Menno Baumann ist Professor für Intensivpädagogik, Sonderpädagoge und Experte für Jugendhilfe, Jugendkriminalität und Gewalt. Er hat den unserer Ansicht nach wichtigsten Beitrag zur Debatte um Gewalt bei Kindern verfasst. Seine Analyse entstand nicht als Kommentar zu der aktuellen Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS), die am 30. März vorgestellt wurde, sondern bereits vorher. Sie ist eine Antwort auf die in den letzten Wochen und Monaten neu entflammte Diskussion um die Herabsetzung der Strafmündigkeit. Da die Daten der PKS für das Jahr 2022 mittlerweile vorliegen, hat Baumann sie entsprechend ergänzt. Wir dürfen Baumanns Text als Gastbeitrag unseres Newsletters „The Kids Are Alright“ veröffentlichen.
Das Jahr begann mit Ausschreitungen während der Silvesternacht in Berlin. Und vor ein paar Wochen töteten zwei Kinder die zwölfjährige Luise in Freudenberg. Es wird wieder über Gewalt unter Kindern diskutiert und vor allem: spekuliert. In etwa so: Sind Kinder heute gewalttätiger als früher? Und sollten wir die Strafmündigkeit senken?
Mittlerweile ist der erste Rauch abgezogen. Es wird Zeit, die Gewalttaten von Kindern und mögliche Konsequenzen zu beleuchten. Ich mache das nicht auf den aktuellen Einzelfall bezogen, sondern in der Gesamtentwicklung betrachtet.
Wie hat sich die Gewalt bei Kindern entwickelt?
Um eine Antwort zu finden, müssen wir zwischen Hellfeld- und Dunkelfeld-Untersuchungen unterscheiden. Zum Hellfeld gehört alles, was offiziell dokumentiert und beispielsweise polizeilich erfasst wird. Die beste Quelle hierfür ist die polizeiliche Kriminalstatistik (PKS), die jährlich veröffentlicht wird.
Die Statistik kann nicht alle Fälle erfassen, da zum Beispiel familiäre Gewalt nur zum Teil zur Anzeige gebracht wird. Neben der PKS gibt es deshalb in der interdisziplinären Gewaltforschung und Kriminologie auch diverse Studien, die versuchen, nicht nur die offiziell dokumentierten Straftaten zu erfassen.
Gucken wir zuerst, wie sich das Hellfeld im Rahmen der PKS entwickelt hat. Wie haben sich die Zahlen tatverdächtiger Kinder in den letzten 20 Jahren verändert?
Die Grafik zeigt eine klare Tendenz: Von 2001 bis 2021 ist die Zahl tatverdächtiger Kinder (U14, rote Linie) deutlich gesunken, mit kleineren Wellen und zuletzt einem kleinen Anstieg, der sich 2022 fortgesetzt hat.
Um den Unterschied in den Trends deutlich zu machen, habe ich die Entwicklung der Tatverdächtigen mit eingezeichnet, die über 60 sind. Nicht, um Senioren zu bashen. Sondern, um zu zeigen, dass die positive Entwicklung der letzten 20 Jahre bei Kindern nicht nur auf eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung zurückzuführen ist – sie ist auch altersgruppenspezifisch. Wichtig bei beiden Kurven: Straftaten werden insgesamt immer häufiger angezeigt, das Hellfeld nähert sich dem Dunkelfeld immer mehr an.
Darüber hinaus sind in der PKS natürlich auch Taten berücksichtigt, die vor 20 Jahren so noch gar nicht hätten begangen werden können (zum Beispiel alles rund um Internet und Smartphone) oder die gar globalen Entwicklungen unterliegen (wie Verstöße gegen das Aufenthaltsgesetz). Zusätzlich hat sich 2009 die Zählweise geändert (die sogenannte echte Erfassung Tatverdächtiger).
Blicken wir auf alle Delikte, die mit Gewalt zu tun haben. Für die Bereiche „Körperverletzung“, „Straßenkriminalität“ und „Gewaltkriminalität“ ist ein fast parallel in Wellenform laufender Abwärtstrend (mit einer deutlichen Beule 2019) zu erkennen. Nochmal: Obwohl Straftaten immer häufiger angezeigt werden.
