Ein Mann und eine Frau stehen in einem Klassenraum auf zwei Stühlen und gucken die Wände an. Der Mann breitet seine Arme aus.

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Kinder und Bildung

Warum wir kein neues Schulfach brauchen (egal welches)

Medienkompetenz, Glück und sogar Fluchen: Ständig fordert jemand neue Schulfächer. Dabei lösen sie kein Problem, sie sind das Problem.

Profilbild von Bent Freiwald
Bildungsreporter

Vor einigen Jahren startete Mai Thi Nguyen-Kim ihre Youtube-Karriere und begann, Wissenschaft verständlich und unterhaltsam zu erklären. Ihr Youtube-Channel wuchs und wuchs, irgendwann wurde der Sender Funk auf sie aufmerksam und sie wurde noch bekannter. Während der Pandemie rüttelten uns ihre Videos regelmäßig wach. Heute moderiert sie nicht nur ihre eigene TV-Show, sondern auch immer wieder Terra X. Ich bin großer Fan.

Mit Wissenschaft kennt Mai Thi sich aus. Sie sagt: „Meiner Meinung nach müsste es ein zusätzliches Schulfach geben, das Logisches Denken oder Wissenschaftliches Denken heißt.“ Die Idee erzeugt bei vielen Kopfnicken – wenn wir eines in der Pandemie gelernt haben, dann: Wissenschaftliches Verständnis ist wichtig und nicht gerade in Übermaßen vorhanden.

Als Bildungsreporter kenne ich die Reaktionen auf solche Forderungen gut, denn sie wiederholen sich alle paar Wochen. Wirtschaft sollte ein festes Schulfach sein, das fordert die Initiative für Neue Soziale Marktwirtschaft ständig, und die FDP stimmt ein. Informatik sowieso (beides jeweils in Bundesländern, in denen sie noch kein Fach sind). Weil Social Media und Künstliche Intelligenz unseren Alltag radikal verändert haben, ist auch das Fach „Medienkompetenz“ immer wieder Teil der Debatte. Manche Forderungen sind aber auch abwegiger. In der Zeit forderte der Kabarettist Gerhard Polt zuletzt, das Schulfach „Fluchen“ einzuführen. Er habe Sorge, dass wir das Schimpfen sonst verlernen.

Es geht aber noch kreativer: In Berlin sollte Graffiti zum Schulfach werden und an allen Schulen unterrichtet werden. Wer schlägt denn so was vor? Ach so, die SPD. Seit ich als Bildungsreporter arbeite, fordert ständig irgendwer die Einführung neuer Schulfächer. Hier ein kleines Best-of:

Die meisten der ernst gemeinten Forderungen haben große Ambitionen: Ethik, Achtsamkeit, Klimakrise, Medienkompetenz – ich verstehe all diese Anliegen. Diese Themen sind wichtig. Und als der Großteil der heute in Schulen unterrichteten Fächer eingeführt wurden, war nicht absehbar, wie wichtig sie werden würden.

Die aktuellen Fächer bilden einen wie auch immer zustandegekommenen gesellschaftlichen Konsens darüber ab, welches Wissen und welche Fähigkeiten die aktuelle Generation an die nächste weitergeben will. Indem bestimmten Fächern mehr Raum im Lehrplan gegeben wird als anderen. Sie sind Schubladen, in denen das Wissen gelagert wird. Und wie das mit Schubladen so ist, bleiben einige von ihnen jahrelang geschlossen, bis wir sie auf der Suche nach irgendetwas öffnen und uns wundern: Huch, was ist hier denn drin? Brauchen wir das noch?

Seit einigen Jahren überkommt viele ein Verdacht: Einige Kompetenzen, die man heute braucht, bilden die aktuellen Fächer gar nicht ab. Wir haben das Gefühl, die gängigen Schulfächer hätten uns nicht ausreichend auf unser heutiges Leben vorbereitet. Zu viele Schubladen bleiben verschlossen. Nur welche?

Um das herauszufinden, habe ich bereits 2019 die Krautreporter-Leser:innen gefragt, welches Schulfach sie gern gehabt hätten:

Seitdem beobachte ich die Debatte um neue Schulfächer weiter. Und es zeigt sich ein Muster: Neue Schulfächer werden immer dann gefordert, wenn jemand ein gesellschaftliches Problem ausgemacht hat und sich nun fragt: Mein Gott, was machen wir bloß? Ich denke, was wir nicht machen sollten: zum einhundertsten Mal nach einem neuen Schulfach rufen. Schulfächer sind nie Teil der Lösung, sondern immer Teil des Problems. Warum? Sieben Gründe.

