Links ein Stapel Bücher, auf dem eine Brille und einige Stifte liegen. Rechts im Bild ist der Gründer der Waldorfschulen, Rudolf Steiner, abgebildet.

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Kinder und Bildung

So esoterisch ist die Ausbildung zur Waldorf-Lehrkraft

Manche Lehrkräfte lernen, „mit Engeln zusammen zu arbeiten“. Das ist Waldorf-Pädagogik – und wird vom Staat anerkannt. Wie kann das sein?

Profilbild von Bent Freiwald und Leoni Bender

Stell dir vor, du hast ein Kind, sagen wir: im Grundschulalter. Es soll die bestmögliche Ausbildung bekommen und damit verbunden: bestmögliche Lehrkräfte. Die fehlen zwar heute überall, aber für dein Kind sollen es trotzdem solche sein, die eine fundierte pädagogische Ausbildung absolviert haben, ein Referendariat, ein fachliches Studium.

Aber würdest du dir für dein Kind auch wünschen, dass seine Lehrkräfte als Teil ihrer Ausbildung gelernt haben, mit „Engeln zusammen zu arbeiten“, die Seele deines Kindes „zu sehen“ oder aus dem Verhältnis von Kopf zu Rumpf Schlussfolgerungen über das sogenannte Temperament deines Kindes zu ziehen?

An einigen Ausbildungsinstituten der Waldorfpädagogik gehören Inhalte wie diese zum Alltag. Das haben wir in den vergangenen Monaten gemeinsam mit dem ZDF Magazin Royale herausgefunden. Wir haben die Modulhandbücher und Seminarbeschreibungen von angehenden Waldorf-Lehrer:innen untersucht und uns einige ihrer Ausbilder:innen genauer angeschaut.

Das Ergebnis: Viele der angebotenen Seminare basieren auch heute noch auf der esoterischen Lehre von Rudolf Steiner. Seine über 100 Jahre alten Texte gehören in einigen Seminaren zur Standardliteratur. Und: Einzelne Ausbilder:innen behaupten, dass sie mit Naturgeistern und Bäumen sprechen könnten oder empfehlen Eurythmie gegen Corona.

Was uns besonders erschreckt hat: Für einige Lehrkräfte ist die Ausbildung an einer anthroposophischen Hochschule nicht nur eine Zusatzausbildung, sondern die einzige pädagogische und fachliche Ausbildung, die sie haben.

Eines der wichtigsten Ziele unserer Recherche war, herauszufinden, wie viel Einfluss die Anthroposophie als Grundlage der Waldorfpädagogik heute hat. Und damit verbunden, wie wissenschaftlich Waldorfpädagogik überhaupt sein kann. Da der Unterricht an Waldorfschulen wie an kaum einer anderen Schule von der einzelnen Lehrkraft abhängt – Schulbücher gibt es zum Beispiel in der Unter- und Mittelstufe üblicherweise nicht –, wollten wir also zuerst einmal wissen: Wo werden Waldorf-Lehrkräfte ausgebildet und was lernen sie dort?

Was ist Waldorfpädagogik?

Waldorfpädagogik basiert auf der Anthroposophie Rudolf Steiners. Dieser Weltanschauung nach können Naturwissenschaften allein die Welt nicht vollständig erfassen. Anthroposoph:innen gehen davon aus, dass es eine zusätzliche, eine geistige Welt gibt. Diese geistige Welt könne man laut Rudolf Steiner nur erkennen, wenn man seinen Geist schule. So könne man zu „übersinnlicher Erkenntnis“ gelangen, „hellsehen“ und einer „der Eingeweihten“ werden.

Wichtig ist: Anthroposophie ist kein Unterrichtsfach an Waldorfschulen. Das heißt aber nicht, dass sie in den Schulen keine Rolle spielt. Vielmehr ist sie die Grundlage, auf der das ganze Schulsystem fußt. Ähnlich wie bei einer katholischen Schule, die sich christlichen Werten verschrieben hat, verschreiben sich die Waldorfschulen der Anthroposophie.

