Ein Abend im Mai 2002. Laut einem Bericht des Magazins „Zeit Verbrechen“ ruft der Waldorflehrer Andreas S. die Mutter von Marita an. Die damals Neunjährige ist nicht nur Schülerin von S. an einer Waldorfschule in Schwäbisch Hall, sie tritt auch in dem von ihm gegründeten Kinderzirkus Compostelli auf. Sie kann besonders gut Einrad fahren. An diesem Abend soll Andreas S. am Telefon zu Maritas Mutter gesagt haben, sie müsse Marita und ihre Freundin nicht abholen. Die Aufräumarbeiten im Zirkus dauerten länger, die Kinder könnten bei ihm übernachten. In dieser Nacht soll Andreas S. Marita missbraucht haben.
Der Fall ist mittlerweile verjährt – doch so berichtet es die Journalistin Madeleine Londene im Oktober 2022 im Magazin „Zeit Verbrechen“. Sie hat den Prozess gegen den ehemaligen und mittlerweile wegen eines anderen Falles verurteilten Waldorf-Lehrer Andreas S. begleitet.
Marita erzählt, laut „Zeit Verbrechen“, anschließend nur ihrer Schwester von dem mutmaßlichen Missbrauch. Ihre Eltern erfahren nicht, was passiert ist. Ihre Klassenkamerad:innen sollen auch nichts wissen. Sie sollen keine Geschichten über sie erzählen, ihre Noten sollen nicht leiden. Andreas S. war schließlich ihr Lehrer.
Im August 2020, 18 Jahre später, wohnt Marita, mittlerweile Ende 20, in Berlin-Weißensee. Von ihrer besten Freundin erfährt sie von einem Zeitungsartikel über einen Waldorflehrer in Schwäbisch Hall, der sich an zwei Schüler:innen, acht und zehn Jahre alt, vergriffen haben soll. Der Prozess beginnt im Februar 2021, es wird nach weiteren Opfern gesucht. Marita meldet sich bei der Polizei. Auch andere Mädchen und Frauen sagen gegen S. aus. Wie viele genau es sind, ist unklar. Am Ende berichtet die Polizei von einer „zweistelligen Zahl“.
Die Journalistin der Zeit zitiert Andreas S.’ Strafverteidiger Andreas Kugel: „Die Waldorfschule ist ein System, das derartige Übergriffe und Vorfälle begünstigt. (…) Viele andere tragen Mitverantwortung bei dem, was passiert ist. Es wurden offensichtlich Dinge bewusst ignoriert, besonders von Kollegen und Eltern.“
In den vergangenen Monaten haben wir gemeinsam mit den Kolleg:innen vom ZDF Magazin Royale recherchiert. Das Ergebnis ist der Waldorf-Report. Dafür haben wir unter anderem etliche Fälle von Gewalt und Übergriffen an Waldorfschulen analysiert. Unsere Recherche zeigt: Das System Waldorfschule kann es Täter:innen offenbar erleichtern, unentdeckt zu bleiben. In diesem Text werden wir zeigen, warum das so ist. Zwei Dinge aber lassen sich vorwegnehmen: An den Schulen, über die wir berichten, gab es kaum interne, funktionierende Kontrollmechanismen. Dadurch handelte der Staat erst, als es zu spät war.
Der Fall Weimar: Kopfnüsse und Kinnhaken?
Der wohl bekannteste Fall von mutmaßlicher Gewalt an deutschen Waldorfschulen der vergangenen Jahre betrifft die Waldorfschule in Weimar. Über einen Zeitraum von mindestens 15 Jahren sollen zahlreiche Lehrkräfte dort zahlreiche Schüler:innen körperlich und psychisch gedemütigt haben.
