Ich habe selbst noch keine Kinder. Aber ihr. Und eine Frage ist für euch besonders wichtig: Auf welche Schule soll ich meine Kinder schicken? Deshalb habe ich die Krautreporter-Leser:innen nach ihren Erfahrungen gefragt.
Diese sieben Erfahrungsberichte geben euch Einblicke in den Alltag an Waldorfschulen. Sie zeigen, was man an ihnen lieben und was man ihnen ablehnen kann – und sie helfen euch vielleicht auch, selbst eine Entscheidung zu treffen, wenn es ums eigene Kind geht.
Marcel, 24: „Für mich passen Wissenschaft und Anthroposophie einfach nicht zusammen“
Mir hat es auf der Waldorfschule anfangs gut gefallen. Ich hatte dort viele Freunde, fühlte mich gut aufgehoben. Aber es gab Dinge, die mich gewundert haben. Unsere Klassenlehrerin hat gestört, wenn ein Kind etwas wusste, was sie noch nicht gelehrt hatte. „Das sollst du noch nicht wissen!“, sagte sie dann. Im Biologieunterricht hat mein Lehrer uns von Auren, Sphären und dem sogenannten Astralleib erzählt. Das fand ich komisch.
Meine Eltern sind beide Anthroposophen, durch und durch. Sie haben sich im Studium kennengelernt, weil sie sich beide für anthroposophische Kunst interessiert haben. Später haben beide Kunst an Waldorfschulen unterrichtet. Bis heute haben meine Eltern keinen Laptop, kein Handy und sie lassen sich auch nicht impfen.
Ab der zehnten Klasse wurde es für mich immer schwerer, mit meinen Eltern zu reden. Nicht nur, weil ich in der Pubertät war. Sie hatten eben eine andere Weltanschauung als ich. Meine Eltern nannten mich abfällig „den Wissenschaftler“. Meine Mutter fand es albern, wenn ich sagte, Wasser sei gleichbedeutend mit der chemischen Formel H20. Die Formel H20 war für meine Mutter zu abstrakt, weil man sie nicht sehen oder fühlen kann. In ihrer Wahrnehmung konnte das also nicht die ganze Wahrheit sein. Bei meinen Eltern ging es nie um Evidenz, sondern nur darum, was man fühlt. Während meiner Schulzeit haben wir zu Hause deshalb vor allem geschwiegen.
Nach dem Abitur habe ich mir Fragen gestellt: Was für ein Wissenschaftsbild wurde mir in der Waldorfschule eigentlich vermittelt? Also habe ich angefangen, mich intensiv mit der Anthroposophie auseinanderzusetzen. Ich habe gelesen, dass Waldorflehrer:innen ihre Sitzordnung den Temperamenten anpassen und dass Anthroposophen an die versunkene Stadt Atlantis, an Feen und Trolle glauben. Laut Kritiker:innen würde so etwas auch heute noch an Waldorfschulen unterrichtet werden. Ich dachte, das sei Quatsch. Heute weiß ich: Lehrkräfte und Erzieher:innen lernen das in ihrer Ausbildung.
Weil ich mich für Informatik interessiere, bin ich an der Waldorfschule Heidelberg zu einem Vortrag über Informatik gegangen. Der Redner war überzeugter Anthroposoph. Er sagte, die Grundlagen der Informatik, die Null und die Eins, seien „böse“. Das Gute liege dazwischen. Ich finde, das ist pure Esoterik. Ich habe trotz seiner Rede angefangen, Informatik zu studieren, auf Lehramt. Aber nicht für Waldorfschulen.
Den Kontakt zu meinen Eltern habe ich abgebrochen, auch wenn es mich traurig macht. Meine Mutter ist in die Querdenker-Szene abgerutscht. Es hat mich nicht überrascht, dass sie sich nicht gegen Corona hat impfen lassen. Ich habe selbst nur die Tetanus-Impfung bekommen und habe es erst als Erwachsener geschafft, alle Impfungen nachzuholen. Für mich passen Wissenschaft und Anthroposophie einfach nicht zusammen.