Eine Karte, die die Verteilung von Waldorfschulen in Deutschland zeigt. Besonders im Westen gibt es viele.

Hintergrund: NASA | Gestaltung: KR

Im Magazin „Erziehungskunst“, das vom Bund der Freien Waldorfschulen herausgegeben wird, heißt es: „An den Waldorfschulen wird Anthroposophie nicht gelehrt, es wird jedoch gewünscht, dass die Lehrkräfte ein Interesse an der Anthroposophie mitbringen, wenn sie an Waldorfschulen kommen.“ Da die Anthroposophie in den Lehramtsstudiengängen staatlicher Universitäten keine Rolle spielt, bieten Waldorflehrerseminare und Institute entsprechende Aus- und Weiterbildungen an.

Insgesamt gibt es drei Ausbildungsorte, an denen man einen waldorfpädagogischen Studienabschluss erwerben kann: Die Freie Hochschule Stuttgart, das Waldorf Institut Witten Annen und die Alanus Hochschule in Alfter und Mannheim. Neben dem Vollzeit- und Teilzeitstudium werden angehende Lehrkräfte auch in sieben weiteren Vollzeitseminaren und in 27 weiteren berufsbegleitenden Seminaren oder durch ein Fernstudium ausgebildet.

Was weiß man über Waldorflehrer:innen?

Während der Recherche haben wir immer wieder gemerkt, dass Anthroposoph:innen gerne unter sich bleiben. Unabhängige und somit vertrauenswürdige wissenschaftliche Befragungen gibt es kaum. Eine der wenigen Studien, die Waldorf-Lehrkräfte untersucht hat, ist die Befragung „Ich bin Waldorflehrer“ von Dirk Randoll aus dem Jahr 2013. Aber auch Randoll, der mittlerweile verstorben ist, war Anthroposoph. Er lehrte als Professor für Erziehungswissenschaft an der Alanus Hochschule. Wir zitieren hier trotzdem aus seiner Studie, da es sich um eine Befragung handelt, bei der sich 1.807 Lehrkräfte beteiligt haben. Das war zum Zeitpunkt der Erhebung etwa ein Drittel aller Waldorf-Lehrkräfte in Deutschland.

Ein Drittel der Befragten bezeichnen ihr Verhältnis zur Anthroposophie als „engagiert“ beziehungsweise „praktizierend“. Auf die Frage „Welche Bedeutung hat die Anthroposophie für Sie in Ihrer Berufstätigkeit?” antworten mehr als 80 Prozent, die Weltanschauung hätte eine „sehr hohe“ (29,4 Prozent) oder „hohe“ (52,7 Prozent) Bedeutung für sie.

Für die meisten Lehrkräfte hat Anthroposophie eine hohe Bedeutung.

Hintergrund: NASA | Gestaltung: KR

Was in Waldorf-Seminaren gelehrt wird

Die Studie von Dirk Randoll ist heute fast zehn Jahre alt. Und was Lehrkräfte genau unterrichten, geht daraus auch nicht hervor. Also haben wir uns gefragt: Wie esoterisch ist die Ausbildung an den Waldorf-Seminaren und an den anthroposophischen Hochschulen wirklich? Um das herauszufinden, haben wir einen Fragenkatalog an die Ausbildungsstätten verschickt.

Als Erstes antwortete uns das Waldorflehrerseminar in Dresden. Die Seminarleitung bestätigt uns, dass esoterische Inhalte von Rudolf Steiner auch heute noch gelehrt werden. So etwa die Idee, dass der Mensch sein Wesen auf vier verschiedene Weisen zum Ausdruck bringen könne: im physischen Leib, im Ätherleib, im Astralleib und dem „Ich“.