Im Jahr 2010 wandte sich der Elternrat der Schule erstmals mit einem Schreiben an den Schulvorstand. Darin steht, den Eltern sei zu Ohren gekommen, dass Pädagog:innen ihrer Schule „Kinder derbe festgehalten, Köpfnüsse verteilt, an den Ohren gezogen, beschimpft haben.“
Aufgearbeitet wurden diese Vorwürfe damals nicht. Doch einige Eltern berichteten später von weiteren mutmaßlichen Vorfällen. Im Jahr 2018 tauschten die Eltern sich klassenübergreifend aus und bemerkten, dass es sich dabei nicht um Einzelfälle handelt. „Auf einmal wurden wir uns gewahr, dass wir es mit institutionalisierter Gewalt zu tun haben“, schreibt Michael Hasenbeck auf seinem Blog Waldorf-Elternhilfe Weimar. Hasenbeck ist einer der Kritiker des Schulvorstandes und selbst aus dem Waldorf-Verein Weimar ausgeschlossen worden.
Ende 2019 haben die Eltern schließlich einen Offenen Brief geschrieben, der die Anschuldigungen öffentlich machte und die Schule zum Handeln zwang. In dem Schreiben beschuldigen die Unterzeichner:innen insgesamt elf Lehrkräfte, fünf davon waren zu diesem Zeitpunkt noch an der Schule beschäftigt. Die Anschuldigungen reichen von „am Arm über den Schulhof gezerrt werden“ bis zu „Kinnhaken mit blutigen Lippen“.
Kurz darauf meldeten sich auch ehemalige Schüler:innen zu Wort. In einem Offenen Brief schreiben sie 2020: „Von Anfang unserer Schulzeit im Jahre 2006 an kam es immer wieder zu gewalttätigen Übergriffen seitens bestimmter Lehrkräfte. Dazu zählen unter anderem starkes Anpacken, das Drücken an die Wand, das Ausdrücken von Schwämmen über dem Kopf der Schüler:innen, das Werfen von Kreide nach Schüler:innen sowie das in den Schwitzkasten-Nehmen von Schüler:innen und andere tätliche Angriffe auf Schüler:innen wie Schläge auf den Kopf, Nacken und in das Gesicht.“
43 ehemalige Schüler:innen haben diesen Brief unterzeichnet.
Einige Eltern schalteten 2019 die Leiterin des Kinder- und Jugendschutzdienstes Känguru, Annette Görg, als Beraterin ein. Im Interview mit der Zeit sagt sie später, es sei nicht das erste Mal gewesen, dass sie von den Missständen gehört habe. Sie sei vorher schon Hinweisen von Kindern nachgegangen, aber „in vielen Fällen waren die Eltern sehr überzeugt von der Schule und den Pädagogen. Sie betrachteten die Schule als einen idealen Ort, als eine heile Welt und zweifelten das Handeln der Lehrenden nicht an.“ Die betroffenen Schüler:innen seien den Lehrkräften häufig komplett ausgeliefert gewesen und „haben die Schule als ein geschlossenes System erlebt, in dem es schwierig ist, Probleme zu benennen und Unterstützung zu finden.“
Wir haben Annette Görg im Laufe dieser Recherche kontaktiert. Die Beraterin hat ihre Aussagen von damals bestätigt, möchte aber keine neuen hinzufügen.
„Warum wechseln diese Menschen nicht einfach an eine andere Schule?“
Die Schulführung hat für den Offenen Brief der Eltern nur wenig Verständnis gezeigt. In einem internen Schreiben der Schulleitung an den Schulverein vom Februar 2021, das Krautreporter vorliegt, heißt es: „Es stellt sich die Frage, warum diese Menschen nicht einfach an eine andere Schule wechseln?“ „Warum sie nicht dankbar sind für die guten Abschlüsse ihrer Kinder?“ Außerdem wirft die Schulführung den Eltern in dem Schreiben vor: „Seit Monaten werden wir durch ein Netzwerk aus Intrigen, Gefälligkeiten, Verbandelungen wie die sprichwörtliche ‚Sau‘ durchs Dorf getrieben, bedroht, verspottet und genötigt. Nichts ist ausreichend, um sie zufriedenzustellen.“
Auch weitere Versuche der Eltern, die Aufarbeitung der Fälle voranzubringen, seien laut Aussagen dieser Eltern abgelehnt worden. In ihrem Offenen Brief schreiben sie, dass sowohl der Vorschlag, eine vom Schulverein unabhängige Schulsozialarbeit einzuführen, als auch ein Bekenntnis zu gewaltfreier Erziehung durch den Vorstand des Schulvereins zunächst abgelehnt worden seien. Die Begründung: „Es bedarf nicht der Prüfung einer Einführung der Sozialarbeit an unserer Schule, weil diese per se Teil der Waldorfpädagogik ist.“ So zitieren die Eltern den Vorstand.