Grund 1: Die Kinder sollen die Probleme lösen – ihre eigenen und die der Welt

Die Banken kriseln und zu wenige Menschen wissen, wie man Geld anlegt? Wir brauchen das Schulfach Wirtschaft! Immer mehr Menschen sind zu dick? Wir brauchen das Schulfach Ernährungskunde! Wir schleusen unsere Kinder durch ein leistungsbesessenes Schulsystem und damit zum Burnout? Das fangen wir im Schulfach Glück oder Psychische Gesundheit wieder auf! Wir haben die Klimakrise jahrzehntelang unterschätzt? Wir brauchen ein neues Schulfach Klimawandel! (In Italien gibt es das schon.)

Wie sehr kann einem eine ganze Generation zu verstehen geben, dass sie die Relevanz und die Gnadenlosigkeit der Klimakrise verstanden hat, wie diejenige, die seit 2019 regelmäßig mit Millionen Kindern und Jugendlichen auf die Straße geht und protestiert? Dass die Klimakrise jahrzehntelang unterschätzt wurde, liegt nicht daran, dass unsere Eltern kein eigenes Schulfach Klimawandel hatten. Denn das hatten heutige Jugendliche auch nicht.

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Lösungsideen für gesellschaftliche Probleme können nie ausschließlich bei den Kindern ansetzen. Und sie dürfen erst recht nicht die Verantwortung auf den Einzelnen schieben. Wer das Schulfach Resilienz fordert, verkennt, dass es eigentlich darum gehen sollte, das Zusammenleben in der Gesellschaft so zu organisieren, dass nicht schon der Großteil der Kinder mit psychischen Problemen zu kämpfen hat. Und wer ein Schulfach Demokratie fordert, weil sich antidemokratische Tendenzen verbreiten, übersieht, dass die Schule selbst undemokratischer kaum sein könnte. Die Verantwortung dafür liegt sicher nicht bei den Schüler:innen. Gesellschaftliche Probleme zu individualisieren, wird sie nicht lösen.

Grund 2: Wer ein Schulfach fordert, ist zu faul, das Problem wirklich zu lösen

Der Ruf nach einem neuen Schulfach ist der faule Weg für Politiker:innen und Lobbyist:innen, Lösungen vorzuschlagen, die eigentlich keine sind und dabei trotzdem Schlagzeilen zu machen. Die meisten gesellschaftlichen Probleme sind komplex und deshalb sind es ihre Lösungen auch. Die Klimakrise wird nicht in der Schule gelöst – sondern auch in Parlamenten, Firmenzentralen oder Supermärkten.

Das Tolle an dem Ruf nach einem neuen Schulfach: Er ist nicht komplex. Er ist geradezu bis ans Limit vereinfacht. Und er lenkt von tatsächlichen Lösungen und tieferen Debatten ab. Das Fordern neuer Fächer ist eine politische Kommunikationsstrategie, die Verantwortung ablenkt wie ein Blitzableiter. Mit dem Unterschied, dass der Blitzableiter tatsächlich eine passable Lösung anbietet (nicht vom Blitz getroffen werden).

Grund 3: Wir brauchen nicht mehr Schulfächer, sondern weniger

Immer wenn ich auf Twitter der Forderung nach neuen Schulfächern widerspreche, schreiben Leute: „Ja, okay, aber in DIESEM Fall macht die Forderung doch total Sinn.“ In der Schule kennt man das: Jede Lehrkraft hält das Fach, das sie unterrichtet, für das wichtigste. Sie hat es studiert, sie beschäftigt sich jeden Tag damit, sie weiß, welche Relevanz ihr Fachgebiet haben kann, für jede:n.