Einige Seminare antworteten zwar auf unsere Mail, beantworteten aber nicht unsere Fragen. Stattdessen meldete sich bald die Pressesprecherin des Bundes der Freien Waldorfschulen, Nele Auschra, bei uns. Sie sei erstaunt, dass wir versucht hätten, die Recherche vor ihr geheim zu halten. „Ein solches Vorgehen steht für uns im Widerspruch zur transparenten und glaubwürdigen Recherche, die einen professionellen Journalismus auszeichnet“, schreibt sie. Dabei wollten wir die Recherche gar nicht vor ihr geheim halten, wir waren zu diesem Zeitpunkt schon mehrfach mit ihr in Kontakt. Sie war schlichtweg nicht die richtige Ansprechpartnerin für unsere Fragen an die Seminare. Weitere Antworten der Seminare bekamen wir anschließend nicht mehr.

Wie arbeitet man mit Engeln zusammen?

Im Laufe der vergangenen Monate haben wir deshalb gemeinsam mit den Kolleg:innen vom ZDF Magazin Royale öffentlich zugängliche Lehrmaterialien, Modulhandbücher, Studienpläne und Literaturlisten ausgewertet und daraufhin überprüft, inwiefern esoterische Inhalte dort eine Rolle spielen. Diese Materialien waren auf den Webseiten der Lehreinrichtungen zum Zeitpunkt unserer Recherche frei abrufbar.

Klar ist: Auch in den Studiengängen der Waldorfpädagogik und an den Waldorf-Seminaren sind Grundlagen zur Pädagogik, der Entwicklungspsychologie und Didaktik Teil der Ausbildung. Und in diesen Fächern dreht sich nicht alles um Anthroposophie. Unsere Recherchen zeigen aber: Die unwissenschaftlichen Ideen Rudolf Steiners sind tief in den Ausbildungen zur Waldorf-Lehrkraft verankert.

So etwa im Seminar für Pädagogische Praxis in Jena. In diesem Ausbildungszentrum, das in der Freien Waldorfschule Jena untergebracht ist, können sich Lehrkräfte vor allem berufsbegleitend weiterbilden, die Seminare finden als Fernstudium statt. Wir haben einen Blick in eine Informationsbroschüre zum Grundstudium und zum Praxisjahr geworfen.

In der ersten Lektion des Grundstudiums („Das Wesen des Menschen – anthroposophisch erfasst“) heißt es: „Physischer Leib, Ätherleib und Astralleib sind […] Hüllen, in denen der Mensch mit seinem Ich auf der Erde lebt. Das Ich des Menschen ist seine geistige Wesenheit, seine Persönlichkeit, seine unsterbliche Individualität.“


Was hinter Waldorfschulen steckt, ist nur eines von vielen Themen, denen sich unser Bildungsreporter Bent Freiwald widmet. Wenn du seine nächste Recherche nicht verpassen möchtest, abonniere seinen Newsletter „The Kids Are Alright“.


In der zweiten Lektion des Grundstudiums („Einführung in die Anthroposophie“) beschäftigten sich die Lehrkräfte „noch einmal ganz grundlegend mit erkenntnistheoretischen Übungen, wie der Mensch die gesamte Welt – die sinnliche wie auch die übersinnliche – wahrnehmen, denken und erkennen kann.“ Außerdem lernen Waldorf-Lehrer:innen „durch kurze Beschreibungen verschiedene übersinnliche Wesen kennen: Naturwesen und geistige Wesen, wie etwa die Engel. Sie bekommen einen Einblick, wie Rudolf Steiner die geistig-göttliche Welt dargestellt hat: auf der einen Seite Christus, auf der anderen Seite das Böse. Die Lehrkräfte lernen außerdem „etwas über Nah-Todeserfahrungen, das Leben nach dem Tod und die Vorbereitungen auf eine nächste Inkarnation, über Reinkarnation und Karma.“