Was hinter Waldorfschulen steckt, ist nur eines von vielen Themen, denen sich unser Bildungsreporter Bent Freiwald widmet. Wenn du seine nächste Recherche nicht verpassen möchtest, abonniere seinen Newsletter „The Kids Are Alright“.
Bei der Schlichtung geholfen hätte womöglich ein Organ, das es in Weimar damals nicht gab: eine Schulkonferenz. Dieses Organ besteht aus Vertreter:innen der Schülerschaft, des Lehrerkollegiums und der Eltern. Seit 2003 schreibt das Land Thüringen jeder Schule die Einrichtung einer solchen Konferenz vor. Heute hat die Schule eine solche Schulkonferenz – allerdings erst seit 2021.
Denn nach der Veröffentlichung des Elternbriefes im Jahr 2019 schaltete sich auch das Schulamt Mittelthüringen ein. 2020 leitete es eine schulaufsichtliche Prüfung ein. Der Sprecher des Kultusministeriums, Felix Knothe, sagte der Zeit, dass die ersten Überprüfungen „deutliche Missstände“ ergeben hätten. „Die Schwere der Vorwürfe war außergewöhnlich.“
Das Schulamt setzte der Schule eine Frist bis März 2021, um ein Konzept zur Eltern- und Schülerbeteiligung und zur Gewaltprävention zu erstellen sowie eine Eltern-Schüler-Konferenz zu etablieren. Der Staat hätte der Schule sonst notfalls die Genehmigung entziehen können.
Felix Knothe teilt uns auf Nachfrage mit, dass die Schule diesen Anforderungen rechtzeitig nachgekommen sei. Der Abschlussbericht zur schulaufsichtlichen Prüfung ist allerdings öffentlich nicht zugänglich.
Auch der Bund der Freien Waldorfschulen drohte zwischenzeitlich mit einem Ausschluss der Schule und stellte ähnliche Bedingungen. Anfang 2022 stellte der Bund der Freien Waldorfschulen das Ausschlussverfahren ein, nachdem die Schule auch diese Bedingungen erfüllt hatte.
Der Fall Schwäbisch Hall: Ein Lehrer filmt Schülerinnen in den Ausschnitt
Während die Waldorfschule in Weimar die Vorfälle in ihrer Schule aufarbeitete, kam es in Schwäbisch Hall 2021 zur Anklage gegen Andreas S. Ein Sozialarbeiter hatte den Missbrauch durch den ehemaligen Waldorf-Lehrer gemeldet, nachdem zwei Schülerinnen, acht und zehn Jahre alt, sich ihm anvertraut hatten.
Doch während der Recherche ist die Journalistin Madeleine Londene auf weitere mutmaßliche Übergriffe an der Schule gestoßen: von Wutausbrüchen, bei denen eine Schülerin zu Boden geschmissen worden sein soll, bis hin zu Fällen, in denen Kinder zum Essen gezwungen oder an Tischbeine festgebunden worden sein sollen. Die heutige Geschäftsführung sagt uns auf Nachfrage, es handele sich dabei um Verdachtsäußerungen, die mithilfe der zuständigen Schulaufsichtsbehörde aufgearbeitet werden.
Madeleine Londene sprach für ihren Artikel auch mit dem damaligen Schulleiter Fabian Stoermer. Stoermer, der 15 Jahre lang Direktor der Schule war, sagte der Journalistin, er habe während seiner gesamten Schulzeit von keinem einzigen Übergriff etwas mitbekommen. Deshalb habe er auch nichts unternommen.
