Im Frühsommer 2020 hatte Hanna ihr Abitur gemacht. Danach wollte sie für ein Jahr ins Ausland, ein Gap Year machen. Alles war arrangiert. Doch wegen Corona fiel die Reise ins Wasser. Hanna fing stattdessen an zu studieren und zog in eine WG. Die folgenden eineinhalb Jahre verbrachte sie vor dem Rechner statt im Vorlesungssaal. In dieser Zeit nahm sie massiv an Gewicht zu. Irgendwann rief sie zu Hause an und sagte, dass sie nicht mehr könne. Dass sie „schlimme Gedanken“ habe.
Hannas Mutter sagt, während des Anrufs gefror ihr das Blut in den Adern. „Ich fühlte mich hilflos, hatte keine Ahnung, wie ich mich ihr gegenüber verhalten soll.“
Geschichten wie die von Hanna erreichen uns beinahe täglich, seit wir zur psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen recherchieren. Und fast immer schreiben uns die Eltern, dass es ihnen schwerfällt, die richtigen Worte zu finden.
Wir wissen: So geht es nicht nur Eltern. Aber wenn nicht der Kollege oder die Freundin psychisch erkrankt, sondern das eigene Kind, fühlen sich Eltern – zu Recht – deutlich mehr verantwortlich. Und überforderter. Viele haben Angst, ihre Kinder zu verletzen oder deren Situation noch schwieriger zu machen, wenn sie mit ihnen reden. Andere verstehen schlichtweg nicht, was ihr Kind gerade durchmacht, wie sie ihm helfen können oder was es bedeutet, wenn man so früh im Leben bereits depressiv ist, eine Essstörung hat oder Angst ein permanenter Begleiter ist. Und manchmal rutschen Eltern Sätze raus, die sie später bereuen.
Welche Sätze sind das? Wir haben diejenigen gefragt, die es wissen müssen: Kinder und Jugendliche, die selbst psychisch erkrankt sind. Über 300 haben uns in einer Umfrage gesagt, welche Sätze sie verletzt haben – aber auch, welche ihnen gutgetan haben.
Dieser Text ist an alle Eltern gerichtet, deren Kinder betroffen sind, an Lehrkräfte und alle, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten. Aber auch an die betroffenen Kinder und Jugendlichen, damit sie ihren Angehörigen einfach diesen Text schicken können.
Die Expertin: Cornelia Beeking
Cornelia Beeking ist Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin und hat eine eigene Praxis in Münster.
Nicht jeder Satz passt zu jeder Person in jedem Moment. Und nicht jede Krankheit erfordert den gleichen Umgang. Deshalb haben wir uns von der Kinder- und Jugendpsychotherapeutin Cornelia Beeking einordnen lassen, worauf Erwachsene achten sollten. Sie hat uns etwas gesagt, das im Gespräch mit Kindern und Jugendlichen grundsätzlich wichtig ist:
„Das Wichtigste ist, dass die grundsätzliche Bindung nicht infrage gestellt wird. Man kann sich streiten, wütend aufeinander sein, sich nicht verstehen. Aber es muss immer klar sein, dass das kein Beziehungsabbruch ist und dass man das Kind nicht allein lässt mit seinen Sorgen.“
Die Antworten unserer Umfrage lassen sich einteilen in vier Reaktionen, die Eltern vermeiden sollten. Aber auch in drei Strategien, die Kindern und Jugendlichen guttun können.