Zu den Inhalten der dritten Lektion des Grundstudiums („Die Entwicklung des Menschen im Kindes- und Jugendalter“) gibt es eine Leseprobe. Darin heißt es, die Auszubildenden sollten lernen, die Seele des Kindes zu sehen: „Mit ‚Sehen‘ ist hier ein inneres gemeint, denn für die äußeren Augen sind der Geist und die Seele unsichtbar.“

In der siebten Lektion des Grundstudiums („Die Oberstufe der Waldorfschule – Geografie und Biologie“) beschäftigen sich die Teilnehmer:innen wiederum mit der „Einseitigkeit heutigen naturwissenschaftlichen Denkens“.

In der zehnten Lektion „Erziehung als Selbsterziehung“ heißt es: „Es geht um den Gesinnungsraum, den wir für die Kinder bereiten und um die eigene Erweiterung im Erleben der Natur und des Jahreslaufes, damit wir die umfassende Größe des kindlichen Erlebens nicht einengen. Dazu gehört auch die Frage, ob und inwieweit wir mit dem Engel des Kindes zusammenarbeiten können.“

Was die Lehrkräfte hier lernen, können sie zwar nur an Waldorfschulen anwenden, trotzdem akzeptieren staatliche Behörden die Ausbildung als ausreichenden Nachweis ihrer pädagogischen Qualifikation.

Rudolf Steiner ist Grundlagenliteratur

Die Freie Hochschule Stuttgart ist die älteste Institution der Waldorfpädagogik – hier lehrte noch Rudolf Steiner. Lehrkräfte können sich dort bis heute nicht nur weiterbilden, sondern auch staatlich anerkannte Abschlüsse erwerben, also einen Bachelor oder einen Master.

Was genau man dort lernt, steht unter anderem im Modulhandbuch zum Bachelor in Waldorfpädagogik. Im Modul „Grundlagen Philosophie“ geht es unter anderem um eine „reflektierte Auseinandersetzung mit grundlegenden Kategorien der Biographieforschung und ihren Beziehungen zur anthroposophischen Reinkarnationslehre.“ Diese Lehre besagt, dass der Geist beziehungsweise das Ich des Menschen mehrmals in verschiedenen Körpern wiedergeboren wird.

Laut Modulhandbuch zum Masterstudiengang der Hochschule zum Klassen- und Fachlehrer sind Werke von Rudolf Steiner in zehn Modulen auf der Literaturliste zu finden, unter anderem seine „Allgemeine Menschenkunde als Grundlage der Pädagogik“.

Auch am Waldorfinstitut Witten Annen kann man studieren. Hier wird unter anderem das Studium zur „Klassenlehrer:in“ angeboten. Man kann sich auch als Fachlehrer:in ausbilden lassen, etwa für Gartenbau oder Eurythmie. Auch wenn diese Ausbildung staatlich nicht anerkannt ist, reicht sie laut Ersatzschulverordnung des Landes Nordrhein-Westfalen, um unterrichten zu dürfen.

Im Modulhandbuch der Waldorfpädagogik wird zum Studiengang Klassenlehrer im Modul „Naturkunde“ unter anderem erklärt: „Es entsteht durch das Verhalten des erkennenden Menschen der Schein, als ob die Gedanken der Dinge im Menschen seien, während sie in Wirklichkeit in den Dingen walten.“

Im Modul „Kulturkunde“ heißt es weiter: „Ausgehend von der Frage: Wie verstehe ich das Hier und Jetzt? werden unterschiedliche Schöpfungsmythen vorgestellt und auf ihren Aussagekern hin untersucht.“ Erarbeitet werde sich diese Frage auch mithilfe von Steiners Grundlagenwerk „Geheimwissenschaft“, in dem auch der Mythos von Atlantis mehrfach genannt wird.