Gabi, 51: „Ich bin mit vielen Regeln der Schule nicht einverstanden“
Mein jüngster Sohn Tom tut sich seit der ersten Klasse schwer mit Buchstaben und Zahlen. In den ersten drei Grundschuljahren haben seine Lehrkräfte allerlei pädagogischen Kniffe ausprobiert, damit er schreiben und rechnen lernen will: Sie haben ihm Freiheiten gegeben, ihn unter Druck gesetzt. Aber er wollte einfach nicht.
Tom machen andere Dinge Spaß. Er weiß, wie Eichhörnchen durch den Winter kommen, wie sie ihre Nester hoch oben in den Zweigen bauen. Er liebt das Theater. Beim Weihnachtsvorspiel in der Schule war er für die Requisiten zuständig und war ganz penibel: Da muss der Stuhl stehen, der Nebel muss aus dieser Ecke kommen, das Licht muss aus dieser Richtung strahlen. So kam ich auf die Idee, dass die Waldorfschule das richtige für ihn sein könnte.
Wir standen eineinhalb Jahre auf der Warteliste. Erst als Tom in der vierten Klasse war, wurde er zu einem Probebesuch eingeladen. Er mochte die Baumhäuser auf dem Schulhof und fand es toll, dass die Kinder in der Waldorfschule so viel Zeit draußen verbringen. Vor allem aber begeisterte ihn, dass sie ihn sofort einbezogen und sogar umarmt haben. Nach zwei Tagen Probeunterricht stand für Tom fest: Mama, ich will unbedingt dahin. Worauf genau ich mich einlasse, wusste ich nicht. Im Nachhinein würde ich sagen, ich bin blauäugig an die Sache herangegangen.
„Ich möchte als Mutter selbst entscheiden, welche Medien meine Kinder nutzen dürfen“.
Gabi, 51 Jahre alt
Tom ist jetzt elf Jahre alt und besucht die Waldorfschule seit einem Jahr. Ich bin mit vielen Regeln seiner neuen Schule nicht einverstanden. Es gibt Verträge, die verbieten, dass die Kinder zu Hause digitale Medien nutzen. Daran möchte ich mich nicht halten. Ich möchte als Mutter selbst entscheiden, welche Medien meine Kinder nutzen dürfen.
Kürzlich habe ich den Kindergeburtstag von Tom organisiert und wollte mit den Kindern ins Kino gehen. Der Film war für Kinder ab sechs Jahren geeignet. Ein Elternpaar beschwerte sich daraufhin in der nächsten Elternbesprechung in der Schule. Es gebe hier Mütter, die einfach mit ihren Kindern ins Kino führen, sagten sie. Da habe ich aufgezeigt und laut gesagt: „Diese Mutter bin ich und ich kann nicht glauben, dass es ein Problem ist, mit Kindern ins Kino zu gehen“. Die meisten der anderen Eltern haben mir zugestimmt.
Später habe ich erfahren, dass die Eltern, die sich quer stellten, Impfgegner sein sollen, die versuchen, andere Eltern von ihrem Weltbild zu überzeugen. Ich halte mich seitdem von ihnen fern. Sie mögen laut sein – aber sie sind eine Ausnahme. Die große Mehrheit der Eltern an der Waldorfschule meines Sohnes würde ich als „ganz normal“ bezeichnen.
Heftiger finde ich, was ich von den Eltern der Kinder höre, deren Kinder auf der Regelschule geblieben sind. Die Kinder stehen dort unter so viel Druck. Tom hätte das nur mit Ach und Krach geschafft. Er hätte wohl vor allem negative Erfahrungen gesammelt. Stattdessen geht er nun gerne zur Schule. Jeden Tag, wenn er nach Hause kommt, erzählt er mir, was er erlebt hat. Etwa, wie er mit sechs anderen auf einer Bühne stand und Eurythmie getanzt hat. Ich möchte ehrlich sein: Ich kann mit Eurythmie wenig anfangen. Aber ihm macht es Spaß. Und das ist mir wichtig.