Welche Worte du vermeiden solltest, wenn du mit einem psychisch kranken Kind sprichst
1. Zweifel nicht an den Sorgen oder Gefühlen
„Welche ernsthaften Probleme kann man in deinem Alter schon haben? Du hast doch alles, was man braucht.“ (eingereicht von Tabea, 20 Jahre alt, Depressionen, Essstörung, Posttraumatische Belastungsstörung, Borderline, Zwänge, Angststörung)
„Das ist keine Depression/Essstörung. Das ist nur eine Phase, normal in der Pubertät. Das geht von selbst vorbei.“ (anonym, 13 Jahre alt, Depressionen)
„Werd erstmal erwachsen, dann weißt du, was ‚richtige‘ Probleme sind.“ (anonym, 15, Depressionen)
Cornelia Beeking nennt solche Kommentare „maximales Nicht-Anerkennen“. Sie sagt, Jugendliche machen viele Erfahrungen zum ersten Mal. Die Gefühle, die sie dabei haben, ob psychisch krank oder nicht, sollten Eltern anerkennen. Und zwar auch dann, wenn sie sie nicht nachvollziehen können. Man sollte Kindern und Jugendlichen niemals das Gefühl geben, ihre Erfahrungen oder Gefühle seien nichts wert, klein, unwichtig oder „gar nicht so schlimm“. Wichtig sei nicht, wie schlimm etwas von außen aussehe, sondern wie schlimm sich etwas für das Kind anfühle. Damit müsse man dann umgehen.
Wenn ihr für genau dieses Problem Hilfe sucht, findet ihr viele Antworten in dem Elternratgeber „Familienalltag mit psychisch auffälligen Jugendlichen“. Darin steht zum Beispiel: „Werden pubertäres Verhalten und psychische Störung sicher erkannt und voneinander unterschieden, führt das zu größerer Gelassenheit.“
2. Gib dem Kind nicht die Schuld
„Du bist viel zu dramatisch.“ (Annika, 19, Depressionen)
„Hör jetzt damit auf. Das verletzt mich mehr als dich selbst.“ (anonym, 17, Depressionen)
„Geh halt mal an die frische Luft, kein Wunder, dass du traurig bist, wenn du nur drinnen hockst.“ (Leo, 17, Depressionen)
Rauszugehen und neue Eindrücke zu bekommen, sei zwar grundsätzlich nicht schlecht, sagt Cornelia Beeking. Wenn sich das Kind aber gerade überhaupt nicht danach fühlt, kann ein solcher Satz eher beängstigend sein: „Kindern, die psychisch krank sind, auch noch die Schuld dafür zu geben, ist nur noch eine Belastung mehr.“
Leo schreibt, er habe nämlich oft gar nicht die Energie, überhaupt irgendwas zu machen. Gesagt zu bekommen, dass sich all seine Probleme auf wundersame Weise in Luft auflösen, wenn er mal rausgehen würde, verletze ihn sehr. Ein Tipp von der Psychotherapeutin: dem Kind einfach anbieten, gemeinsam eine Runde an die frische Luft zu gehen.
3. Bau nicht zu viel Druck auf
„Jetzt muss ich wegen dir extra eine neue Klausur erstellen. Wann gedenkst du denn, diese zu schreiben?“ (anonym, 16, Angststörung)
„Du kannst nicht nur Medikamente schlucken und darauf warten, dass alles wieder gut wird. Du musst dich selbst auch anstrengen und dich bemühen.“ (anonym, 19, Angststörung)
„Man muss halt auch was dafür tun.“ (Max, 25, Angststörung)
Aufstehen, duschen, essen – ganz alltägliche Tätigkeiten können wahnsinnig herausfordernd sein, wenn man psychisch krank ist. Das geht auch Kindern so. Nur: Wenn alles anstrengend ist, ist es noch schwerer, sich anzustrengen. Trotzdem fiel kein Wort in unserer Umfrage so oft wie „zusammenreißen“.