In einer Handreichung zum dualen Studiengang „Klassenlehrer:innen“ werden Schritte der sogenannten Kinderbetrachtung genannt. Bei dieser wenden sich Lehrkräfte Kindern zu, die Entwicklungsschwierigkeiten haben und versuchen herauszufinden, woran das liegen könnte. Die Leitfrage sei laut der Handreichung: „Welches Temperament ordnen Sie dem Kind zu?“ Mögliche Kriterien zur Kinderbetrachtung seien die sogenannte Gestalt (also etwa das Verhältnis von Kopf, Rumpf und den Gliedmaßen), die Haltung oder die Wärme der Hände.

Laut Grundgesetz muss die Ausbildung wissenschaftliche Standards erfüllen – tut sie das?

Laut Dirk Randolls Befragung verfügen insgesamt 80,4 Prozent der befragten Waldorf-Lehrkräfte über eine waldorfpädagogische Qualifikation. 44,5 Prozent haben ein Waldorf-Vollzeitseminar besucht.

Jetzt könnte man sagen: Man muss sein Kind ja nicht auf eine Waldorfschule schicken. Und außerdem sind Waldorfschulen Privatschulen. Das heißt auch: Sie unterliegen nicht exakt den gleichen Anforderungen wie staatliche Schulen.

Dazu ein kleiner Exkurs ins Grundgesetz: Privatschulen zu gründen, ist in Deutschland ein Grundrecht. In Artikel 7 des Grundgesetzes wurde allerdings festgelegt, dass private Schulen dafür sorgen müssen, dass ihre Lehrer:innen eine wissenschaftliche Ausbildung bekommen:

„Die Genehmigung ist zu erteilen, wenn die privaten Schulen in ihren Lehrzielen und Einrichtungen sowie in der wissenschaftlichen Ausbildung ihrer Lehrkräfte nicht hinter den öffentlichen Schulen zurückstehen.“

Nele Auschra, die Pressesprecherin des Bundes der Freien Waldorfschulen, schreibt uns, dass dies in jedem Fall gegeben sei: „Alle Lehrkräfte an Waldorfschulen sind im Vergleich zu denjenigen an staatlichen Schulen gleich- und höherwertig wissenschaftlich und pädagogisch ausgebildet. Andernfalls erhielten sie keine Lehrerlaubnis seitens der Aufsichtsbehörden.“

Doch ist das so?

Sowohl ein Nachsatz im Landesgesetz Baden-Württemberg als auch die Randoll-Studie weisen darauf hin, dass diese Gleichwertigkeit nicht gegeben sein muss. Dass Ausnahmen möglich sind.

Denn was der Artikel 7 des Grundgesetzes überhaupt für die Waldorfschulen bedeutet, regeln die Privatschulgesetze der einzelnen Bundesländer. Ob die Bedingung der Gleichwertigkeit erfüllt ist, spielt in den meisten Bundesländern vor allem bei der Genehmigung von Schulen eine Rolle, also immer dann, wenn jemand eine neue Waldorfschule gründen möchte. Seit 1989 war das immer häufiger der Fall: Die Anzahl der Waldorfschulen hat sich seit der Wende mehr als verdoppelt.1989 gab es in Westdeutschland 114 Waldorfschulen, heute sind es 253.

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Wer in Deutschland Lehrer:in werden will, braucht üblicherweise zwei Dinge: einen Platz an der Uni und viel Zeit. Denn der Weg an eine öffentliche Schule ist lang: mindestens drei Jahre Bachelorstudium, zwei Jahre Masterstudium und anschließend das Referendariat. Für angehende Waldorf-Lehrkräfte scheint all das jedoch nicht zwingend ein Muss zu sein.

