Als die Debatte um die Einführung eines sozialen Pflichtdienstes im Frühjahr des vergangenen Jahres ihre neueste Runde drehte, schrieb unsere damalige Schülerpraktikantin einen Kommentar. Der soziale Pflichtdienst für junge Erwachsene sei aus der Zeit gefallen, kommentierte sie und wünschte sich mehr Kommunikation. Sie fand es unverschämt, dass so wenig mit ihrer Generation gesprochen wird, dafür aber so viel über sie. Ihren Text veröffentlichte ich in meinem Newsletter und auf der Krautreporter-Homepage. Die Reaktionen waren überwiegend positiv. Aber auch so:
„Die jungen Leute sind heute oft sehr ich bezogen.“
„Vielleicht ist es auch gar nicht schlecht, wenn junge Menschen mal sehen, wie es ist, wenn man ein bisschen arbeitet.“
„Die meisten jungen Leute: vollkommen weltfremd. Ist leider Gottes so. Man hat es ja bei Fridays for Future gesehen.“
„Skandal! Pflichtdienst! Das stört die Selbstverwirklichung und passt nicht in die Zeit der Ego-Gesellschaft.“
Solche Reaktionen sind Standard, zumindest in den sozialen Medien. Der Blick auf Jugendliche ist oft von oben herab. Sie seien fauler, dümmer, egoistischer, [hier beliebige, negative Zuschreibung einfügen] als ältere Menschen! Auf Twitter bin ich neulich auf einen Thread gestoßen. Er hieß „A Brief History of Kids Today Are Too Soft“. In dem Thread zu finden: Zeitungsausschnitte von 1921 bis 2008. In jedem heißt es, die Jugend von heute sei verweichlicht.
Die Geschichte der immer schlimmer werdenden Jugendlichen geht aber noch viel weiter zurück, Jahrhunderte sogar. Ich habe mich gefragt: Warum eigentlich? Darum geht es in dieser Ausgabe meines Newsletters.
Glücklicherweise haben zwei Sozialwissenschaftler genau das untersucht. Die Autoren John Protzko und Jonathan W. Schooler schreiben, die Verunglimpfung der heutigen Jugend sei eine grundlegende Illusion, die auf mehreren verschiedenen kognitiven Fehlern beruht. Und sie geben ihr sogar einen Namen: den „Kids These Days“-Effekt.
Wer auf die Jugend blickt, blickt erstmal auf sich selbst
Die Wissenschaftler schauten sich drei Vorurteile gegenüber Jugendlichen genauer an:
- Jugendliche sind respektlos gegenüber Älteren.
- Jugendliche sind weniger intelligent als früher.
- Jugendliche lesen heute weniger als früher.
Sie wollten wissen: Wer glaubt das? Und warum glauben die das? Protzko und Schooler setzten nicht eine Studie an, sondern fünf. In der ersten fanden sie heraus, dass die befragten Erwachsenen tatsächlich im Durchschnitt der Meinung waren, die Kinder von heute hätten weniger Respekt vor den Älteren als früher. Und sie fanden einen Zusammenhang: Je wichtiger den Erwachsenen Respekt war, desto eher glaubten sie, dass die Kinder heute keinen Respekt mehr vor den Älteren haben.
Es sind nicht nur die Konservativen
In der zweiten Studie untersuchten sie das Vorurteil, Jugendliche seien heute weniger intelligent als früher. Diese Annahme war unter den Teilnehmer:innen im Durchschnitt nicht so sehr verbreitet, genauso viele Befragte glaubten, dass sich die Intelligenz gar nicht verändert habe. Das heißt: Der „Kids These Days“-Effekt liegt nicht einfach nur darin begründet, dass Erwachsene sich überlegen fühlen. Aber wieder zeigte sich: Auch, wenn das Vorurteil nicht so sehr verbreitet ist wie die Annahme, dass die Jugend respektloser sei, besteht wieder ein Zusammenhang: Je intelligenter die Befragten, desto eher glaubten sie, dass die Kinder heute weniger intelligent seien.
Das Ergebnis von Studie drei könnt ihr schon ahnen: Je belesener die Befragten waren, desto eher glaubten sie, dass Kinder heute weniger lesen. Einen Zusammenhang zwischen der politischen Einstellung und diesem Vorurteil gab es übrigens nicht. Konservative blicken in dieser Hinsicht nicht besonders abfällig auf die Jugend.
Die heutige Jugend ist ganz besonders schlimm, und zwar immer
Die Ergebnisse deuten auch darauf hin, dass Erwachsene keinen konstanten Generationenverfall wahrnehmen. Sie glauben nicht, dass wir als Kinder schlechter waren als die Generation unserer Eltern, die wiederum schlechter war als die Generation ihrer Eltern usw. Stattdessen glaubten die Studienteilnehmer:innen, dass nur die Kinder von heute diese Defizite aufweisen.
Bleibt die Frage: Warum genau glauben diejenigen, bei denen ein Merkmal besonders ausgeprägt ist (zum Beispiel besonders autoritär, intelligent), dass dieses Merkmal bei der Jugend von heute untergeht? Die Autoren liefern zwei Erklärungen.
Erstens scheint es generell so zu sein, dass wir Schwächen anderer vor allem in den Bereichen erkennen, in denen wir selbst besonders gut sind.
Zweitens aber scheinen wir unsere eigene Jugend zu verklären. „Je eher jemand sagt, dass er heute gerne liest, desto eher erinnert er oder sie sich daran, dass seine Freunde in der Kindheit gerne gelesen haben.“ Der Fehlschluss dahinter: Weil wir jetzt gerne lesen, hat jede:r gerne gelesen, damals, als wir selbst Kinder waren.
Man kann Erwachsenen ihre Vorurteile ausreden
Um ihre These zu testen, manipulierten Protzko und Schooler ihre Teilnehmer:innen sogar. Sie ließen sie einen Test machen, bei dem sie Schriftsteller:innen erkennen mussten. Dann teilten sie den Befragten zufällig mit, dass sie entweder sehr gut oder ziemlich schlecht abgeschnitten hätten (unabhängig davon, wie sie wirklich abschnitten). Diese Manipulation veränderte, für wie belesen sich die Teilnehmer:innen hielten, wie sehr sie sich daran erinnerten, dass sie als Kind gerne gelesen hatten und damit wiederum, wie sehr sie der Jugend vorwarfen, weniger zu lesen. Bei denen, die sich selbst (fälschlicherweise) für weniger belesen hielten, reduzierte sich der „Kids These Days“-Effekt.
Nun können wir Erwachsenen nicht ständig einreden, dass sie eigentlich viel weniger belesen oder intelligent sind als sie glauben, um so ihre Fehleinschätzung auszubügeln. Dass wir kognitive Fehler machen, ist auch nicht sonderlich erstaunlich. Wir machen sie alle, wie meine Kollegin Theresa hier beschrieben hat. Erstaunlich ist eher, dass wir diesen Fehler seit Jahrhunderten machen.
Schritt 1, um das zu ändern: Den Fehler kennen. Schritt 2: Anderen davon erzählen. Das habe ich hiermit getan, jetzt seid ihr dran.
Redaktion: Esther Göbel, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Iris Hochberger.