Die aktuellen Zahlen der PKS für das Jahr 2022 aber zeigen einen Anstieg. Im Bereich der Straßenkriminalität wie auch der Gewaltkriminalität ist der Anstieg moderat und im Vergleich zu früheren Jahren immer noch eher gering. Ein Anstieg gegenüber den Pandemie-Jahren war erwartbar.
Von einem Corona-„Nachholeffekt“ zu sprechen, ist missverständlich
Im Bereich der Körperverletzungen dagegen ist der Anstieg in den Zahlen der Tatverdächtigen deutlicher. Was wir sehen, würde ich aber gar nicht negativ bewerten. Es ist ein Sprung nach vorheriger positiver Entwicklung. Dieser Sprung muss sorgfältig analysiert werden und vor allem in den folgenden Jahren beobachtet werden.
In den letzten Jahren waren die Kinder, die jetzt als Tatverdächtige in der Statistik auffällig sind, überdurchschnittlich wenig auffällig im Bereich der Körperverletzungen. Über einen längeren Zeitraum betrachtet dürfte die Gewaltbelastung der unter 14-Jährigen also (noch) nicht gravierend erhöht sein.
Von einem „Nachholeffekt“ bezüglich der Pandemie zu sprechen ist allerdings missverständlich – der Effekt beruht mit Sicherheit nicht darauf, dass die Kinder etwas „nachgeholt“ hätten. Vielmehr müssen wir festhalten, dass Kinder, die in ihrer Entwicklung Probleme haben, während der Pandemie kaum Hilfe bekamen. Notwendige Prävention und zielgerichtete Hilfen bei Auffälligkeiten wurden nicht entsprechend eingeleitet, sodass jetzt ein erhöhter Bedarf an Unterstützung besteht.
Insgesamt wird Gewalt unter Kindern und Jugendlichen weniger toleriert
Kommen wir zurück zur Langzeitentwicklung. Eine spannende Studie zu Gewalt an Schulen zeigte in einem Vergleich zwischen 1996 und 2014 einen deutlichen Rückgang in der Gewalt. Gleichzeitig konnte diese Studie auch zeigen, dass die Gewalt gegen Lehrkräfte durch Schüler:innen deutlich sank und dass die Rückgänge Kinder (6. Klasse) genauso betrafen wie Jugendliche (8. Klasse). Die Bereitschaft der Lehrkräfte und der Mitschüler:innen einzugreifen, ist ebenfalls gestiegen – Gewalt wird also weniger toleriert. Dunkelfeldstudien bestätigen, dass Gewalt durch Kinder in den letzten Jahrzehnten (wenn auch wellenförmig) abgenommen hat.
Medien berichten zu oft über Gewalt von Kindern und Jugendlichen, ohne sie weiter einzuordnen. Das lässt den Eindruck entstehen, Gewalt sei ein zunehmendes Problem in diesen Altersgruppen. Hand aufs Herz: Wer kannte den Entwicklungstrend bei den Senioren?
Wenn ich immer wieder den Spruch höre: „Wir haben ja auch Scheiße gebaut, aber wir wussten, wo die Grenze liegt“, kann ich darauf nur ehrlich antworten: Die Kinder und Jugendlichen, die wussten, wo die Grenze liegt, waren noch nie das Problem. Das ist bis heute ganz genauso, nur dass sich die Grenze sehr positiv in Richtung „keine Gewalt“ verschoben hat.
Was wissen wir über Ursachen von Gewalt bei Kindern?
Für Kinder wie für alle Altersgruppen gilt: Ein Hauptrisikofaktor für eigene Gewalt ist, familiäre Gewalt zu erleben. Diese zirkulär-spiralförmige Struktur von Gewalt ist wohl das am stärksten gesicherte Ergebnis der Gewaltforschung überhaupt. Es zeigt sich international wie im deutschsprachigen Raum, in soziologischen Studien wie in psychologischen und ist unabhängig von der Kultur und dem Zeitgeist.
Wird Gewalt als Entwertung oder Missachtung erlebt, wirkt sie isolierend. Fühlt sich das Opfer ohnmächtig und dehumanisiert, eskaliert es schnell.
Das gilt natürlich nicht nur für familiäre Gewalt, sondern auch für andere Gewalterfahrungen wie Mobbing. Darüber hinaus gibt es weitere Risikofaktoren. Neben Armut scheint entscheidend, ob Kinder und Jugendliche Teil des Bildungssystems sind. Verschiedene Studien konnten nachweisen, dass vor allem die Wahrscheinlichkeit schwerer und häufiger Straftaten wesentlich durch die Integration in Bildung und Schule beeinflusst wird (z.B. Baumann 2012, Studie vom KFN: Baier 2008).