Tom hat den anderen Kindern in seiner Stufe viel voraus. Sie sind mit dem Stoff noch nicht so weit, wie er es auf der Regelschule war. Deshalb gehört er jetzt zu den besten Schüler:innen. Das tut ihm gut. Für Kinder, die schnell lernen wollen, ist Waldorf die falsche Schule. Für meinen Sohn ist das Tempo super.
Was hinter Waldorfschulen steckt, ist nur eines von vielen Themen, denen sich unser Bildungsreporter Bent Freiwald widmet. Wenn du seine nächste Recherche nicht verpassen möchtest, abonniere seinen Newsletter The Kids Are Alright.
Veelana, 44: „Im Zeugnis stand, meine Ich-Achse sei verbogen“
Ich kam 1980 in einen Waldorfkindergarten und meine Zeit dort war wunderschön. Ich habe es geliebt: die Naturmaterialien, das freie Spiel, die Kerzen, die Zeit in der Natur. Heute würde ich sagen, meine Kindergärtnerin war eine tolle Pädagogin. Bis vor ein paar Jahren hatte ich sogar noch Kontakt zu ihr. Doch als ich auf die Waldorfschule kam, hat sich alles verändert.
Meine Mutter hat den ganzen Esoterik-Schwurbel anfangs ignoriert. In meinem letzten Kindergartenjahr aber änderte sich das: Wir begannen nach Steiner zu kochen, vegetarisch, nach dem „sieben Tage, sieben Körner“-Prinzip, Kleider statt Hosen zu tragen – auf keinen Fall Jeans! – und biologisch einzukaufen. Die Holzfiguren von Ostheimer, die Bauklötze handgesägt, die Puppen selbst genäht. Meine Mutter wurde zu meinem Schuleintritt zur Hardcore-Anthroposophin.
Eigentlich hätten wir uns die Waldorfschule gar nicht leisten können. Meine Mutter war alleinerziehend und das Schulgeld war zu teuer. Aber als „Sozialkind“ durfte ich trotzdem die Waldorfschule besuchen. Die Kosten wurden von den Beiträgen der anderen Eltern übernommen. Meine Mutter sagt, sie hätte mich zu den Waldorfs gegeben, weil ich nach der ihrer Scheidung so ein „kaputtes Kind“ gewesen sei, und die Lehrkräfte mich dort ganzheitlich wahrnehmen könnten. Sie lag leider falsch.
Die anderen Kinder in meiner Klasse kamen aus wohlhabenderen Familien. Einige wurden sogar von einem Chauffeur in die Schule gebracht. Mir wäre das egal gewesen. Aber die Kinder merkten, dass ich arm bin, und begannen, mich zu mobben. In der 5. Klasse gab meine Lehrerin meinen Klassenkamerad:innen eine Stunde Zeit, um mir zu sagen, warum sie mich nicht mochten. Es war der Horror. Das Mobbing wurde von den Lehrkräften unterstützt, indem sie mein Anderssein hervorgehoben haben.
Sicher, das hätte auch an einer anderen Privatschule passieren können, aber es war nicht mein einziges Problem. Ich passte einfach nicht in das Weltbild der Anthroposophie.
„Den linkshändigen Kindern wurde gesagt, wir seien dümmer als Rechtshänder, weil wir die falsche Gehirnhälfte verwenden würden.“
Veelana, 44 Jahre alt
Ich habe als Kind alles mit der linken Hand gemacht, also begann ich auch, mit ihr zu schreiben. Doch das wurde mir wegtrainiert. Den linkshändigen Kindern wurde gesagt, wir seien dümmer als Rechtshänder, weil wir die falsche Gehirnhälfte verwenden würden. Auch meine Brille war für die Lehrkräfte ein Zeichen dafür, dass ich minderwertig sei. Sie zeige, dass ich „ohne Scharfsicht“ durchs Leben ginge.
