Heimweh begleitet mich als Leiter einer zweiwöchtigen Ferienfreizeit seit Jahren. Also: ich habe keins. Aber natürlich sind jedes Jahr auch Kinder dabei, die ihr zu Hause und ihre Eltern vermissen.
Im Zeltlager sind die Kinder aufgeteilt in Zehnergruppen. Jede Gruppe hat mindestens einen Betreuer oder eine Betreuerin, insgesamt kommen 29 Betreuer:innen mit, die sich Tag und Nacht um die Kinder kümmern. Hat ein Kind Heimweh, erfahren diese Betreuer:innen es zuerst.
Erst, wenn die Betreuer:innen nicht mehr weiterkommen, landen die Heimwehkinder bei der Leitung – also bei mir. Ich spreche mit den Kids, frage, was los ist, was sie vermissen. Ob sie schon mal so lange von zu Hause weg waren. Ich erzähle, was die nächsten Tage ansteht, worauf sie sich freuen können.
Das Schwierigste für mich ist, dass bei jedem Kind ganz andere Stellschrauben helfen. Mal war es die Aussicht auf das nächste Event, mal hat ein Anruf zu Hause das Heimweh für die nächsten zehn Tage weggewischt. Mal brauchte das Kind einfach eine Schulter zum Weinen, mal eine klare Ansage.
Manchmal mache ich Deals: Bis zum nächsten Abend warten wir ab, dann reden wir nochmal. Oder ich setze Ziele: Den Besuch im Hansapark zu verpassen wäre so ärgerlich! Bis dahin hältst du noch durch! Das hilft oft, manchmal auch nicht. Aber alles ist besser, als bei dem ersten Äußern von Heimweh direkt die Kinder nach Hause zu schicken. Abgesehen davon, dass mich die Eltern – die dafür einiges bezahlt haben – dafür steinigen würden.
Diese Gespräche mit den Kindern sind übrigens weder harmlos noch einfach. Heimweh kann heftige Symptome haben. Ein Junge berichtete über starke Bauch- und Kopfschmerzen. Mehrere Mädchen waren kaum zu beruhigen, die Heulkrämpfe durchzogen ihren ganzen Körper. Einige konnten nicht mehr schlafen. Manche haben nichts gegessen.
Die Zahl der Kinder mit Heimweh war so hoch wie nie
Fast immer halte ich deshalb Rücksprache mit den Eltern. Die kennen ihre Kids am besten. Die wissen, wie sie einzuschätzen sind: ob sie nur einen kleinen Stups brauchen, ob ein kurzes Gespräch mit den Eltern helfen könnte oder ob sich die Kinder nicht mehr beruhigen werden.
Unser Ziel ist immer, alle Kinder die vollen zwei Wochen bei uns zu halten. Die meisten Eltern wollen auch, dass die Kinder sich da durch beißen, dass sie diese Erfahrung machen und daran wachsen. „Da durch beißen“ heißt natürlich nicht, die Kinder mit ihren Gefühlen allein zu lassen. Ganz im Gegenteil: Wir begleiten sie und versuchen, gemeinsam eine Lösung zu finden – solange es eben geht.
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Für die deutliche Mehrheit der 150 Kinder und Jugendlichen war Heimweh in den zwei Wochen überhaupt kein Thema. Sie haben die Zeit zwischen Waldrallye, Arschbombencontest, Schwarzlichtdisco und Kanufahren einfach genossen.
Aber die Zahl der Kids mit Heimweh war in diesem Jahr so hoch wie noch nie. Hier zeigt sich eine direkte Folge von der Pandemie, die in Statistiken und Befragungen von Kindern und Eltern kaum zu begreifen ist.
Bei neun Kindern kamen wir trotz aller Versuche nicht weiter, sie wurden von den Eltern abgeholt. Einige schon am zweiten oder dritten Tag, ein neuer Rekord. Bei ungefähr 15 weiteren halfen die Gespräche. Aber auch sie hatten Heimweh, bei einigen mussten wir uns von Tag zu Tag hangeln.
Warum wollen die Kinder nach Hause? Die Gründe waren fast alle gleich:
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Die Heimwehkinder waren noch nie so lange von zu Hause weg. Die meisten Klassenfahrten und Ferienlager fielen zwei Jahre lang aus.
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Die Bindung zu den Eltern ist viel enger geworden. Während Corona saßen die Kinder teils monatelang mit den Eltern zu Hause. Das verbindet ungemein. Eine 15-jährige sagte mir, ihre Mutter sei in dieser Zeit zu ihrer besten Freundin geworden.
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Eine Folge aus beidem: Manche Kinder sind es nicht mehr gewohnt, sich auf neue Gruppen einzulassen. Fremde Menschen zu Freunden werden zu lassen. Ihnen und dem neuen Umfeld eine Chance zu geben.
Bindung ist wichtig, sich auf Fremdes einzulassen aber auch
Kinder brauchen innere und äußere Sicherheit. Die innere Sicherheit bekommen sie durch die Eltern, die ihnen zeigen: Du bist genug, du wirst geliebt. Die äußere Sicherheit hat in den vergangenen zwei Jahren massiv gelitten. Der sichere Hafen blieb oftmals (leider auch das nicht bei allen): das Elternhaus.
Auch deshalb ist es so wichtig, dass viele Angebote für Kinder und Jugendliche wieder stattfinden. Bindung ist wichtig. Sich auf Fremdes einzulassen aber auch. Das ist kein Gegensatz: Wer eine gute Bindung zu den Eltern hat, kann sich auf Ferienfreizeiten wahrscheinlich sogar besser einlassen (so ist zumindest meine Erfahrung). Vielleicht kam die Balance zwischen beidem durch Corona aber ins Schwanken, weil die eine Erfahrung gemacht wurde (Bindung zu den Eltern), die andere aber nicht oder kaum (sich auf Fremdes einlassen).
Welche Folgen das für den Abkopplungsprozess und für die Selbstständigkeit von Kindern hat, ist heute noch gar nicht abzusehen.
Heimweh ist per se weder schlecht noch gut. Es ist da oder nicht. Wenn es aber zunimmt, sollte man das zumindest im Auge behalten.
Redaktion: Rebecca Kelber, Foto: Hanna Hartmann, Audioversion: Christian Melchert