Am 17. November 2021 veröffentlicht der Journalist Daniel Erk ein Interview mit dem Blogger Oliver Rautenberg im Tagesspiegel. Rautenberg gilt als der lauteste Kritiker von Rudolf Steiner, dessen Weltanschauung, der Anthroposophie, und Waldorfschulen. Seit rund zehn Jahren schreibt Rautenberg darüber in seinem Blog. Kurz vor Mitternacht, Erks Interview ist zu diesem Zeitpunkt lediglich in der Onlineausgabe zu lesen, bekommt Daniel Erk die erste Lesermail: „Guten Tag, man sollte Sie eigentlich verbieten.“
Ein halbes Jahr später, am Abend des 22. Mai (wir recherchieren zu diesem Zeitpunkt seit zwei Wochen ebenfalls zum Thema Waldorfschulen) meldet Daniel Erk sich auf Twitter. Seine Nachricht soll uns warnen: „Ich hatte letzten Winter ein Interview mit Oliver Rautenberg im Tagesspiegel. Da hat sich ziemlich schnell eine Kanzlei aus Bonn gemeldet“, schreibt der Journalist. Er habe in 20 Jahren Journalismus zu keinem anderen Thema derart viele, offenbar koordinierte Leser:innen-Briefe bekommen.
Heute, ein halbes Jahr später, haben wir mit mehreren Journalist:innen, Autor:innen und Wissenschaftler:innen gesprochen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Wir haben auch Oliver Rautenberg direkt gefragt, welche Reaktionen seine Beiträge bei Anthroposoph:innen auslösen. Er sagt: „Ich habe keine Lust, dass die irgendwann mit Fackeln vor meiner Tür stehen.“
Unsere Recherche mit dem ZDF Magazin Royale legt offen, wie der Bund der Freien Waldorfschulen und die Anthroposophische Gesellschaft in Deutschland seit Jahren gegen Kritiker:innen vorgehen. Gegen Autor:innen, die die Anthroposophie kritisieren, wettern sie öffentlich in Artikeln oder lassen dubiose Gutachten erstellen. Wer weiterhin kritisch berichtet, erhält Unterlassungsforderungen. Mit diesen ziehen anthroposophische Verbände notfalls bis vors Gericht.
Was wir als Journalist:innen dürfen – und was nicht
Während der Recherche zum Waldorf-Report haben wir uns deshalb immer wieder selbst hinterfragt: Was dürfen wir als Journalist:innen – und was nicht?
Die Pressefreiheit in Deutschland ist eines der wichtigsten demokratischen Rechte und in Artikel 5 unseres Grundgesetzes festgehalten. Was wir als Journalist:innen wie veröffentlichen dürfen, ist trotzdem immer eine Abwägung. Denn die Pressefreiheit endet für gewöhnlich dort, wo das Persönlichkeitsrecht eines Menschen beginnt. Die zentrale Frage lautet: Welches berechtigte Interesse hat die Allgemeinheit an einer Information?
Als Journalist:innen sind wir deshalb verpflichtet, Informationen nur dann zu verbreiten, wenn wir vorher deren Wahrheitsgehalt genau geprüft haben. Das ist Teil der redaktionellen Sorgfaltspflicht. Sie beinhaltet auch die Konfrontation der beschuldigten Seite mit den jeweils recherchierten Vorwürfen. Damit niemand verunglimpft wird, egal wie schwer die Vorwürfe wiegen, sollten Journalist:innen der anderen Seite die Möglichkeit geben, konkret zu den jeweiligen Vorwürfen Stellung zu beziehen.
Wir bei Krautreporter versuchen deshalb, unseren Rechercheprozess mit dem ZDF Magazin Royale für euch möglichst transparent zu machen. Wenn wir uns Quellen bedient haben, die öffentlich zugänglich sind, verlinken wir sie.