Da an Waldorfschulen auch Fächer unterrichtet werden, für die keine wissenschaftliche Ausbildung notwendig ist, wie Werken oder Eurythmie, kann man dort grunsätzlich auch unterrichten, ohne ein Studium abgeschlossen zu haben. Dirk Randoll schreibt in seiner Analyse von 2013 aber, dass sogar „weniger als die Hälfte“ der befragten 1.807 praktizierenden Waldorf-Lehrkräfte ein Lehramtsstudium an einer wissenschaftlichen Hochschule abgeschlossen hatte. Die andere Hälfte habe ein anderes Universitätsstudium oder eine pädagogische, therapeutische oder handwerkliche Ausbildung absolviert und zusätzlich waldorfpädagogische Kurse besucht.

Wir haben bei den Bundesländern nachgefragt, wie viele Waldorf-Lehrkräfte in ihren Ländern über ein Staatsexamen oder einen vergleichbaren Hochschulabschluss verfügen. Nur ein einziges Bundesland konnte diese Frage beantworten: Thüringen. Rund 15 Prozent der an den angefragten Schulen eingesetzten Lehrkräfte hätten ihre Eignung über eine einschlägige Lehramts- oder Diplom-Lehrerausbildung nachgewiesen. 74 Prozent haben eine spezielle waldorfpädagogische Ausbildung als Nachweis ihrer wissenschaftlichen Ausbildung angegeben.

Gibt es gesetzliche Ausnahmen für Waldorfschulen?

Eigentlich differenzieren die Bundesländer in ihren Privatschulgesetzen nicht nach verschiedenen Schulformen. Im Landesgesetz Baden-Württemberg allerdings gibt es sogar einen eigenen Waldorf-Zusatz. Dort heißt es, die Genehmigung sei einer Privatschule zu erteilen, „wenn die Schule die Bildungsziele nach dem Waldorflehrplan erfüllt, sowie der Unterricht grundsätzlich von Lehrkräften mit einer abgeschlossenen fachlichen und pädagogischen Ausbildung erteilt wird.“

Interessant ist der folgende Nachsatz: „Dabei kann auf den Nachweis entsprechender Prüfungen verzichtet werden, wenn eine gleichwertige fachliche Ausbildung und pädagogische Eignung anderweitig nachgewiesen wird.“ Auch hier wird also klar: Die speziellen Ausbildungen der Waldorfpädagogik reichen als Eignung aus, um eine ausreichende fachliche und pädagogische Ausbildung nachzuweisen.

Laut einer Informationsbroschüre des Bundes der Freien Waldorfschulen muss die Beschäftigung einer neuen Lehrkraft in Baden-Württemberg, Hamburg, Niedersachsen, Sachsen und Thüringen sowieso gar nicht genehmigt werden. In Niedersachsen müssen es Waldorfschulen dem Bildungsministerium nicht mal mitteilen, wenn sie eine neue Lehrkraft einstellen. Welche Ausbildung die Lehrkräfte an Waldorfschulen haben, kann Niedersachsen also gar nicht wissen.

Auf Nachfrage haben wir erfahren, dass SPD und CDU das Thema im Juni 2022 in den niedersächsischen Landtag eingebracht haben. In ihrem Antrag wird der Aspekt der Qualifikation von Lehrkräften expliziert thematisiert. Jetzt wird mit den Verbänden der freien Schulen ein Konzept für eine landesweit geltende Genehmigungspraxis erarbeitet.

Kontrollieren die übrigen Kultusministerien, ob die Ausbildung von Waldorf-Lehrkräften gleichwertig ist? Das Bildungsministerium in Schleswig-Holstein schreibt uns auf Anfrage: Wissenschaftlich müsse die Ausbildung gleichwertig sein. Für die pädagogische Ausbildung aber gibt es Ausnahmen:

„Fehlt der Lehrkraft die pädagogische Ausbildung, so wird eine auf drei Jahre befristete Unterrichtsgenehmigung erteilt mit der Auflage, die berufsbegleitende Ausbildung an einem Waldorflehrerseminar erfolgreich zu beenden. Erst nach erfolgreichem Abschluss der Ausbildung bzw. eines absolvierten Masterstudiums am Waldorflehrerseminar in Stuttgart wird eine unbefristete Unterrichtsgenehmigung für das studierte Fach/die studierten Fächer erteilt. Damit wird sichergestellt, dass die Lehrkräfte an Waldorfschulen nicht hinter der wissenschaftlichen Ausbildung der Lehrkräfte an öffentlichen Schulen zurückstehen.“