Gleiches gilt für Fächer, die es noch gar nicht gibt. Dabei laufen die Forderungen einem zentralen Ziel aktueller Bildungsdebatten entgegen: Wir müssen den Lehrplan entschlacken und nicht noch weiter aufpusten. Durch den Lehrermangel haben wir da kaum eine Wahl. Ich halte es deshalb mit dem Lehrer Philipp Wampfler, der schreibt: „Sobald jemand ein neues Fach einführen möchte, sollte er/sie die Abschaffung von zwei anderen fordern.“

Grund 4: Neue Fächer zu konzipieren, ist aufwendig

Verbindlicher Bildungsplan, Zeit in der Stundentafel, Fortbildungen für Lehrkräfte, neue Bücher, Lehrkräfteausbildung, das Etablieren einer Fachdidaktik – all das hängt an der Einführung eines neuen Faches. Bis sich ein Fach etabliert hat, müssen zunächst mal Lehrkräfte ausgebildet werden, die dieses Fach unterrichten können. Und das braucht viel Zeit.

In Baden-Württemberg wurde vor etwa 20 Jahren das Fach NWA eingeführt – Naturwissenschaftliches Arbeiten. Die Idee war gut: Man sollte nicht mehr starr in den Kategorien Chemie, Biologie und Physik denken, sondern all das kombinieren. Die Welt funktioniere schließlich auch nicht starr in diesen Dimensionen. Das Problem: Die Universitäten wurden nicht einbezogen. Dort studierten die Student:innen immer noch die einzelnen Fächer, sollten in den Schulen dann aber die Kombination aus allen drei Fächern unterrichten. Mittlerweile hat die Landesregierung das Fach wieder abgeschafft.

Grund 5: Wir können nicht unendlich viele neue Schulfächer fordern

In der elften Klasse konnte ich mich entscheiden zwischen Chemie und Informatik. Diese Wahl haben viele Schüler:innen in Deutschland nicht, denn oftmals steht Informatik noch nicht auf der Fächerliste. Weil der technische Fortschritt unübersehbar rasant voranschreitet (hier findest du unseren Zusammenhang zu Künstlicher Intelligenz) und Algorithmen unseren Alltag weitestgehend bestimmen, ist Informatik auch eines der am häufigsten geforderten Pflichtfächer. Mein Chemielehrer war ein grummeliger Franke, der uns zur Begrüßung aufstehen ließ, solange mit der Begrüßung wartete, bis wirklich kein Mucks mehr zu hören war und uns dann per Fingerzeig anzeigte, dass wir uns setzen dürfen.

Ich wählte damals also Informatik. Unser Lehrer war großartig, wir lernten etwas über Podcasts, als die meisten weißen Männer noch nicht wussten, dass sie Geld verdienen können, wenn sie ihre Pausengespräche ins Internet hochladen. Die anderen Themen, die wir behandelten, sind aber heute veraltet oder überholt. Ähnlich würde es auch das immer wieder geforderte Fach Medienkompetenz treffen. Stell dir vor, du (oder deine Eltern) hätten in der Schule Medienkompetenz gelernt. Wie viel könnte man heute mit dem Wissen von damals anfangen? Kaum etwas. Vor zehn, zwanzig Jahren war noch nicht einmal abzusehen, welche Kompetenzen man heute im Umgang mit Medien brauchen könnte.

Aktuelle Schätzungen gehen davon aus, dass sich das Wissen der Welt etwa alle fünf bis zwölf Jahre verdoppelt. Es wächst exponentiell. So viele Fächer kann niemand fordern, um diesem Anstieg an Wissen gerecht zu werden. Da überrascht es auch nicht, dass die FDP und Vertreter:innen der IT-Branche auf die Einführung des Faches Digitale Welt in Hessen mit der Gegenforderung reagiert hat, stattdessen flächendeckend Informatik zu lehren. Irgendwas fehlt immer. Wer möchte, dass die Lerninhalte in der Schule aktuellen Entwicklungen gerecht werden, muss eine andere Antwort finden als ein neues Schulfach.

Grund 6: Wir müssen nicht alles in der Schule lernen

Als ich 2019 die Krautreporter-Leser:innen gefragt habe, welches Schulfach sie gerne gehabt hätten, landete „Alltagskunde“ auf Platz 1. Was man dort lernen sollte? KR-Mitglied Gerd schrieb damals, er hätte lernen wollen, „wo im richtigen Leben Fallen lauern.“ Und woraus besteht das richtige Leben? Dazu KR-Leser Christoph: „Beamtendeutsch, Wäsche waschen und richtige Hygiene.“

Oder wie KR-Mitglied Daniel zusammenfasst: Bankkonto eröffnen, Geld zusammenhalten, Wohnung mieten, Auto kaufen, Waschmaschine bedienen. Und nicht zu vergessen: wie man die Steuererklärung macht. 43-mal taucht das Wort in den Antworten auf: „Steuererklärung“.