In meinen Zeugnissen standen oft subjektive Bewertungen. Etwa, ich hätte das Rechnen nicht verstanden oder meine „Ich-Achse“ sei verbogen. Ich weiß bis heute nicht, was das überhaupt sein soll. Während meiner Schulzeit habe ich mir immer Noten gewünscht, um wenigstens ein bisschen Objektivität zu erleben.
Ich würde heute niemandem empfehlen, sein Kind auf die Waldorfschule zu schicken. Aber eines ist mir bis heute geblieben: Die Ästhetik. Helle Farben, Naturmaterialien und Regenbogenseidenpapier mag ich immer noch.
Benita, 34: „Mir ist erst als Erwachsene klar geworden, dass Mythen keine Fakten sind“
In der Pandemie habe ich angefangen, Podcasts zu hören. Bei einer Folge meines Lieblingspodcasts „Hoaxilla“ ging es überraschend um Waldorfschulen. Der Gast, André Sebastiani, stellte sich selbst als Kritiker der Anthroposophie vor und erzählte, was seiner Meinung nach wirklich hinter Waldorfschulen steckt. Ich war total erschrocken. Ich konnte das alles nicht glauben.
Ich bin super gerne auf die Waldorfschule gegangen, weil ich die Fächer toll fand. Mir hat der Unterricht wahnsinnig viel Spaß gemacht. Der Epochenunterricht, bei dem ein Unterrichtsfach für drei bis vier Wochen jeden Morgen in den ersten beiden Schulstunden unterrichtet wird, die Sprachen, die man so früh lernen kann. Ich hab in der neunten Klasse einen Kerzenständer geschmiedet. Wer kann das schon von sich behaupten? Keine andere Schule dieser Welt bietet dir an zu schmieden, zu schneidern, Kupfer zu treiben, zu töpfern, Mantel zu schneiden.
Nach meiner Schulzeit habe ich die Waldorfschulen immer verteidigt, wenn Kritik laut wurde. Der Podcast aber hat mich vom Gegenteil überzeugt. Als ich die Folge hörte, suchte ich erst noch nach Erklärungen. Das haben die falsch recherchiert! Das kann nicht sein! Dann habe ich meine Reaktion hinterfragt. Normalerweise ist der Podcast ganz sauber recherchiert – warum sollte er jetzt so daneben liegen?
Drei Tage lang hatte ich Bauchschmerzen und habe schlecht geschlafen. Mein Weltbild war komplett zerrüttet. Dann habe ich angefangen, meine Erfahrungen zu hinterfragen.
„Lange habe ich mit meinem Partner gestritten, weil er ständig Sachen hinterfragt hat, die ich in der Schule gelernt habe. Ich dachte: Was ich in der Schule gelernt habe, muss stimmen.“
Beinate, 34 Jahre alt
Ich habe mich an die mythischen Geschichten um Atlantis erinnert, die uns erzählt wurden. Mir ist erst mit Ende 20 klar geworden, dass griechische Mythen keine geschichtlichen Fakten sondern Sagen und Legenden sind. In meinem Geschichtsunterricht wurde das nicht unterschieden.
Meine Lehrer haben uns vermittelt, dass man am Aussehen eines Menschen erkennen könne, was für ein Typ Mensch das sei. Bei „fühlenden“ Menschen sei der mittlere Teil des Ohres im Verhältnis besonders groß. Menschen, die „im Wissen“ sind, hätten herunterhängende Ohrläppchen. Und Menschen, deren Spitze des Ohres groß ist, seien „im Wollen“.