Nach den Veröffentlichungen der ersten beiden Krautreporter-Artikel zu Waldorfschulen erreichten uns die ersten Mails von Leser:innen. Sie warfen uns unter anderem vor, Waldorfschulen zu „dämonisieren“ und gegen sie zu „hetzen“. Sie fragten: Warum berichtet ihr ausgerechnet so kritisch über Waldorfschulen, wenn es doch im öffentlichen Schulsystem genauso viel zu kritisieren gibt?
Was hinter Waldorfschulen steckt, ist nur eines von vielen Themen, denen sich unser Bildungsreporter Bent Freiwald widmet. Wenn du seine nächste Recherche nicht verpassen möchtest, abonniere seinen Newsletter The Kids Are Alright.
Mit dieser Frage haben sie recht. Das gibt es. Deshalb kritisieren wir das öffentliche Schulsystem bei Krautreporter auch seit Jahren: den Notendruck, die Prüfungskultur oder das Fehlen von staatlichen Onlineschulen. Und natürlich lassen sich Missstände auf der einen Seite nicht mit jenen einer anderen Seite wegargumentieren. Es ist die Aufgabe von Journalist:innen, Missstände aufzudecken – egal auf welcher Seite. Das gilt für Waldorfschulen wie für öffentliche Schulen.
Von AfD bis Kachelmann: Wer gegen Journalist:innen vorgeht
Immer wieder kommt es dazu, dass Menschen oder Institutionen, über die berichtet wird, gegen diese Berichterstattung vorgehen. Manchmal mit Erfolg.
Erinnerst du dich an den Fall Kachelmann? Der ehemalige Wettermoderator Jörg Kachelmann hatte 2016 einen jahrelangen Rechtsstreit gegen den Springer-Verlag gewonnen. Das Kölner Oberlandesgericht entschied damals, dass die Bild-Zeitung Kachelmanns Persönlichkeitsrechte schwer verletzt habe – unter anderem indem sie Details aus seinem Intimleben wie private E-Mails veröffentlichte – und verurteilte den Verlag zu einer Entschädigungszahlung. Kachelmann war 2010 von einer Ex-Geliebten wegen Vergewaltigung angeklagt worden, wurde aber 2011 freigesprochen.
Die Tagesschau musste 2021 eine Berichterstattung über die AfD richtigstellen. In dem Bericht entstand der Eindruck, die AfD habe gegen Fluthilfefonds nach dem Hochwasser in NRW und Rheinland-Pfalz 2021gestimmt, was verkürzt dargestellt und somit nicht korrekt war.
Unterlassungsforderungen haben aber nicht immer Erfolg. Die AfD-Politikerin Alice Weidel forderte 2017 die NDR-Satiresendung „Extra 3“ zu einer Unterlassungserklärung auf. In der Sendung war Weidel als „Nazi-Schlampe“ bezeichnet worden. Das Landgericht Hamburg lehnte ihre Forderung in allen Punkten ab.
„Ich habe es mit einer großen, alten, gut organisierten Sekte zu tun“
Unterlassungsforderungen hat auch der Bund Freier Waldorfschulen schon mehrfach verschickt. Die Politikerin und Soziologin Jutta Ditfurth hat zwar keine erhalten, doch sie sagt: „Die Gegenwehr der Anthroposoph:innen beginnt viel früher als mit einem Schreiben vom Anwalt.“
Ditfurth war eine der ersten, die die Anthroposophie und Rudolf Steiner öffentlichkeitswirksam anging. 1992 erschien ihr Buch „Feuer in die Herzen – Gegen die Entwertung des Menschen“, in dem sie von rassistischen und antisemitischen Aussagen des Anthroposophie-Begründers Rudolf Steiner berichtete.
Die Jahre nach der Veröffentlichung beschreibt sie heute als „Krieg der Anthroposophen gegen mich“. Im Gespräch erzählt sie uns von einer Lesung im Hamburger Thalia Theater, während der Menschen im Publikum angefangen haben sollen zu randalieren und dazwischenzurufen. Der Intendant habe das Publikum beruhigen müssen. In den 1990er Jahren sei sie während Zugfahrten immer wieder angesprochen worden. Es seien Männer auf sie zugekommen und hätten ihr Prügel angedroht, wenn sie ihre Aussagen über Rudolf Steiner nicht zurückziehe. Ditfurth sagt heute: „Mir war schnell klar, ich habe es mit einer großen, alten, gut organisierten Sekte zu tun.“
Während der Recherche stießen wir auch auf einen alten Zeitungsartikel in der Taz aus dem Jahr 2000. Der Autor Arno Frank zeigte damals: Seit den 90er Jahren wehren sich anthroposophische Verbände immer wieder gegen Berichterstattung über sie. Zum Beispiel, als ein MDR-Redakteur 1996 für das Magazin „Fakt“ über „ungewöhnliche Disziplinierungsmaßnahmen“ an einer Waldorfschule recherchiert hatte. Zu Frank soll dieser Redakteur damals gesagt haben: „Schon vor der Ausstrahlung waren Gremien wie der Rundfunkrat involviert, es gab Briefe an Fernsehdirektoren vom Westdeutschen bis zum Saarländischen Rundfunk. Die Dreharbeiten habe ich fortgesetzt, aber keinen O-Ton mehr von Anthroposophen bekommen. Stattdessen Dutzende von Briefen und Beschimpfungen.“
„Natürlich schüchtert das Journalisten ein“
Im Jahr 2000 veröffentlichte der SWR zwei „Report Mainz“-Sendungen über Waldorfschulen. In einer ging es um antisemitische Vorfälle an Waldorfschulen, in der anderen um das Buch „Atlantis und das Rätsel der Eiszeitkunst“, welches der damalige Waldorflehrer Ernst Uehli verfasst hatte, und das auf der Literaturliste für Waldorf-Lehrkräfte zur Vorbereitung auf den Geschichtsunterricht gestanden haben soll. Das Buch strotzt vor Rassismus.
Der Redaktionsleiter der Sendung, Fritz Frey, berichtete der Taz im August 2000: „Der Bund der Freien Waldorfschulen überzog uns nach einer früheren Sendung […] mit einer Vielzahl von Gerichtsverfahren, Gegendarstellungsbegehren und Unterlassungsansprüchen. Sie nutzen alle ihnen zur Verfügung stehenden Mittel, um die eigenen Interessen durchzusetzen, so etwa hunderte von Faxen und Briefen an die Redaktion.“ Alle Gegendarstellungs- und Unterlassungsbegehren wurden laut dem Bericht vom Landgericht Frankfurt und vom Oberlandesgericht Stuttgart zurückgewiesen.
Sechs Jahre später veröffentlichte der SWR mehrere Beiträge, die Missstände im System Waldorf aufdeckten. Der Autor der Sendungen, Dietrich Krauß, ist heute Redakteur der ZDF-Satiresendung „Die Anstalt“ und wurde in der Zwischenzeit mit dem Grimme-Preis und dem Deutschen Fernsehpreis ausgezeichnet. Im Jahr 2006 meldete sich noch während der Dreharbeiten der Rechtsanwalt des Waldorfverbandes, schrieb an den Landesfunkhausdirektor und versuchte so, Einfluss zu nehmen auf den Film.
Nach der Sendung kamen die Anwaltsschreiben. Der Streit endete mit einem Vergleich: Der SWR verzichtete auf die Wiederholung eines „Ländersache“-Beitrags zum Thema „Gewalt an Waldorfschulen“, eine „Betrifft“-Sendung durfte weiterhin ausgestrahlt werden. Dietrich Krauß sagt: „Natürlich schüchtert das Journalisten ein. Das macht so viel Arbeit, da lässt du das vielleicht irgendwann lieber sein.“
Immer wieder hatte Krauß damals mit Thekla Walker zu tun, der damaligen Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des Bundes der Freien Waldorfschulen. Seit Mai 2021 ist Walker Ministerin für Umwelt, Klima und Energiewirtschaft in Baden-Württemberg.
Auch heute noch beschäftigt Dietrich Krauss sich mit der Anthroposophie Rudolf Steiners. In einem gemeinsamen Podcast der Heinrich Böll Stiftung und der Petra Kelly Stiftung kritisiert er kürzlich unter anderem die anthroposophische Heilpädagogik und Sozialtherapie. Die Anthroposophische Gesellschaft schickte nach der Veröffentlichung des Podcast zwar kein Anwaltsschreiben, aber einen dreiseitigen Brief an die Heinrich Böll Stiftung. Einzelne Aussagen, die Krauss im Podcast geäußert hat, nennt die Gesellschaft in ihrem Brief „falsch, diffamierend und perfide“. Und sie bitten: „Lassen Sie uns […] keine weiteren Feindbilder aufbauen!“ Die Heinrich Böll Stiftung nahm den Podcast als Reaktion auf das Schreiben tatsächlich offline.
„Da überlegt man es sich zweimal, ob man da wirklich zu forschen möchte“
Unsere Recherchen zeigen, dass Anthroposoph:innen nicht nur Journalist:innen einschüchtern, sondern auch gegen Wissenschaftler:innen vorgehen, die sich kritisch mit ihrer Weltanschauung auseinandersetzen. Der Religionswissenschaftler Helmut Zander, der mehrere Bücher über Anthroposophie geschrieben hat, bekam immer wieder Post, wenn er sich öffentlich äußerte. In einem Spiegel-Beitrag habe er Rudolf Steiner, den Begründer der Anthroposophie, sinnentstellend kommentiert, so lautete der Vorwurf von Anthroposoph:innen. „Es gab den Versuch, meine Habilitationsschrift vom Markt zu klagen“, sagt Zander.
Zander erinnert sich an die damalige Argumentation. Er sagt, Anthroposoph:innen hätten ihn kritisiert, unwissenschaftlich zu arbeiten, da wissenschaftliche Arbeit voraussetze, die Position des Untersuchten nachzuvollziehen. Die Position Rudolf Steiners sei die Position einer höheren Erkenntnis, also des Hellsehens. Da Zander nicht bereit war, diese Position anzunehmen, sei seine Arbeit unwissenschaftlich.
Die Erziehungswissenschaftlerin Ann-Kathrin Hoffmann, unter anderem als wissenschaftliche Hilfskraft an der Fernuniversität Hagen tätig, forscht seit 2018 zu Anthroposophie und Waldorfschulen und sagt: „Natürlich bekommen Wissenschaftler:innen mit, wenn der Bund der Freien Waldorfschulen Kritiker:innen persönliches Eiferertum vorwirft und bisweilen sogar von anthroposophischer Seite gegen sie geklagt wird. Und natürlich schreckt das ab. Da überlegt man es sich zweimal, ob man da wirklich zu forschen möchte.“
Ist die Presse für Anthroposoph:innen ein Feind?
Nun könnte man meinen, all das seien Einzelfälle. Doch dass die Anthroposophische Gesellschaft und der Bund Freier Waldorfschulen ein grundsätzliches Problem mit freier Berichterstattung haben, belegen sie mit Aussagen in ihren eigenen Publikationen.
Henning Kullak-Ublick, ehemaliger Sprecher des Bundes der Freien Waldorfschulen, beschwerte sich im November 2019 im hauseigenen Magazin „Erziehungskunst“ über Journalisten des RBB-Magazins „Kontraste“:
„Am Tag nach unserem Festival [zum 100. Geburtstag der Waldorfschulen, Anm. d. Redaktion] im Berliner Tempodrom musste ich mich vor laufender Kamera einem knapp zweistündigen Kreuzverhör – Interview würde die Sache nicht treffen – von zwei Redakteuren des Magazins ‚Kontraste‘ stellen, das mit einem an Tatsachen orientierten Journalismus nichts mehr zu tun hatte. Das erkennbar einzige Ziel war, mich einer Lüge zu überführen, um dann die mediale Falle zuschnappen zu lassen.“
Kritiker, schreibt Kullak-Ublick, hörten sich „manchmal einfach nur selbst in ihrer ideologischen Echokammer“. Die Fragen, die die Journalist:innen ihm gestellt hatten, stammten seiner Meinung nach „in Form und Inhalt aus einem zwar kleinen, im Internet aber regen Zirkel radikaler Agnostiker“.
Ein anderes Beispiel: Im Mai 2022 trafen sich 30 im anthroposophischen Umfeld tätige Medienschaffende. Thema: Schlagkraft, innerer Dialog und der Umgang mit Anti-Anthroposophie-Aktivist:innen. In einem Bericht über das Treffen, veröffentlicht auf der Seite des Goetheanums, dem Sitz der Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft, wird eine Mitorganisatorin des Treffens zitiert: „Journalistinnen und Filmer werden losgeschickt, um eine bestimmte Story zu holen. Die Interviews dienten häufig dazu, eine feststehende Botschaft zu bestätigen. Das bedeute, dass ausführliche informelle Gespräche mit Journalisten heikel sind.“
Die heutige Pressesprecherin des Bundes der Freien Waldorfschulen, Nele Auschra, schreibt in einer 2021 veröffentlichten Pressemitteilung über die „aktuelle Welle von Falschmeldungen“ über Waldorfschulen und Anthroposophie im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie, sie seien „abenteuerlich und an den Haaren herbeigezogen“. Journalist:innen würden leider allzu oft falsche Darstellungen abschreiben: „Zu den Motiven kann ich nur mutmaßen.“
Und heute?
In der aktuellen Ausgabe des anthroposophischen Info3-Magazins heißt es: „Was zunächst als eine Vielzahl einzelner Angriffe erschien, wirkt zunehmend wie eine gut koordinierte Aktion mit klaren Motiven.“ Und weiter: „Aber es handelt sich doch um eine tiefgreifende Auseinandersetzung, die man durchaus als Kultur- oder Geistes-Kampf bezeichnen kann und die nicht im Internet bleibt, sondern von dort in Leitmedien, öffentlich-rechtliche Fernsehsendungen und Politik schwappt.“
Die Zitate stammen aus einem Artikel mit der Überschrift „Materialismus contra Anthroposophie – Wer ist Rautenberg?“
„Immer wieder sind subtile Drohungen dabei, auch subtile Todesdrohungen“
Oliver Rautenberg betreibt seit 2013 die Seite „Anthroposophie.blog“, mit der er 2021 für den Grimme Online Award nominiert war. Rautenberg begann, sich mit der Anthroposophie auseinanderzusetzen, nachdem seine Kinder in einem anthroposophischen Krankenhaus zur Welt kamen. Der Besuch dort kam ihm schon beim ersten Kind merkwürdig vor, es hätte im Haus, wie auch in Waldorfschulen üblich, kaum rechte Winkel gegeben, sagt er. Außerdem keinen Fernseher, kein Radio. In vielen Räumen habe aber das Porträt von Rudolf Steiner an der Wand gehangen. Nach der Geburt des zweiten Kindes begann Rautenberg, sich zu fragen, was es mit den Bildern von Rudolf Steiner und der Anthroposophie eigentlich auf sich hat. „Ich bin aus dem Staunen gar nicht mehr rausgekommen“, sagt er. Also begann er, Blogeinträge zu verfassen.
Weil er heftige Gegenwehr befürchtete, blieb der Blogger im Internet zunächst anonym. Im Jahr 2019 entschied er, sich nicht mehr zu verstecken. Diese Entscheidung veränderte seinen Alltag sofort: „Ich bekomme viele Hassmails. Werde als Faschist beleidigt, als Kommunist. Und immer wieder sind subtile Drohungen dabei, auch subtile Todesdrohungen.“ Entsprechende E-Mails liegen Krautreporter und dem ZDF Magazin Royale vor.
Nachdem Rautenberg jahrelang von einzelnen Anthroposoph:innen beleidigt und bedroht worden war, meldete sich der Bund der Freien Waldorfschulen am 15. Dezember 2021 nach dem eingangs erwähnten Interview im Tagesspiegel erstmals per Anwalt. Der Bund beauftragte die Bonner Kanzlei Redeker Sellner Dahs mit einer Unterlassungsverpflichtungserklärung, die auch der Tagesspiegel erhielt. Die Kanzlei gilt als Schwergewicht; sie vertrat schon Ex-Bundespräsident Christian Wulff, Ex-Bundeskanzler Helmut Kohl, das Bundesministerium des Innern und, ja, auch das ZDF im Streit um das Gedicht von Jan Böhmermann über den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan.
Im Schreiben heißt es, Rautenberg solle nicht mehr verbreiten, „die Anthroposophie wende sich gegen Impfungen.“ Darüber hinaus solle er nicht behaupten oder verbreiten, „im Goetheanum in Dornach in der Schweiz werde die Auffassung vertreten, dass die Menschen die Schreie der gequälten Tiere über die Luft aufnehmen und einatmen würden – und dadurch würden in der Pandemie dann Viren entstehen.“
Weder der Tagesspiegel noch Rautenberg haben die Unterlassungsverpflichtungserklärung unterschrieben. Rautenberg sagt: „Das ist fast Geschichtsverzerrung. Ich habe Belege für diese Aussagen.“ Der Bund der Freien Waldorfschulen hat sich seitdem nicht nochmal bei ihm gemeldet.
Der Bund der Freien Waldorfschulen gibt ein dubioses Gutachten in Auftrag
Im Februar 2022 schlugen die Anthroposophische Gesellschaft in Deutschland und der Bund der Freien Waldorfschulen einen anderen Weg ein und engagierten den Leiter des Instituts für Verbraucherjournalismus, Christoph Fasel, für ein Gutachten über Rautenbergs Äußerungen. Als wir in einem Newsletter ankündigten, uns für ein Hintergrundgespräch mit Rautenberg zu treffen, meldete sich Fasel persönlich bei uns und warnte vor Rautenberg als Quelle. Sein Gutachten schickte er gleich mit. Dort bilanzierte er, Rautenberg sei keine seriöse Quelle und er würde „sogar fragwürdige Tatsachenbehauptungen“ aufstellen und verbreiten.
Der Journalist Stefan Niggemeier vom Medienmagazin Übermedien hat sich das Gutachten genauer angeschaut. Er sagt: „Das Gutachten ist in Wahrheit nur ein notdürftig aufgeblasenes Auftrags-Pamphlet gegen einen lästigen Kritiker. Es erfüllt nicht einmal grundlegendste wissenschaftliche Ansprüche.“ Er hat herausgefunden: Der Gutachter Christoph Fasel gibt Waldorfschulen Tipps, wie sie sich gegen Angriffe „professionell publizistisch und juristisch wehren können“ und wird von dem Bund der Freien Waldorfschulen als Berater für Krisen-PR bezahlt. „Und dann zieht er seinen Berater-Anzug aus, legt sich einen Wissenschaftler-Kittel um und liefert ihr ein scheinwissenschaftliches Gefälligkeitsgutachten“, sagt Niggemeier.