Fragen wir doch mal jemanden, der in der Schule gelernt hat, wie man eine Steuererklärung macht: mich! Meine Erdkundelehrerin fand nämlich auch, dass wir zu wenig Alltagswissen vermittelt bekommen und hat deshalb jede Woche eine halbe Stunde dafür eingeplant: Steuererklärung, Krawatte binden, Mietverträge. Es dauerte dann ungefähr zehn Jahre, bis ich zum ersten Mal vor einer Steuererklärung saß. Und ich wusste nichts mehr. Natürlich nicht. Wir vergessen das meiste explizite Wissen, das uns in der Schule vermittelt werden soll. Die eigentliche Frage ist meiner Meinung nach: Sollte die Steuererklärung nicht so einfach sein, dass Erwachsene sie ausfüllen können, ohne danach reflexhaft die Einführung eines neuen Schulfaches zu fordern?

Grund 7: Es gibt kein gutes Schulfach im falschen System

Kein neues Schulfach wird die komplexen gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit lösen können. Die ganze Absurdität zeigt sich, wenn Schüler:innen im Fach Glück lernen sollen, wie sie ihr Selbstwertgefühl stabilisieren, ihre Selbstwertschätzung verbessern, ihr Wohlbefinden steigern oder ihre eigenen Stärken und Schwächen einschätzen – und dann für ihre Leistung in diesem Fach benotet werden.

„Merle, warum bist du denn sitzengeblieben?“

„Hatte ne 5 in Latein und Glück!“

„Das ist Pech!“

Dejan Mihajlović ist Lehrer und Referent für Demokratiebildung und Digitale Transformation in Baden-Württemberg. Er vergleicht das Einführen neuer Fächer mit dem Bauen von neuen Fahrbahnen auf amerikanischen Highways. „Weil sich der Verkehr auf den sechsspurigen Straßen ständig staut, wird noch eine siebte gebaut und gehofft, damit das Problem zu lösen. Was aber nicht geschieht und funktioniert, weil das Problem nicht eine fehlende Fahrbahn ist, sondern ein überholtes Mobilitätskonzept. Wir brauchen nicht unendlich viele neue Fahrbahnen, sondern eine neue Idee von Mobilität.“

Gleiches gelte für Schulfächer. Man könne nicht unendlich viele neue Schulfächer einführen, man müsse das System anpacken. „Wie das Lernen in Schulen organisiert wird, funktioniert nicht. Es ist aus diversen Gründen weder wirksam noch nachhaltig. Frag die Menschen, was sie aus ihrer langen Schulzeit noch wissen: Viel ist das nicht. Ein weiteres Fach löst kein Problem, sondern folgt der Logik eines überholten Konzepts.“

Was können wir also tun?

Weil die Zeiten so komplex sind, sind es auch unsere Probleme. Allein die Klimakrise hat so viele Aspekte, dass sie in einem Fach von einer Lehrkraft gar nicht abgebildet werden können. Er ist nicht nur ein Thema für Erdkunde, sondern auch für Politik und Biologie. Auch das logische bzw. wissenschaftliche Denken ist etwas, das doch eher in jedem Fach Teil der Lernziele sein sollte (und auch teilweise schon ist) und nicht nur in einem speziellen Sonderfach.

Klar ist: Was in der Schule gelernt wird, muss angepasst werden können; an wissenschaftliche Erkenntnisse und an neue Entwicklungen. Lehrkräfte müssen reagieren können und Bildungsministerien auch. Aber vor allem: Schüler:innen. Die eigentliche Frage ist: Wie kann Schule mithalten mit aktuellen Entwicklungen?

Dejan Mihajlović sagt, die Antwort dürfe nicht davon abhängen, welche Schulfächer es gibt oder nicht gibt. „Als Lehrer formuliere ich Klassen immer mein primäres Ziel: Am Ende ihrer Schulzeit müssen sich Schüler:innen jedes neue Thema selbst erschließen und Lösungen für Probleme entwickeln können. Gute Lehre macht sich überflüssig.“


Redaktion: Lisa McMinn, Schlussredaktion: Susan Mücke, Audioversion: Iris Hochberger

Warum wir kein neues Schulfach brauchen (egal welches)

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