Uns wurde auch beigebracht, dass es Pflanzen gibt, die fürs Wissen stehen und solche, die fürs Wollen stehen. Kartoffeln zum Beispiel seien Wollens-Pflanzen, keine Wissens-Pflanzen, weil sie ihre Kraft in der Erde bündeln. Meine Lehrerin behauptete deshalb, wer nur Kartoffeln äße, würde dumm. Meine Mutter fand das damals unmöglich, schließlich hatte sich meine Oma in der Nachkriegszeit nur von Kartoffeln ernährt. Ich aber habe das als Kind hingenommen. Heute, 20 Jahre später, denke ich: Oh mein Gott.
Ich würde meine Kinder nicht auf eine Waldorfschule schicken. Mir fehlt die Grenze zwischen Realität und Mythen. Lange hatte ich mit meinem Partner gestritten, weil er ständig Sachen hinterfragt hat, die ich in der Schule gelernt habe. Ich dachte: Was ich in der Schule gelernt habe, muss stimmen. Erst nach dem Podcast habe ich gemerkt, dass das nicht mein Fehler war, sondern dass Waldorfschulen uns systematisch belügen.
Simon, 21: „Wir hatten Fächer, die es an anderen Schulen nicht gibt“
Am Anfang habe ich mich für meine Schule geschämt. Ich habe immer bloß gesagt, dass ich auf eine Privatschule gegangen bin. Gelogen ist das nicht, es ist nur eben nicht die ganze Wahrheit. Ich war im Waldorfkindergarten und bis zum Abitur auf der Waldorfschule. Ich studiere Journalismus. Eines meiner Fächer heißt „Kommunikationskompetenzen“. Darin lernen wir, wie man vor anderen Menschen spricht, etwa auf einer Bühne. In einer Lehrstunde erzählte mein Professor von einer Studentin, der er nichts mehr beibringen konnte, weil sie schon alles konnte. Als er sie fragte, warum das so sei, soll sie gesagt haben: „Ich war auf der Waldorfschule!“
Da wurde mir klar: Auch ich habe in meiner Schulzeit Dinge gelernt, die mir heute im Studium sehr weiterhelfen. Auch mir fällt es leicht, auf einer Bühne zu stehen. Das liegt daran, dass es auf meiner Schule Zeugnissprüche gab. Das sind Sprüche, die jedes Kind immer für ein Jahr von der Klassenlehrerin bekommt, deren Motive es in diesem Jahr begleiten soll und die es jede Woche aufsagen muss vor der Klasse. Außerdem gab es die Jahresarbeiten, große Theaterstücke und Aufführungen, die ich vor Eltern und Verwandten vortragen musste. Das hat mir meine Angst genommen.
„Trotz meines Handwerks-Unterrichtes bin ich handwerklich nicht begabt, aber ich habe gelernt, an einer Sache dran zu bleiben, mich reinzufuchsen, auch wenn es mir nicht gefällt.“
Simon, 21 Jahre alt
Ich mochte all die Waldorf-Fächer, die an anderen Schulen nicht unterrichtet werden. Ob Eurythmie, Gartenbau oder Handwerken. Trotz meines Handwerks-Unterrichtes bin ich handwerklich nicht begabt. Aber ich habe gelernt, an einer Sache dran zu bleiben, mich reinzufuchsen, auch wenn es mir nicht gefällt. Heute bin ich froh, zumindest die Grundlagen drauf zu haben.
Ich habe an der Waldorfschule auch gelernt, wie wichtig es ist, Dinge mit den Händen zu verstehen. Das hört sich esoterisch an. Aber ich denke zum Beispiel an das Modell-Boot, das wir im Kunstunterricht gebaut haben. So habe ich mit den Händen verstanden, wie ein Boot funktioniert. Ich merke das auch beim Schreiben. Wenn ich etwas handschriftlich aufschreibe, kann ich es mir besser merken.
Heute weiß ich: Für mich war die Waldorfschule genau das richtige. Dort werden Skills gefördert, die auf vielen Regelschulen untergehen. Ich würde mein Kind jederzeit auf eine Waldorfschule schicken.
