100.000.000.000 Euro soll die Bundeswehr als „Sondervermögen für Investitionen und Rüstungsvorhaben“ erhalten. Das hat Bundeskanzler Olaf Scholz im Bundestag angekündigt. Der Filmkritiker Wolfgang M. Schmitt schrieb daraufhin auf Twitter:
„Die große Lüge funktioniert nun nicht mehr: Immer haben Politiker behauptet, es sei kein Geld da für Investitionen in Klima & Infrastruktur, Hartz-IV-Empfänger, Kultur, Bildung, junge Menschen. Jetzt zaubert man 100.000.000.000 € für Aufrüstung aus dem Hut. Geld war nie knapp.“
Auch ich fragte gestern ganz zurückhaltend in mich hinein: Was zur Hölle?? Wollen die uns eigentlich komplett verarschen?? Über die 5,5 Milliarden Euro für den Digitalpakt Schule stritten Bund und Länder mehrere Jahre! Ganz zu schweigen von den mittlerweile (Achtung!) 47 Milliarden Euro Investitionsstau an deutschen Schulen! (Investitionsstau heißt: Investitionen, die nötig gewesen wären, wurden unterlassen.) Und, hey, war da nicht was mit zu teuren Luftfiltern, die immer noch in den meisten Klassenräumen der Republik fehlen? 🤔
Ganz so einfach ist das aber nicht. Natürlich nicht. Dafür musste ich drei Dinge verstehen: 1. Woher kommen diese 100.000.000.000 Euro so plötzlich? 2. Warum kann man nicht einfach so viel Geld für Bildung ausgeben? Und 3. Warum ist die Schuldenbremse gleich doppelt schuld daran?
Unser Gehirn kann sich Zahlen dieser Größenordnung gar nicht vorstellen. Wie wir den Überblick trotzdem nicht verlieren, erklärt mein Kollege Tarek Barkouni hier.
1. Woher kommen diese 100 Milliarden Euro so plötzlich?
Um euren Blutdruck zu senken: Sie kommen jedenfalls nicht einfach aus dem Bundeshaushalt. Das Geld war eben nicht „immer schon da“ und wurde nur nicht für Bildung, Pflege und Rente ausgegeben. Es gab keine „große Lüge der Politik“, die 100 Milliarden Euro werden – im Gegensatz zum Beispiel zu den 5 Milliarden Euro für den Digitalpakt – sehr wahrscheinlich neue Schulden sein.
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Wenn der Bund Geld für etwas ausgeben möchte, darf er dafür eigentlich keine neuen Schulden aufnehmen. Das steht mittlerweile im Grundgesetz und nennt sich Schuldenbremse. Heißt auch: Wenn wir mehr Geld für Bildung ausgeben wollen, muss entweder auch mehr Geld in die Kassen des Staates einfließen oder wir müssen an anderer Stelle sparen.
Natürlich gibt es Ausnahmen. Nämlich „für Naturkatastrophen oder außergewöhnliche Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen.“ Eine solche Ausnahmesituation, so wird vermutlich die Argumentation lauten, ist durch den Krieg eingetreten.
Mit dieser Argumentation wurde auch das Geld für die Corona-Soforthilfen bereitgestellt.
2. Warum kann man nicht einfach so viel Geld für Bildung ausgeben?
Ihr habt ja recht und ich sehe das genauso: 47 Milliarden Euro Investitionsstau, der sich in bröckelnden Wänden, kaputten Toiletten und Steinzeit-Internet bemerkbar macht, ist eine nationale Notsituation. Will die Politik also nur kein Geld dafür ausgeben? Wir müssen uns die Formulierung oben kurz genauer anschauen. Wenn der Staat neue Schulden aufnehmen will, muss sich die Situation
a) der Kontrolle des Staates entziehen und
b) die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen.
Den Stau zu beheben, würde die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen (47 Milliarden Euro!). Der Kontrolle des Staates hat sich diese Situation aber nicht entzogen. Ganz im Gegenteil: Das ist alles selbst gemacht. Well done.
Für Bildungsausgaben können also derzeit, rein rechtlich, keine neuen Schulden aufgenommen werden. Und es wird noch besser (schlimmer).
3. Warum ist die Schuldenbremse gleich doppelt schuld daran?
Auch das Grundgesetz kann man ändern. Zum Beispiel könnte man sagen: Bildung ist eine weitere Ausnahme, es sollte in Zukunft möglich sein, Schulden dafür aufzunehmen. Oder man sagt: Der Bund darf generell viel mehr und viel einfacher in Bildung investieren. Oder man sagt: Die Schuldenbremse geht uns sowieso auf den Keks – weg damit! Für all das müsste man das Grundgesetz ändern, für all das bräuchte es eine Zweidrittelmehrheit im Bundestag, für all das müssten erstmal die CDU/CSU-Fraktion und die FDP-Fraktion ihre Meinung ändern, denn die sind dagegen.
Ganz unrecht hatte Wolfgang M. Schmitt mit seiner Zuspitzung („Geld war nie knapp“) also nicht, auch wenn diese Erkenntnis nichts mit den 100 Milliarden zu tun hat. Denn Anfang 2020 trat damals noch Bundesfinanzminister Olaf Scholz vor die Presse und verkündete: „Wir hatten ein bisschen Glück. Und natürlich haben wir auch gut gewirtschaftet. Der Haushalt weist insgesamt einen Überschuss von 19 Milliarden Euro aus.“
Da waren sie: die Euros, die weder Schulden waren, noch an anderer Stelle fehlten! Die Kommunen (die in Deutschland die Schulen bauen und renovieren müssen) hätten damit nur nicht viel anfangen können. Geld, das der Bund für solche Vorhaben bereitstellt, ist meistens kompliziert zu beantragen. Und Bauunternehmen, deren Kalender nicht völlig überfrachtet sind, schwer zu finden. Das größte Problem: In den Behörden fehlt das Personal, denn das wird seit Jahren abgebaut dank, genau, der Schuldenbremse und der Idee des „schlanken Staates“ (eine möglichst kleine, effizient arbeitende, „gestraffte“ Staatsverwaltung).
Fazit: Die eigentliche große Lüge ist, dass Bildung Priorität hat. Dass die rechtliche Lage nämlich so ist, wie sie ist, liegt auch daran, dass der Zustand der Schulen in Deutschland nicht als nationale Notlage erkannt wird. Dann nämlich würden Politiker:innen den rechtlichen Rahmen so ändern (und die Kommunen so gut ausstatten und die Abläufe so vereinfachen), dass auch in die Schulen Milliarden fließen könnten.
Redaktion: Lisa McMinn, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Iris Hochberger