Allerdings schreibt das Ministerium auch: „Es erfolgt durch das Land Schleswig-Holstein keine Kontrolle der wissenschaftlichen Qualität der Ausbildung an dem Waldorflehrerseminar Kiel.“ Das heißt: Auch das Land Schleswig-Holstein akzeptiert die Zusatzausbildung an einem Waldorfseminar ohne zu wissen, was dort eigentlich gelehrt wird.

Ein Ausbilder, der hellsehen kann? Ein Ausbilder, der Zwiebeln interviewt?

Wir haben uns aber nicht nur die Inhalte der Waldorf-Lehrkräfteausbildung genauer angeschaut, sondern auch, wer die angehenden Lehrkräfte dort unterrichtet. Dabei sind wir auf mehrere Ausbilder:innen gestoßen, deren Lehrinhalte oder Äußerungen mindestens fragwürdig sind.

Der Waldorf-Ausbilder Alfredo Agostini soll in einem Weiterbildungsprogramm in Bremen und Niedersachsen laut dem Blogger Oliver Rautenberg das „Aura-Lesen“ gelehrt haben. Dort sollen Teilnehmer:innen seiner Veranstaltung zu „Wesensgliedern“ (laut Anthroposoph:innen übersinnlich erfahrbare Teile des Menschen) gelernt haben, die unsichtbaren Äther- und Astralleibe von Kindern zu erkennen. In einer internen Mail des Projektleiters Axel Langworst an eine Koordinatorin, die der Anthroposophie-Kritiker Oliver Rautenberg auf seinem Blog veröffentlichte, heißt es: „Einerseits wird Herr Agostini über die Wesens-(glieder-) Veränderungen der heutigen Kinder referieren und Übungen dazu abhalten. Er ist hellsichtig und kann die Wesensglieder beobachten.“

Hellsichtig? Ein Ausbilder, der die Zukunft voraussagen kann?

Neben Agostini sind uns auch noch weitere Ausbilder:innen mit esoterischen Aussagen und Einstellungen aufgefallen.

So schreibt Christoph Strawe, der unter anderem an der Freien Hochschule Stuttgart am Seminar für Waldorfpädagogik lehrt, in der anthroposophischen Zeitschrift „Sozialimpulse“ über die Wiedergeburt: „Das Bevölkerungswachstum deutet darauf hin, dass die Inkarnationen rascher aufeinander folgen als je zuvor.“ Und: „In vielen Menschen erwacht heute ein neues Reinkarnationsgedächtnis, sie haben den deutlichen Eindruck, nicht zum ersten Mal auf der Erde zu leben.“

Wolfgang Weirauch, der für das Fernstudium Waldorfpädagogik Jena arbeitet, behauptet seit mehreren Jahren, Naturgeister zu interviewen und mit geistigen Wesen und Bäumen im Gespräch zu sein. Unter anderem veröffentlichte er ein 18-seitiges Interview mit einer großen Zwiebel. Auf seiner privaten Website bietet er auch das dazu passende Seminar an: „Was die Naturgeister uns sagen“.