Was ihm allerdings bekannt war – das gab er gegenüber der Journalistin zu – war, dass Andreas S. Schüler:innen heimlich mit einer Stiftkamera in den Ausschnitt und unter den Rock filmte. Warum der Schulleiter nichts dagegen unternommen hat, fragt die Journalistin in ihrem Bericht nicht. Fest steht: Als die Polizei das Haus des Beschuldigten nach den Vorwürfen durchsuchte, fanden sie dort nicht nur die entsprechenden Aufnahmen, sondern auch Videos von nackten Mädchen auf Ausflügen, Gartenfesten und bei Zirkusproben – und eine große Menge Aufnahmen sexualisierter Gewalt an Kindern.
Die meisten Vorwürfe gegen Andreas S. sind mittlerweile verjährt. Vor Gericht gestand er schließlich, die acht- und zehnjährigen Mädchen missbraucht zu haben. Das Urteil: dreieinhalb Jahre Haft.
Kommt es an Waldorfschulen häufiger zu Gewalt?
Während unserer Recherche fanden wir noch weitere Fälle, in denen Lehrkräfte mutmaßlich übergriffig gewesen sein sollen. Der Stern berichtete 2008 über die Waldorfschule in Hamburg-Wandsbek. Lehrer sollen dort Schüler:innen mutmaßlich Ohrfeigen verpasst und Haarbüschel ausgerissen haben. Auch Eltern von Waldorfschüler:innen in Jena berichteten im Jahr 2011 von körperlichen Übergriffen. Und im selben Jahr soll ein Lehrer der Waldorfschule Kassel wegen einer Ohrfeige abgemahnt worden sein. In Gera soll Berichten der Welt zufolge 2012 ein unpünktlicher Schüler gegen die Wand geschlagen worden sein. In Münster soll ein Lehrer 2015 eine Schülerin geohrfeigt haben. 2016 berichtete die Stuttgarter Zeitung über einen ehemaligen Lehrer der Waldorfschule Uhlandshöhe in Stuttgart, der über Jahre hinweg Schüler:innen misshandelt haben soll.
Wir haben uns gefragt: Kommt es an Waldorfschulen häufiger zu gewalttätigen Übergriffen als an anderen Schulen?
Im Laufe der Recherche stießen wir auf einen Artikel der Süddeutschen Zeitung aus dem Jahr 2010. An Waldorfschulen werde häufiger zugeschlagen, hieß es dort, das zeige eine Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen. Als wir einen der Autoren der Studie, Christian Pfeiffer, anrufen und nachfragen, sagt dieser allerdings: „Die Studie wurde in den Medien völlig falsch dargestellt. Dass es an Waldorfschulen häufiger zu Gewalt kommt, konnten wir nicht bestätigen.“
Für die These, an Waldorfschulen komme es häufiger zu Gewalt, gibt es also keine Belege. Trotzdem sprechen Schüler:innen und Eltern immer wieder davon, die Probleme an Waldorfschulen seien systematisch. Ist das so? Wie kann es sein, dass Gewalt von Lehrern und sexuelle Übergriffe an Waldorfschulen teils jahrelang folgenlos bleiben?
Das System Waldorf verhindert schnelle Aufklärung
Im Rahmen unserer Recherche haben wir die oben beschriebenen Fälle analysiert. Wir haben fünf Gemeinsamkeiten gefunden, die eine schnelle Aufklärung verhinderten – und auch künftig verhindern können. Denn: Die Strukturen an Waldorfschulen sind weitgehend gleich und unterscheiden sich erheblich von denen an öffentlichen Schulen.