Sandra, 34: „Die Pandemie hat alles verändert“
Alles fing damit an, dass eine Gruppe Eltern auf dem Pausenhof beim Abholen der Kinder keine Masken mehr getragen hat. Sie sagten: „Man muss nur den richtigen Arzt kennen für ein Attest.“ Einer dieser Ärzte war selbst Vater eines Kindes der Schule. Ein Hausarzt, der Maskenatteste verteilt hat. Plötzlich litten ganze Familien an scheinbar schwersten Lungenerkrankungen.
Ich selbst war vom Kindergarten bis zum Abitur auf der Waldorfschule. Ich hatte eine schöne Schulzeit und habe nur gute Erinnerungen. Heute habe ich eine Tochter in der Waldorf-Kita und eine auf der Waldorfschule. Jedenfalls noch. Während der Pandemie hat sich mein Bild grundlegend verändert. Ich bin mir jetzt ziemlich sicher, dass meine jüngere Tochter nach der KiTa auf die örtliche Dorfgrundschule gehen wird. Ich denke auch darüber nach, ob meine ältere Tochter auf diese öffentliche Schule wechseln soll.
„Einige Eltern haben der Schulleiterin mit Anwälten gedroht, haben Masken gehäkelt und sich Atteste besorgt. Das waren zwar nicht viele Eltern, aber eine sehr laute Gruppe.“
Sandra, 34 Jahre alt
Die Schulleiterin der Waldorfschule stand eigentlich immer hinter den Corona-Schutzmaßnahmen und sorgte dafür, dass sie eingehalten werden. Doch einige anthroposophische Familien übten massiv Druck auf sie aus. Etwa als die Schulleiterin eine Mail vom Bildungsministerium weitergeleitet hat, in der Schülerimpfungen angeboten wurden. Das hat eine Welle der Entrüstung nach sich gezogen. Dafür dürfe man doch nicht werben, sagten die Eltern. Sie haben der Schulleiterin mit Anwälten gedroht, haben Masken gehäkelt und sich die besagten Atteste besorgt. Das waren zwar nicht viele Eltern, aber eine sehr laute Gruppe.
Der Hausarzt, der die Atteste schrieb, hat auf einer Zoom-Konferenz der Schule, an der alle Eltern teilnehmen konnten, gesagt, man müsse anfangen, die Corona-Schutzmaßnahmen „kreativer umzusetzen“. Es gebe alternative Wege. Die Schulleiterin hat zugehört und nicht widersprochen.
Auch die Leitung der Waldorf-Kita meiner jüngeren Tochter hinterfragte die Corona-Schutzmaßnahmen mehr, je länger die Pandemie anhielt. Die Erzieher:innen trugen irgendwann alle keine Maske mehr. Das war zwar offiziell erlaubt, wenn es pädagogisch als sinnvoll betrachtet wurde. Aber mir und ein paar anderen Eltern war das zu wenig. Ich habe der Leiterin daraufhin am Telefon vorgeschlagen, ein paar zusätzliche Schutzmaßnahmen wieder einzuführen: Die Kinder einheitlich zu testen, die Trennung der Gruppen beizubehalten, viel raus zu gehen. Doch sie antwortete, dass es die Kinder viel schlimmer erwischen würde, wenn sie geimpft seien. Dass unsere Kinder geimpft sind, habe ich daraufhin lieber verschwiegen.
Mein eigentlicher Grundgedanke war immer: Lass die mal ihren Anthroposophie-Kram machen. Hauptsache meine Tochter hat keinen Notendruck wie an anderen Schulen. Die Pandemie hat mir gezeigt: Dieses Weltbild betrifft uns alle, diese Denkweise hat Auswirkungen auf unsere Gesellschaft. Das können die eben nicht einfach so machen.
Julia (43): „Ich kann mir für meine Kinder keine bessere Schule vorstellen“
Mein Bauch hat mir schon früh gesagt, dass meine älteste Tochter Mia nicht auf eine Regelschule passt. Sie war ein schlaues Kind, fantasievoll und sehr empfindsam. Aber es mangelte ihr vor der Einschulung noch an sozialen Fähigkeiten, weil sie im September geboren und damit noch sehr jung war. Also habe ich sie auf eine Waldorfschule geschickt.
Wir sind gemeinsam durch einige Bewährungsproben gegangen. Etwa als ihr kleiner Bruder eine zeitlang nicht in den Kindergarten gehen konnte. Da wollte Mia auch nicht mehr in die erste Klasse gehen, sondern zu Hause bleiben. Für mich was das eine Herausforderung. Aber die Lehrerin von Mia hat mir die Verantwortung nicht allein überlassen, sondern sagte, es sei auch ihre Aufgabe, das Problem zu lösen. Und sie hat es auch geschafft. Sie konnte Mia motivieren zurückzukehren.
„Die Schule ist für meine Tochter ein Ort geworden, den sie vermisst, wenn sie nicht dort sein kann. Sie geht jeden Tag gerne in die Schule. Sie fühlt sich dort gut aufgehoben und wertgeschätzt.“
Julia, 43 Jahre alt
Immer wieder ist Mia beim Vorlesen aufgefallen. In einer Geschichte ging es um Schlangen und mein Kind hat sich beim Zuhören auf dem Fußboden gewunden. Sie lebte aus, was sie hörte. Statt sie zu ermahnen, lies die Lehrerin sie einfach machen und setzte darauf, dass sie sich solches Verhalten automatisch abgewöhnen würde, wenn sie älter wird. Sie hatte recht. Spätestens seit ich mit Mia auf eine Mutter-Kind-Kur gefahren bin, liebt sie die Schule. Auf der Kur hat uns ein liebevoller Brief von ihrer Klasse erreicht. Das hat dazu geführt, dass die Schule für Mia ein Ort wurde, den sie vermisst, wenn sie nicht dort sein kann. Seitdem geht sie jeden Tag gerne in die Schule. Sie fühlt sich dort gut aufgehoben und wertgeschätzt. Ihre Lehrerin legt viel Wert auf den Kontakt zu mir. Heute geht sie in die fünfte Klasse und ich kann mir für sie keine bessere Schule vorstellen.
Ich muss dazu sagen, dass ich keine überzeugte Anthroposophin bin. Aber die Waldorfschule meiner Kinder legt darauf auch nicht allzu viel Wert. Die Schulleitung sagt, dass sie sich die Ideen von Rudolf Steiner genau angeschaut hätten. Was sich bewährt hat, hätten sie in ihre Lehre übernommen und was nicht, hätten sie weggelassen. Ich habe bisher nicht das Gefühl, dass meine Kinder etwas lernen, mit dem ich nicht einverstanden bin.
Mir ist wichtig, dass meine Kinder Kinder bleiben dürfen. Dass sie gelobt werden, nicht getadelt. Und dass sich selbst entwickeln können. Jedem Elternteil, dem dieser positive Blick aufs Kind wichtig ist, würde ich die Waldorfschule empfehlen.
Mein Sohn geht mittlerweile auch auf die Waldorfschule, er besucht die zweite Klasse. In der ersten Klasse hat er Buchstaben oft falsch herum geschrieben, aber er wird immer besser. In seinem letzten Zeugnis stand: „Die Buchstaben zeigen immer häufiger in die richtige Richtung!“
Wer als Journalist:in kritisch über Waldorfschulen berichtet, muss mit Gegenwind rechnen. Für den nächsten Text der Serie haben Bent und Leoni recherchiert, wie der Bund der Freien Waldorfschulen und die Anthroposophische Gesellschaft Kritiker:innen einschüchtern. Hier kannst du den Text lesen.
Die Namen in den Protokollen von Marcel, Gabi, Veelana und Sandra haben wir geändert, weil sie nicht erkannt werden wollen. Die echten Namen sind uns bekannt.
Redaktion: Lisa McMinn, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Philipp Sipos, Audioversion: Christian Melchert und Iris Hochberger