Ulrike Wendt, die unter anderem im Fernstudium Jena Eurythmieprojekte und Workshops anbietet, arbeitet auch für die Gesellschaft für Bildekräfteforschung e.V. Die Organisation erkenne angeblich die Entstehung von Krankheiten in Ätherleiben in Zusammenhang mit Planetenkräften und Sternenkonstellationen: „So lässt sich das Woher und Warum, also die Diagnose einer Krankheit, auf neue Art beschreiben.“

Der Studienleiter des Fernstudiums Jena, Wolfgang Debus, schreibt im Waldorf-Magazin „Erziehungskunst“, dass Temperamente der Generalschlüssel seien, um den „wesensgemäßen Arbeitsplatz“ für jeden zu finden und „Krankheiten und (Miss-)Stimmungen besser zu begegnen.“

Die Eurythmie-Dozentin Sivan Karnieli vom Waldorf Institut Witten Annen kritisiert auf ihrem Blog die Corona-Maßnahmen. Diese würden der Verbindung zwischen dem menschlichen Geist und dem Körper schaden. Sie schreibt im Juni 2021: „Inzwischen erreichen mich immer mehr Berichte von Menschen, die hellsichtig wahrnehmen, was Masken, Tests, Impfungen und sogar die Krankheit selbst für geistige Folgen haben, nämlich dass sie – in der Wirkung unterschiedlich stark und bleibend – den materiellen Körper des Menschen so ‚präparieren‘, dass die seelisch-geistigen Anteile keine Verbindung mehr zu ihrem ‚Instrument‘ haben können.“ Sie empfiehlt stattdessen Eurythmie gegen Covid, denn diese sei „von sehr großer Bedeutung für unsere erstarrten Seelen und Lebensleiber, aber auch für die von unserem gleichförmigen ‚Corona-Denken‘ erstarrte Äthersphäre der Erde.“

Und Michael Knöbel, Gastdozent am Seminar für Waldorfpädagogik in Hamburg, lädt in einem Video ein zu einem „etwas anderen Nachdenken“ über Corona. Auf Anthronet.de analysiert Knöbel, der auch als Lehrer an einer Waldorfschule unterrichtet, die Corona-Pandemie mit Hilfe von Steiners Lehre. Er stellt dabei einen Bezug zwischen Covid-19 und „geistigen Mächten“ her: Im Frühling, besonders zu Ostern, würden laut Rudolf Steiner „luziferische und ahrimanische“ Wesen wirken, die die Menschen von ihrem „individuellen Kraftwirken wegführen“.

Wer erinnert sich noch an Atlantis?

Unsere Gespräche mit Waldorfschüler:innen, Lehrkräften und Eltern zeigen: Es gibt sie, die modernen Waldorfschulen, in denen Esoterik kaum noch eine Rolle spielt. Viele Schüler:innen profitieren von weniger Notendruck, mehr Spiel, Kreativität und Nähe zur Natur.

Aber eben nicht nur. Die Waldorfschulen beruhen alle, ausnahmslos, auf anthroposophischem Denken. Wie viel davon wirklich in die Lehre einfließt, können wir auch nach monatelangen Recherchen nicht im Einzelnen sagen, denn: Jede Schule ist anders. Und jede Lehrkraft ist anders. Was wir sagen können, ist: Viele Lehrkräfte, die an Waldorfschulen lehren, haben ihre Ausbildung an einem der Waldorf-Institute gemacht. Und wer an einem Waldorf-Seminar aus- oder weitergebildet wurde, hat wahrscheinlich eine anthroposophische Grundbildung erhalten, die in Teilen mit den Standards moderner Wissenschaft nicht vereinbar ist.

So erinnern sich 17 Prozent der Waldorf-Absolvent:innen laut einer Studie aus dem Jahr 2006 noch daran, die von Rudolf Steiner vertretene Atlantis-Lehre im Unterricht behandelt zu haben. Die Lehre geht davon aus, dass die Menschheit von Atlantis abstammt, einer Insel, die nach den Angaben Rudolf Steiners im nördlichen Atlantik zwischen dem heutigen Europa und Amerika lag. Nur ist Atlantis eben ein Mythos. Kein geschichtlicher Fakt.


Redaktion: Lisa McMinn, Esther Göbel, Thembi Wolf; Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audiversion: Iris Hochberger

So esoterisch ist die Ausbildung zur Waldorf-Lehrkraft

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