Gemeinsamkeit 1: Die Schulbehörden können nicht eingreifen
Bei privaten Schulen liegt die Verantwortung für die Lehrer:innen in der Regel beim Träger und nicht, wie an öffentlichen Schulen üblich, bei einer Schulbehörde. Bei Waldorfschulen ist der Träger meist ein Verein, dem sowohl Eltern als auch Lehrer:innen angehören. Kontrollen von Schulämtern finden in der Regel nur anlassbezogen statt. Der Bund der Freien Waldorfschulen schreibt auf seiner Homepage: „Als Freie Schulen haben die Waldorfschulen die hierarchisch organisierte Außenlenkung der staatlichen Schulen durch eine freiheitliche Verfassung ersetzt.“
Diese Freiheit führt aber auch dazu, dass die Schulen im Zweifelsfall nur schwer kontrolliert werden können. Als im Raum Kassel 2011 ein Elfjähriger von einem Lehrer an einer Waldorfschule geohrfeigt worden sein soll, erklärte die stellvertretende Leiterin des staatlichen Schulamts, Helga Dietrich, in einem Interview: „Da es sich um eine Privatschule handelt, kann ich dienstrechtlich nicht reagieren. Ich habe über Privatschulen keine Dienstaufsicht.“
Denn: Eine Kündigung gegen eine Lehrkraft aussprechen kann nur der Trägerverein der Schule. Das bedeutet: Die externen Kontrollmechanismen, die für öffentliche Schulen bestehen, greifen schon an dieser Stelle bei Waldorfschulen nicht.
Kommt es zu Grenzüberschreitungen, kann das staatliche Schulamt trotzdem zwei Maßnahmen einleiten: Es kann einer Lehrkraft die Unterrichtsgenehmigung oder der Schule selbst die Genehmigung entziehen. Bis es so weit kommt, ist es aber ein langer Weg. Es können Jahre vergehen, bis die Schulbehörden überhaupt von Übergriffen erfahren, wie die Fälle Schwäbisch Hall und Weimar zeigen.
Nicht einmal der Bund der Freien Waldorfschulen kann in solchen Fällen direkt eingreifen. Nachdem 2015 im nordrhein-westfälischen Minden bekannt wurde, dass ein Lehrer der Waldorfschule rechtsextremes Gedankengut verbreitet haben soll, sagte ein Sprecher der Landesarbeitsgemeinschaft Waldorf NRW dem WDR: „Wir haben keine Möglichkeit, direkt in Arbeitsverträge und Sonstiges von Schulen einzugreifen. Die Schulen sind gemeinnützige Vereine. Die sind von Eltern und Lehrern selbst organisiert und alle Maßnahmen, die da getroffen werden müssen, können und dürfen nur von der Schule getroffen werden.“
Gemeinsamkeit 2: Keine offiziellen Hierarchien
Wie genau Waldorfschulen verwaltet werden, unterscheidet sich im Detail von Schule zu Schule. Üblicherweise gibt es eine Geschäftsführung und einen Vorstand, welcher der Vorstand des Schulvereins ist. Eine Schulleitung, die in öffentlichen Schulen gesetzlich vorgeschriebene Dienstaufgaben übernimmt, gibt es an Waldorfschulen üblicherweise nicht. Manchmal legt das Kollegium Personen fest, die die Schule nach außen hin vertreten. Der Bund der Freien Waldorfschulen schreibt aber: „Die Selbstverwaltung erfolgt durch Eltern und Lehrerinnen und Lehrer gemeinsam.“
Der Autor André Sebastiani schreibt in seinem Buch „Anthroposophie – Eine kurze Kritik“: „Das Fehlen offizieller Hierarchien mit bestimmten Führungspositionen und klaren Ansprechpartnern ist alles andere als eine Garantie dafür, dass es keine Hierarchien gibt. Sie bilden sich nur eben im Geheimen statt transparent entlang der formalen Struktur der Schule. Ehemalige Waldorflehrer berichten häufig von inoffiziellen Machtzirkeln, in denen sich Wortführer aus dem Kollegium, mitunter aber auch einflussreiche Eltern, wiederfinden.“
Auch Annette Görg vom Kinder- und Jugendschutzdienst Känguru, die im Fall Weimar als Beraterin eingesetzt worden war, kritisiert diese Struktur. Im Interview mit der Zeit sagte sie: „Unsere Erfahrung ist, dass alle in sich geschlossenen pädagogischen Systeme besonders gefährdet sind, Gewaltanwendung gegen Schutzbefohlene zu ermöglichen. Der Aufdeckungsprozess für die Betroffenen ist ungleich schwerer, weil Gewaltvorwürfe möglichst nur im internen Kreis geregelt werden.“
Gemeinsamkeit 3: Waldorfschulen können Schüler:innen jederzeit kündigen
Waldorfschulen schließen mit ihren Schüler:innen in der Regel sogenannte Schulverträge ab. Diese basieren meist auf einem Vertrauensverhältnis. In vielen Verträgen findet sich die Formulierung, dass eine der Vertragsparteien den Schulvertrag kündigen kann, wenn sie das Vertrauensverhältnis als „nachhaltig erschüttert“ betrachtet.