Cornelia Beeking sagt: „Wenn Eltern Kindern Druck machen, ist das oft Ausdruck von eigener Hilflosigkeit.“ Auch im Elternratgeber „Familienalltag mit psychisch auffälligen Jugendlichen“ steht: „Eltern sind angefragt, in einem Bereich Sicherheit zu vermitteln, der ihnen selbst unbekannt und fremd ist.“
Beeking glaubt allerdings, dass ein bisschen Druck manchmal nicht verkehrt ist, „sonst gibt es keine Veränderungsmotivation. Aber die Frage ist immer, welcher Druck tut jetzt gerade gut und wann ist es zu viel?“ Dafür müsse das Gleichgewicht stimmen. Kinder müssen auch das Zutrauen haben, eine Aufgabe bewältigen zu können. „Ist der Druck zu groß, kann er dazu führen, dass Kinder und Jugendliche sich noch mehr zurückziehen, weil sie das Gefühl haben, einer weiteren Erwartung nicht gerecht zu werden.“
4. Suizidgedanken ernst nehmen – und keinesfalls verstärken
„Womit haben wir dich verdient?“ (Julia, 18, Depressionen)
„Aus dir wird eh nichts, bring dich lieber um.“ (Sina, 22, Depressionen, Angststörung, Essstörung)
„Dann bring dich doch einfach um.“ (Lara, 19, Depressionen)
Dass solche Sätze ein absolutes No-Go sind, müssen wir eigentlich nicht weiter erklären. Dass sie trotzdem mehrfach in unserer Umfrage genannt wurden, hat uns erschrocken. Lara aus unserer Umfrage schreibt: „In sehr depressiven Momenten, in denen suizidale Gedanken eh schon da sind, setzen solche Momente Impulse, es durchzuziehen. Das macht das Kämpfen gegen die Gedanken wahnsinnig schwer.“
Auch Cornelia Beeking sagt: „Wenn Eltern so etwas sagen, kehren sich genau die Personen ab, die eigentlich das Kind stützen müssten. Das ist einfach nur furchtbar.“ Besser ist es, die Suizidgedanken ernst zu nehmen. Wenn Unsicherheiten bestehen, hilft es, Kontakt zu einer Klinik aufzunehmen und um Hilfe oder Beratung zu bitten.
Abgesehen vom konkreten Suizid-Aufruf – allen Eltern rutschen manchmal Sätze heraus, die sie im Nachhinein besser nicht hätten sagen sollen. Die Frage ist: Wie geht man damit um, wenn es passiert ist? Cornelia Beeking hat drei Tipps:
- Sich entschuldigen, möglichst bald.
- Erklären, wie es dazu kam. War ich vielleicht total im Stress? Bin ich selbst überfordert?
- Gemeinsam besprechen, wie man sowas in Zukunft vermeiden kann.
Und schließlich gibt es natürlich auch Worte, die psychisch kranken Kindern und Jugendlichen guttun. Auch diese haben wir gesammelt.
Welche Worte psychisch kranken Kindern und Jugendlichen guttun
1. Zeige Verständnis
„Ja, das ist scheiße!“ (anonym, 13, Angststörung)
„Wir freuen uns immer, wenn du im Unterricht dabei bist, aber nimm dir so viel Zeit, wie du brauchst.“ (Annika, 16, Depressionen)
„Mach dir keinen Stress, konzentriere dich auf heute und was morgen kommt, kommt halt morgen.“ (Noah, 15, Depressionen)
Warum sind diese Sätze so entscheidend? Weil man die Emotionen anerkennt, sagt Cornelia Beeking. „Man erkennt an, was gerade ist und kann so den Druck verringern. Die Kinder bekommen dann nicht vermittelt, dass sie ihre Gefühle wegdrücken müssen.“ Oder, wie eine Teilnehmerin unserer Umfrage schreibt: „Keine Diskussion, kein Gutreden, kein Zwang, immer positiv zu sein! Scheiße ist Scheiße.“
2. Biete Hilfe an, aber unverbindlich
„Wie kann ich dich unterstützen?“ (anonym, 19, Depressionen)
„Ich komme mit zum ersten Gespräch beim Psychologen.“ (Laura, 22, Angststörung)