Das Gutachten verbreitet die Anthroposophische Gesellschaft trotzdem, unter dem Titel „Vorsicht vor unprofessionellen Quellen!“
Die Anthroposophische Gesellschaft zieht gegen Rautenberg vor Gericht
Dass die Anthroposophische Gesellschaft nicht lockerlässt, zeigt ein aktueller Fall, der vor Gericht gelandet ist. Im Dezember 2021 war Rautenberg in der Sendung „Possoch klärt“ auf dem Youtube-Kanal des Bayerischen Rundfunks zugeschaltet. Der Moderator sagte in dieser Sendung: „Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurden […] viele anthroposophische Organisationen verboten. […] Das hat uns Oliver Rautenberg erklärt.“
Daraufhin verschickte die Anthroposophische Gesellschaft eine Unterlassungsverpflichtungserklärung – an Rautenberg, wieder durch die Kanzlei Redeker Sellner Dahs. Die anthroposophischen Organisationen seien bereits zu Beginn des Zweiten Weltkrieges verboten worden, heißt es darin. Im Januar 2023 muss Rautenberg sich vor dem Landgericht Hamburg verteidigen.
„Natürlich schwingt die Sorge mit, dass mir am Ende doch Unrecht gegeben wird und ich auf den Kosten sitzen bleibe“, sagt Rautenberg. „Das kann ich mir nicht leisten, ich bin kein von zig Institutionen getragener Verein.“ Der Streitwert beläuft sich auf 25.000 Euro.
Trotzdem wehrt auch Rautenberg sich nun. Er hat dem anthroposophischen Magazin Info3 eine Unterlassungsforderung geschickt, weil das Bild, das sie nutzen, sein privates ist. Mit Erfolg. Die Verbreitung des Bildes wird eingestellt.
Neben dem Verfahren gegen Rautenberg gab es in den Jahren 2020 bis 2022 allein beim Landgericht Hamburg noch drei weitere, in denen der Bund der Freien Waldorfschulen gegen öffentliche Äußerungen vorging. Das teilte das Gericht uns auf Anfrage mit. Gegen wen, ist Krautreporter nicht bekannt. Zum Schutz der Betroffenen gibt das Landgericht dazu keine Auskunft.
„Ich muss alles tun, um meine Familie und mich zu schützen“
Unsere Gespräche mit abgemahnten Journalist:innen und Wissenschaftler:innen haben unsere Arbeit verändert. Dass wir jede Aussage in unseren Artikeln belegen müssen und auf ihren Wahrheitsgehalt überprüfen, ist Alltag. Vor der Veröffentlichung unseres Waldorf-Reports aber prüften wir noch intensiver. Wir lasen jeden einzelnen Satz noch einmal mit der Frage im Kopf: Könnten wir diese Aussage auch vor Gericht belegen?
Oliver Rautenberg sagt, er sei nicht ängstlich, aber belastet. Die Hassmails seien in kleinen Dosen mehr geworden, deshalb habe er sich daran gewöhnt. „Aber meine Familie soll damit nichts zu tun haben. Ich werde meine Familie und mich schützen.“
Für den nächsten Teil der Serie haben Bent und Leoni recherchiert, welche obskuren Dinge angehende Waldorfslehrkräfte in der Ausbildung lernen. Hier kannst du den Text lesen.
Redaktion: Lisa McMinn, Thembi Wolf, Esther Göbel; Schlussredaktion: Susan Mücke; Bildredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Christian Melchert
Wir haben am 23. November 2022 um 11.45 Uhr eine Änderung im Text vorgenommen, nachdem sich das Oberlandesgericht Hamburg bei uns gemeldet hat, um einen Fehler zu korrigieren, der ihnen unterlaufen war: In den Jahren 2021 und 2022 gab es am Landgericht Hamburg je ein Verfahren unter Beteiligung des Vereins Bund der freien Waldorfschulen e.V. und ein weiteres Verfahren unter Beteiligung des Vereins Anthroposophische Gesellschaft. Das vierte Verfahren in dem Zusammenhang stammt aus dem Jahr 2020 und nicht, wie zuvor beschrieben, aus dem Jahr 2021.