Auch in dem Offenen Brief von 2019 schreiben die Eltern an die Waldorfschule in Weimar: „Mit diesem Passus wurde und wird (…) gleichermaßen Kindern wie Eltern nicht nur gedroht, sondern er wird auch umgesetzt. Er entfaltet seine volle Wirkung besonders dann, wenn es nach angesprochenen Problemen mit Lehrern zu Prozessen unter der bei uns üblichen Geheimhaltungsvereinbarung kommt, mit der Begründung des erforderlichen Persönlichkeitsschutzes des Lehrers. Die Eltern können mit niemandem mehr darüber sprechen. Es bleibt ihnen nur, auf einen redlich geführten Prozess zu hoffen.“
Im Laufe unserer Recherche erreichte uns die Mail einer Mutter, die einer Waldorfschule folgenden Vorwurf macht: „Uns wurde ohne haltbare Gründe nach nur acht Wochen der Schulvertrag gekündigt und eine heilpädagogische Sonderschule mit Schwerpunkt geistiger Behinderung empfohlen. Dabei haben wir ein ganz normales Kind, was im Anschluss an einer ganz normalen staatlichen Grundschule wunderbar klarkommt.“
Gemeinsamkeit 4: Die Lehrkraft gilt als unangreifbare Autorität
Lehrer:innen nehmen an Waldorfschulen eine besondere Rolle ein. Während in anderen reformpädagogischen Schulen Lehrkräfte eher zu Lerncoaches werden, die Schüler:innen begleiten sollen, steht die Lehrkraft in der Waldorfschule im Zentrum. Diese Autorität sei „Garant für gelebte Kontinuität in den zwischenmenschlichen Beziehungen“, schreiben die „Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners“ auf ihrer Webseite. Statt auf „Lernprogramme“ setze Waldorfpädagogik auf „die erzieherisch wirksame Lehrerpersönlichkeit“.
In den ersten acht Jahren unterrichten deshalb vorwiegend sogenannte Klassenlehrer:innen ihre Klassen an Waldorfschulen in fast allen Fächern. In der Unter- und Mittelstufe gibt es keine Schulbücher, erst ab der Oberstufe werden diese für den Unterricht genutzt. Bis dahin aber entspringt alles Wissen den Tafelbildern und Erzählungen der Lehrkraft. So können deutlich engere Bindungen zwischen Lehrer:innen und Schüler:innen entstehen – aber auch Machtgefälle, die dafür sorgen, dass Schüler:innen es sich mit dem Klassenlehrer oder der Klassenlehrerin nicht verscherzen wollen. Heiner Ullrich, Autor des Buches „Waldorfpädagogik – eine kritische Einführung“ aus dem Jahr 2015, nennt den Unterricht in der Unterstufe deshalb ein „autokratisches Regime“.
Schüler:innen aus Weimar schreiben in ihrem Offenen Brief zudem, dass Lehrer:innen oftmals auch versuchten, die Rolle eines Erziehungsberechtigten einzunehmen. Sie berichteten von einem Verbot bestimmter Kleidung, Nagellack oder Schminke – und von Hausbesuchen der Klassenlehrer:innen, auch wenn betroffene Kinder vorher äußerten, dass sie keinen Hausbesuch wollten.