Weitere Faktoren scheinen die Einstellung zur Gewalt und das Vorliegen männlichkeitsorientierter Wertvorstellungen zu sein (vgl. Baumann 2021, Baier, Krieg & Kriem 2021, Baier & Pfeiffer 2008). Aber auch einige weniger gut verstandene Faktoren aus dem psychiatrischen Bereich spielen eine Rolle. So wird aktuell in der Gewaltforschung intensiv das Phänomen der sogenannten „Callous Unemotional Traits“ untersucht (Steinberg; Koglin).
Dieses Phänomen beschreibt die Unfähigkeit, eigene Emotionen und Emotionen anderer in die eigene Handlungssteuerung einzubeziehen, und dabei die Fähigkeit zu entwickeln, andere ohne Rücksicht auf deren Konsequenzen für eigene Ziele zu benutzen oder zu verletzen. Die Ursachen hierfür liegen noch weitgehend im Unklaren, aber ein reiner Erziehungseinfluss oder ein Trauma als singulärer Faktor können mittlerweile ausgeschlossen werden.
Und letztlich zeigt sich ein Zusammenhang zwischen Gewalt und Bindung.
H. Julius hat bereits 2008 in einer leider nur sehr kleinen Stichprobe nachweisen können, dass Kinder mit Verhaltensstörungen zu einem erheblich erhöhten Anteil ein desorientiertes Bindungsmuster aufweisen (63 Prozent), was häufig als Folge von Traumata gilt.
In einer neueren Studie und mit einem moderneren Bindungsverständnis hat Tijs Bolz von der Uni Oldenburg an einer Stichprobe von 124 Kindern und Jugendlichen (sieben bis 15 Jahre) zeigen können, dass gerade unsicher-ängstliches Bindungsverhalten in einem engen Zusammenhang mit aggressivem Verhalten steht und scheiternde Emotionsregulation, unter den Bedingungen von (Bindungs-)Stress den wesentlichen Vermittlungsfaktor dabei spielt (vgl. Bolz & Koglin 2020). Insofern scheint Bindung zu zentralen Bezugspersonen (Eltern, pädagogischen Fachkräften, Peer-Group) wesentlich im Zusammenhang mit aggressivem Verhalten zu stehen.
Dies bezieht sich nicht nur auf frühkindliche Erfahrungen – aus der Resilienzforschung wissen wir, dass neue Bindungserfahrungen bis ins Erwachsenenalter möglich sind.
Welche gesellschaftlichen Einflussfaktoren wirken auf die Entwicklung der Gewalt bei Kindern?
Schauen wir uns an, was in den Jahren, in denen die Gewalt bei Kindern abgenommen hat, passiert ist. Zunächst: Die gesellschaftliche Haltung zur familiären Gewalt hat sich verändert. Noch in den 1990er Jahren gab es (sinngemäß) die Formulierung in ärztlichen Gutachten: „Die festgestellten Blessuren weisen nicht über das Maß normaler erzieherischer Einwirkung hinaus.“ Das wäre heute undenkbar. Die neue Haltung hat sich um die Jahrtausendwende herum in Gesetzesänderungen niedergeschlagen (zum Beispiel Strafbarkeit der Vergewaltigung in der Ehe, Verbot von Gewalt in der Erziehung). Zehn bis 15 Jahre später sehen wir, dass Kinder seltener gewalttätig sind. Ein plausibler Zusammenhang.
Die offene Kampfansage gegen familiäre Gewalt ist zwar längst nicht konsequent umgesetzt – die Werte liegen noch viel zu hoch –, aber für viele Kinder hat sich die Situation in Familien verbessert. Auch wurde das Kinder- und Jugendhilfegesetz Schritt für Schritt angepasst.
Parallel wurden Strukturen wie Schulsozialarbeit und Kitaplätze stärker ausgebaut sowie Ganztagsschulen eingerichtet. All das verbesserte die Infrastruktur für Kinder mit Risikofaktoren, all das scheint zu wirken. Was am meisten Einfluss auf die Gewalt von Kindern hat? Kinderschutz, familiäre Gewalt zu bekämpfen, Bildungsbenachteiligung zu verringern sowie Kinder in Risikokonstellationen schneller sozialpädagogisch anzubinden.
Natürlich sehen wir auch aktuell kritische Entwicklungen, die uns Sorgen machen sollten: Die Inflation sorgt für familiären Stress und langfristig für Armut. Durch die Pandemie haben sich Risikogruppen aus dem Bildungssystem zurückgezogen. Es wird immer schwerer, bezahlbare Wohnungen zu finden. Auch das Thema Social Media muss dabei berücksichtigt werden: Es gibt einen unverkennbaren Einfluss der „Suche nach dem geilsten Video“ sowie dem Thema „Cybermobbing“ auf die Gewalt in diesen Altersgruppen.
Was kann der Staat tun, wenn es zu schweren Gewalt- oder Straftaten durch strafunmündige Kinder kommt?
Es hält sich das Gerücht, unter 14-Jährige würden nicht vor einen Richter oder eine Richterin gestellt werden. Das ist Unsinn. Auch ein Kind kann vor eine Richterin kommen, wenn es schwere oder häufige Straftaten begeht – allerdings nicht vor einen Strafrichter, sondern vor einen Familienrichter. Und da gehört ein Kind auch hin. Wenn die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage sind, die notwendigen Schritte einzuleiten, um weitere Straftaten zu verhindern, muss die Frage der Erziehungsfähigkeit gestellt werden. Notfalls muss auch gegen den Elternwillen eingriffen werden, und das geschieht auch, wenn das System so funktioniert, wie es gedacht ist.
Darüber hinaus gibt es viele weitere Instrumente in der Jugendhilfe (über die Jugendämter) sowie in Psychiatrien (wenn es eine Krankheitsindikation gibt) und Therapien. Sprich: Wenn ein Kind schwere Straftaten begeht, müssen Expert:innen eine individuelle Einschätzung vornehmen und aus den Baukästen des Familienrechts, der Jugendhilfe und der Kinder- und Jugendpsychiatrie/-psychotherapie einen sogenannten Interventionsplan erarbeiten.
Im Vordergrund steht nicht zu bestrafen, sondern zu erziehen. Auch dieser Ansatz scheint zu funktionieren: Die Rückfallquote nicht strafmündiger schwerer Gewalttäter:innen ist in Deutschland im Vergleich zu Ländern, die schon deutlich jüngere Kinder bestrafen, niedrig.
Wie sinnvoll ist die Herabsetzung der Strafmündigkeit als Konsequenz?
Kurze Antwort: gar nicht. Länder, die das gemacht haben, haben heute mehr Probleme mit Gewalt durch Kinder. Strafen im juristischen Sinne zeigen keine Wirkung, um weitere Straftaten zu verhindern oder die Kriminalität in einer Gesellschaft zu verringern – nachweislich ist das Gegenteil ist der Fall.
Bleibt eine zweite Frage: Was ist von dem Argument der früheren Reife im Vergleich zu „damals“ zu halten?
Noch in den 1950er und 60er Jahren gingen viele Jugendliche mit 14 voll arbeiten. Heute wohnen junge Menschen immer länger zuhause – und sind somit länger abhängig von den Eltern. Manche argumentieren, dass die körperlich-sexuelle Reifung früher einsetzt. Das stimmt, aber im Vergleich zu wann? Der Anteil junger Menschen, die mit 14 bereits Geschlechtsverkehr hatten, hat sich in den vergangenen 15 Jahren verringert – also in einem Zeitraum, in dem die Kriminalität sank.
Es gibt nur ein haltbares Argument: die frühere Einsichtsfähigkeit für unterschiedliche Delikte. Vor etwa 20 Jahren wurde diskutiert, dass Kinder sehr viel früher einsehen können, dass Verhalten unrecht ist. Dies war die Begründung für die Altersgrenze. Aber das sagt nichts über die Interventionslogik aus. Natürlich kann ein Sechsjähriger einsehen und wissen, dass Diebstahl unrecht ist – aber sollte er deswegen juristisch belangt werden, oder nicht doch besser von seinen Eltern erzogen?
Wir müssen pädagogisches Eingreifen konsequent weiter vorantreiben, familiäre Gewalt konsequent bekämpfen, Kinder schützen und die Strafmündigkeit nicht anfassen – für alles andere gibt es weder Evidenz, noch haltbare Argumente.
Redaktion: Bent Freiwald, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert
Diesen Text hat Menno Baumann zuerst auf Twitter als Thread gepostet.