„Ich weiß, dass du an sich nicht darüber reden willst. Aber lass dir gesagt sein, ich bin für dich da und du kannst immer zu mir kommen.“ (Lara, 19, Depressionen)
Es ist eigentlich simpel: Wer Hilfe angeboten bekommt, fühlt sich weniger allein. Wichtig ist, dass das Kind selbst entscheiden kann, ob und wann es die Hilfe annimmt. Cornelia Beeking sagt: „Es gibt Untersuchungen, die zeigen: Es geht gar nicht unbedingt immer darum, wie viel Unterstützung faktisch da war, sondern häufig darum, wie viel Unterstützung emotional gefühlt da war.“ Die Grenze sei aber bei jedem woanders. Kinder oder Jugendliche können sich auch schnell überfordert fühlen: „Da gehört schon Fingerspitzengefühl dazu. Hilfe muss immer auch abgelehnt werden können, ohne dass die Welt zusammenbricht.“
3. Nimm das Kind an
„Du warst immer gewünscht und gewollt.“ (Franzi, 15, Depressionen)
„Ich habe großen Respekt vor dir.“ (Luca, 19, Depressionen)
„Ich lasse dich damit nicht allein.“ (anonym, 15, Angststörung)
Für alle Kinder ist es wichtig, gesehen und respektiert zu werden. Cornelia Beeking sagt: „Kinder und Jugendliche vergleichen sich ständig mit anderen. Das kann dazu führen, dass sie ihre eigenen Erfolge nicht sehen und ihr Selbstbild leidet.“ Das Gefühl, okay zu sein, nicht in Not zu kommen, nicht ausgegrenzt zu werden, bilde sich in der Kindheit, sagt auch der Kinderarzt Herbert Renz-Polster: „Nämlich dann, wenn du dich als Kind geborgen fühlst, wenn du deinen Eltern und dir selbst vertrauen kannst.“
Auch Eltern haben ein Recht auf ihre Gefühle
Nachdem wir über 300 Sätze gelesen haben, die psychisch kranken Kindern und Jugendlichen weh- oder guttun, bleibt eine Erkenntnis: Wer schon im Jugendalter psychisch erkrankt, steht besonders unter Druck. Denn oftmals hat es Auswirkungen auf die ganze Familie, wenn ein Kind erkrankt. Reagieren die engsten Vertrauten dann mit Unverständnis, tut das umso mehr weh.
Eltern machen sich oftmals auch selbst Vorwürfe, geben sich die Schuld. Deshalb hat Cornelia Beeking noch einen letzten Tipp: „Man sollte Stimmungsschwankungen seiner Kinder nicht persönlich nehmen. Möglicherweise sind die Schwankungen nur Ausdruck davon, dass die Kinder noch keinen Lösungsweg für ein bestimmtes Problem gefunden haben.“
Das fällt Eltern oftmals nicht leicht. Kinder haben ein Recht auf ihre Gefühle. Es kann aber genauso schlimm und verunsichernd sein zu sehen, wie es dem Menschen immer schlechter geht, den man liebt. Deshalb ist es umso wichtiger, sich professionelle Hilfe zu suchen. Wir arbeiten mithilfe von Eltern, Kindern und Expert:innen gerade an einem Guide, der euch durch diese Zeit begleiten soll. Wer den Guide nicht verpassen möchte, kann hier den Krautreporter-Newsletter „Die Wochendosis“ kostenlos abonnieren.
Anlaufstellen für den Notfall:
Psychiater:innen, Psychotherapeut:innen und Hausärzt:innen. Im Zweifel den Notdienst (in Deutschland die 112) anrufen.
Für Kinder und Jugendliche gibt es die Youth-Life-Line und Montag bis Samstag von 14 bis 20 Uhr die Nummer gegen Kummer: 0800 1110333 und die 116111.
Wer selbst betroffen ist, kann die Telefonseelsorge unter den Nummern 0800 1110 111 oder 0800 111 0 222 erreichen. Der Anruf ist kostenlos und erscheint nicht auf der Telefonrechnung.
Redaktion: Lisa McMinn, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Iris Hochberger