Gemeinsamkeit 5: Die Gemeinschaft ist so eng, dass niemand herausstechen will
Wie unter anderem der Fall von Marita in Schwäbisch Hall zeigt, können einzelne Schüler:innen bei Grenzüberschreitungen von Lehrkräften Hemmungen haben, diese öffentlich zu machen – aus Angst vor Ausgrenzung. Die geschilderten Übergriffe an den Waldorfschulen fanden in einer engen Schulgemeinschaft statt.
So sagte beispielsweise eine Schülerin, die damals wusste, dass Andreas S. in Schwäbisch Hall Schüler:innen mit einer Stiftkamera filmte, gegenüber „Zeit Verbrechen“: „Niemand wollte aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden, deshalb hat keiner was gesagt.“ Die Nebenklägervertreterin im Fall Schwäbisch Hall, Tanja Haberzettl-Prach, betonte im selben Bericht, ein derart verwobener Fall sei ihr selten untergekommen. Die Menschen sähen weg und deckten einander.
Ein Weimarer Vater sagte gegenüber der Zeit: „Viele haben hier drei oder vier Kinder an der Schule, manche mehr, da überlegt man sich, ob man so eine Anschuldigung gegen die eine Lehrerin der Tochter vorbringt. Das hat Konsequenzen für die anderen.“
Die Eltern der damals betroffenen Schüler:innen sind bis heute nicht zufrieden mit der Aufarbeitung. In einer Sendung von MDR Investigativ aus dem Jahr 2021 spricht ein Reporter mit Eltern und ehemaligen Schüler:innen. Auch nach der Veröffentlichung des Offenen Briefes der Eltern sei kein Dialog zustande gekommen. Im Gegenteil: Der Trägerverein habe einigen Kindern der unterzeichnenden Eltern die Schulverträge gekündigt.
Wir haben die Schule nochmals um Stellungnahme gebeten. Die heutige Geschäftsführung schreibt, sie habe „wirksame Strukturen entwickelt“, um die „Bedürfnisse im sozialen Miteinander noch besser wahrzunehmen.“ Es gebe unter anderem eine „Feedbackkultur“ und eine Vertrauensstelle, in der bald auch ein Elternteil arbeiten soll. Außerdem arbeite in der Schule jetzt ein Sozialarbeiter.
Wir haben den Bund der Freien Waldorfschulen noch einmal gefragt, wie sie die Schüler:innen in ihren 253 Schulen schützen. Der Bund sagt, dass die Waldorfschulen im Mai 2022 ein für alle Schulen verbindliches Schutzkonzept zur Gewaltprävention beschlossen haben.
Wir gehen bereits neuen Hinweisen nach
In der Woche vor der Veröffentlichung dieses Textes und der Ausstrahlung des ZDF Magazin Royale meldete sich eine Person bei uns, die von Missständen an einer weiteren Waldorfschule berichtet.
In einer Konferenz dieser Schule hat ein Lehrer dazu aufgerufen, an Demonstrationen gegen Corona-Maßnahmen und an Parteitreffen der Partei „Die Basis“ teilzunehmen, die für ihre Impfskepsis bekannt ist. Außerdem wird einzelnen Lehrkräften der Schule vorgeworfen, übergriffig geworden zu sein, den Kindern Masken vom Gesicht gezogen oder das Tragen der Masken anderweitig unterbunden zu haben. Die Schule gibt zu, dass sich nicht alle Lehrkräfte an die Maskenpflicht gehalten haben. Sowohl die örtliche Polizeidirektion als auch die Bezirksregierung beschäftigt sich mit den Vorkommnissen.
An der Schule soll es aber nicht nur Lehrkräfte geben, die der Querdenker-Szene nahestehen. Aus internen Dokumenten geht auch hervor, dass einzelne Lehrkräfte ihrer Fürsorgepflicht nicht nachgekommen sein sollen. Wir werden diesen Vorwürfen in den kommenden Wochen nachgehen.
Im nächsten Text seiner Serie hat Bent Stimmen von ehemaligen Waldorf-Schüler:innen gesammelt. Hier kannst du ihre Erfahrungsberichte lesen.
Redaktion: Lisa McMinn, Esther Göbel, Thembi Wolf; Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert