Leser:innen meines Newsletters „The Kids Are Alright“ in einem Berliner Kino angesehen.
Der Film verlässt das Schulgelände kein einziges Mal. Und trotzdem ist für mich die Botschaft des Dramas: Was in der Gesellschaft schiefläuft, läuft auch in den Schulen schief. Und was bei den Lehrkräften schiefläuft, läuft auch bei den Schüler:innen schief. Alles das kann man nicht voneinander trennen.
Die junge Lehrerin Carla Nowak ist neu an der Schule. Engagiert und geduldig begegnet sie den Kindern auf Augenhöhe (wenn es denn geht). Ein Beweis braucht immer eine Herleitung, Schritt für Schritt. Dieser Satz setzt das Motto für die anschließenden eineinhalb Stunden Film.
Bei so vielen Verdächtigungen bleibt keine Zeit fürs Lernen
Frau Nowak findet sich plötzlich mitten in einem Verhör ihrer Schüler:innen wieder. An der Schule wird geklaut und das schon länger. Die Schulleiterin und zwei Kollegen haben es sich zur Aufgabe gemacht, die Diebe zu finden: „An der Schule herrscht eine Null-Toleranz-Politik.“
Mittel Nummer 1: das Verhör. Drei Lehrkräfte sitzen einem Jungen und einem Mädchen gegenüber und fragen sie aus. Sie müssten doch wissen, wer hier klaut. Sie weichen den Blicken der Erwachsenen aus und rücken auf den Stühlen hin und her. „Was sollen wir sagen, wenn wir nichts wissen?“, fragt das Mädchen. Am Ende geben sie doch einen Tipp.
Mittel Nummer 2: die Razzia. Alle Schüler:innen bis auf ein paar wenige verlassen den Klassenraum. Die ermittelnden Lehrkräfte durchsuchen die Portemonnaies der Übrigen. „Natürlich alles ganz freiwillig“, betont die Schulleiterin. Ali hat erstaunlich viel Geld dabei. Da stimmt doch was nicht!
Immer mittendrin ist Frau Nowak, von deren Motivation und Engagement man im Laufe des Films immer weniger sieht. So wie man sowieso von lernenden Schüler:innen kaum noch etwas sieht. Diebstahl, Rauchen, Schummeln – bei so vielen Verdächtigungen bleibt keine Zeit für das Lernen.
Die Verdächtigungen beschränken sich nicht auf die Kinder. Irgendwann befürchtet Frau Nowak, dass auch im Lehrerzimmer geklaut wird. Sie zählt das Geld in ihrem Portemonnaie, steckt es zurück in die Jackentasche, klappt ihren Laptop auf, filmt mit der Webcam ihre Jacke und geht in den Unterricht.
Als sie zurückkommt, fehlt ihr Geld, und ihr Video zeigt (mehr oder weniger deutlich), wer es geklaut hat. Man erkennt eine Bluse. Das nächste Verhör. Dieses Mal mit einer Erwachsenen. „Und das soll ein Beweis sein?“, schreit die Verdächtige, als sie das Video sieht.
Frau Nowak entgleitet zunehmend das Geschehen
Ein Beweis braucht eine Herleitung, Schritt für Schritt. Davon ist schnell nichts mehr zu erkennen. Frau Nowak entgleitet eine Situation nach der anderen: die Begrüßung ihrer Klasse, das Gespräch mit der Schülerzeitung, jeder einzelne Dialog im Lehrerzimmer, der Elternabend.
Die Hoffnung der Zuschauer:innen, dass am Ende des Films beim Klassenfest die Eltern Wurst vom Grill reichen, sich die Kinder beim Fußball austoben und alle zurückblicken auf eine ausnahmsweise wilde Zeit – sie stirbt. Und mit ihr die Antwort auf die Frage, ob Frau Nowak eigentlich richtig handelt oder falsch. Der Film zeigt aber auch: Diese beiden Kategorien helfen Lehrkräften oftmals gar nicht weiter, vor allem, wenn Kinder involviert sind. Manchmal gibt es nur falsch. Egal, wie gut die Absichten sind.
Viele Filme sind wie eine Achterbahnfahrt: Es geht hoch und runter, dann in den Looping. Mal fährt man zumindest für ein paar Sekunden nur harmlose Kurven, bevor es wieder schneller wird.
„Das Lehrerzimmer“ ist auch wie eine Achterbahnfahrt. Aber wie eine, bei der es die ganze Zeit nur bergauf geht. Man sitzt angespannt in seinem Sitz und denkt, irgendwann müsse man oben ankommen und dieselbe Strecke in affigem Tempo wieder bergab fahren. Aber man kommt nie oben an. Die Spannung baut sich immer weiter auf – und wird nicht gelöst.
„Wir wollten dem Lehrerberuf gerecht werden. Wer einmal in die Schule geht und hospitiert, der sieht, was das für ein Druck ist, dem diese Menschen ausgesetzt sind“, sagt der Regisseur İlker Çatak.
Und diesen Druck gibt es nicht nur in der Schule. Irgendwann im Laufe des Filmes habe ich verstanden: Verdächtigungen, Misstrauen, hierarchische Systeme, extreme Vorwürfe, Vorurteile gegenüber bestimmten Menschen, verdrehte Wahrheiten – all das gibt es in der Schule, weil all das Teil der Gesellschaft ist. Die Schule im Film ist eine Metapher für unsere Gesellschaft. Beides bedingt sich immer gegenseitig. Das wird oft vergessen, wenn es um die Missstände an deutschen Schulen geht.
Deshalb fällt der vielleicht wichtigste Satz des Films ganz nebenbei in einem Telefonat, das Frau Nowak mit einer Mutter führt: „Es geht um ihren Sohn – wenn wir versagen, dann gemeinsam.“
Hier könnt ihr den Trailer auf Youtube sehen.
Redaktion: Sebastian Esser, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert