In Brinkum bei Bremen spielt Charlotte, 15 Jahre alt, ihr erstes Klavierkonzert. Sie war aufgeregt. Hundert Zuschauer:innen sollten kommen. Aber sie kamen nicht. Das Konzert fiel aus. Zu hohe Inzidenzen. Nur ihre Oma hört jetzt zu. Am Telefon.
In Baden-Baden kommt Mia, 14 Jahre alt, erst um 22.30 Uhr nach Hause. Sie hatte Mathe-Nachhilfe. In den nächsten acht Tagen wird sie fünf Klassenarbeiten schreiben. Die Weihnachtsferien wurden vorgezogen, deshalb kommt nun alles auf einmal. Es ist nicht mehr viel Zeit.
In einer westdeutschen Großstadt schnappt sich Hakim, 9 Jahre alt, seine Blockflöte, Noten und den Ständer. Er stürmt hinaus in den kalten Winter. Vor dem Wohnblock baut er alles vor sich auf und beginnt zu spielen. Er muss draußen üben. Es nervt seine Eltern, wenn er in der Wohnung spielt. Seit über zwei Jahren hockt er mit ihnen dort drin. Er will nicht, dass der Unterricht bald wieder ausfällt, so wie letztes Jahr.
Im Jahr 2020 machten die Deutschen einen Deal, den Corona-Generationenvertrag: Kinder und Jugendliche schränken sich ein, damit die Älteren geschützt werden – bis die Impfung den Schutz übernimmt. Danach waren die Erwachsenen in der Pflicht, die ungeimpften Kinder zu schützen. Denn mittlerweile war klar, dass Covid bei Kindern meistens harmlos, aber in Ausnahmefällen schwerwiegend verlaufen kann. Und dass die Einschränkungen den Jüngeren enorm schaden. Nur: Die Erwachsenen kamen ihrer Pflicht nicht nach. Die Infektionszahlen unter Schüler:innen und Kita-Kindern schnellen seit Monaten in die Höhe, sie machen mittlerweile, im Dezember 2021, den größten Teil unter allen Altersgruppen aus.
In manchen Bundesländern wurden die Weihnachtsferien vorgezogen. Sportturniere wurden abgesagt, Weihnachtskonzerte fallen aus oder werden ausfallen, und überall kehrt die Maskenpflicht zurück. Ganze Klassen gehen in Quarantäne, Schulen in den Wechselunterricht, um die Kinder zu schützen – oder weil Lehrkräfte fehlen. Die Omikron-Variante könnte nochmal alles verändern, wieder könnte alles von vorn beginnen.
Bald feiern wir das zweite Corona-Weihnachten. Wie geht es Deutschlands Kindern und Jugendlichen heute, nach fast zwei Jahren Pandemie? Welche Ängste haben sie und welche Hoffnungen? Wie schauen sie auf das nächste Jahr, auf ihre Zukunft? Und was sagen sie, wenn man nicht nur über sie spricht, sondern mit ihnen?
Im November habe ich über meinen Newsletter einen Aufruf gestartet, um Familien für diese Geschichte zu finden. 47 Familien haben mir geantwortet. Fünf von ihnen habe ich nun besucht. Fast 2.000 Kilometer bin ich dafür durch Deutschland gereist und habe mit Schüler:innen in Thüringen, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern gesprochen. Unter einer Bedingung: Die meisten Kinder in dieser Reportage tragen nicht ihre echten Namen. Damit wollen ihre Eltern und wir ihre Privatsphäre schützen.
Erster Halt: Halb so schlimm
Meine Deutschlandreise beginnt am Nikolaustag. Während geputzte Schuhe vor den Wohnungstüren der Republik auf Schokolade und Spekulatius warten, mache ich mich auf den Weg ins thüringische Weimar. Zum ersten Mal übersteigt die Inzidenz hier an diesem Tag die 1.000er-Marke und das ist für Thüringen fast schon wenig. Im Landkreis Saalfeld-Rudolstadt, keine Stunde von Weimar entfernt, beträgt die Sieben-Tage-Inzidenz 1.911. Das ist an diesem Tag der höchste Wert in Thüringen und der dritthöchste bundesweit.
Wenn Deutschland grau und kalt wird, wird Weimar gemütlich. Die Geschäfte sind hier „cosy“ (sagen die Schilder davor) und die Gassen süß (sage ich). Familie Stöhr wohnt seit dem Sommer in einem Reihenhaus im Neubaugebiet, mit Garten, Terrasse, Garagenstellplatz, bodentiefen Fenstern und Fußbodenheizung. Die 17-jährige Paula hält ihren kleinsten Bruder Matz im Arm, er ist gerade ein Jahr alt geworden, ein echtes Corona-Baby und Auslöser für den Umzug ins neue Haus. Seit heute ist Paula geboostert – Off-Label von einer befreundeten Kinderärztin.
Als Corona Deutschland erreichte, schottete sich die sechsköpfige Familie ab. Paula hat Diabetes, sie kann keine Infektion riskieren. Alle blieben zu Hause und hielten zusammen. Paulas Vater arbeitet an der Uni, ihre Mutter an einer Schule. Im Lockdown lief es erstaunlich gut: „Zuhause zu bleiben, hat mir richtig Spaß gemacht“, sagt Paula. Im nächsten Jahr macht sie Abi und verlässt die Stadt. „Ich werde mir jedenfalls nicht vorwerfen müssen, zu wenig Zeit mit meiner Familie verbracht zu haben.“
Wegen ihrer Krankheit war es schon vor Corona gefährlich für Paula, Alkohol zu trinken, zu feiern. Vom Alkohol steigt ihr Blutzuckerspiegel, gerät außer Kontrolle. Andere in ihrem Alter mussten auf Partys im Lockdown verzichten, Paula fehlten sie nie. „Ich treff mich eh lieber mit meinen Freunden in kleiner Runde“, sagt sie. Ihre Mutter sagt mir später, im Auto: „Manchmal habe ich Angst, dass sie noch gar nicht weiß, was sie alles verpasst.“
Während wir reden, fordern die Oberbürgermeister der Städte Erfurt, Jena, Gera, Weimar, Suhl und Eisenach öffentlich die Aufhebung der Präsenzpflicht an den Schulen in Thüringen. Paula mag ihre Schule. Geboren wurde sie in Berlin, später gings nach Washington und nun leben sie in Weimar. „Ständig die Schule wechseln, das ist wirklich ätzend“, sagt sie. Ein paar Monate auf Präsenzunterricht zu verzichten hingegen, das ist dann halb so schlimm. Ob sich ihre Noten verschlechtert haben? Wenn überhaupt, dann sind sie besser geworden, sagt sie.
Eigentlich wollte Paula nach dem Abi nach Südafrika und sich dort um Wildtiere kümmern. Eigentlich ist Südafrika gerade aber auch ein eher schwieriger Ort, sagt sie, „so coronamäßig“. Also lieber nach Rom, dort will sie als Au-pair einer alleinerziehenden Mutter im Alltag helfen. Italienische Wörter, die sie schon kann: Bella und Ciao. Den Rest möchte sie vor Ort lernen, auf einer Sprachschule. Wird schon gutgehen.
Paula und ihre Klassenkamerad:innen fangen mittlerweile wieder an zu planen: Die Abientlassung soll stattfinden (der Direktor hat sie sogar gefragt, ob sie die Rede halten will), die Abifahrt soll stattfinden (als Roadtrip nach Italien), das Leben nach dem Abitur, auch das soll stattfinden.
Bevor ich gehe, sagt Paula: „Corona hat mich gar nicht so sehr ausgebremst. Ich glaube, meine wichtigsten Jahre kommen erst noch.“
Als ich Weimar verlasse, recherchiere ich, ob Paula damit die Ausnahme ist. Dass es Jugendlichen so gut geht, sie so unbeschwert und optimistisch sind, mitten in der Pandemie, kann das sein?
Die neue Sinus-Studie der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung erscheint, während ich auf dem Weg zu meiner nächsten Station bin. Sie liest sich erstaunlich positiv: Der Jugend geht es nicht schlecht, sie ist aber auch nicht euphorisch, lautet ein Fazit. Der Großteil (81 Prozent) blickt trotz Corona weitgehend optimistisch in die eigene Zukunft. Und mehr als zwei Dritteln geht es derzeit sogar gut oder sehr gut, so wie Paula.
Es gibt aber auch Studien, die zeigen, dass ich zu Recht zweifle: 71 Prozent der befragten Kinder und Jugendlichen seien durch die Corona-Krise psychisch belastet, berichtete etwa die Copsy-Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf schon 2020. Fast jedes dritte Kind leidet während Corona an psychischen Auffälligkeiten, finden die Forscher:innen ein Jahr später heraus. Deutlich mehr als zuvor.
Meine Reise geht weiter Richtung Süden. Vier Tage habe ich noch vor mir. Tage, an denen ich lernen werde, wie belastend die Pandemie für junge Menschen sein kann: Wenn der schulische Druck alles überschattet. Wenn sie panische Angst vor dem nächsten Lockdown haben. Und wenn sie mit jeder neuen Woche Pandemie immer mehr den Eindruck bekommen, ihnen höre doch sowieso keiner zu.
Zweiter Halt: Unter Druck
In den Weinbergen von Baden-Baden ist es stockduster. Patrick, 16 Jahre alt, leuchtet sich mit der Handytaschenlampe den Weg ins Trainingszentrum. Heute gehts in den Kraftraum. Beim Aufwärmen läuft eine Punkversion von Nenas „99 Luftballons“. Kurz ans Theraband, dann an die Hanteln. Auspowern, alles rauslassen.
Patrick hat ein breites Kreuz, trägt Hoodie und hellblonde Haare. Die zwei Kilo schwere Diskusscheibe, sagt er, habe ihn durch die Lockdowns gerettet. Patrick ist Kaderathlet in Baden. Deshalb durfte er schon wieder trainieren, als die meisten anderen Jugendlichen noch zu Hause hocken mussten. Er trainiert mittlerweile weniger, sagt er: nur noch fünf Mal die Woche. „Ich liebe meinen Sport, aber der Druck aus der Schule bleibt ja der gleiche.“
Zwei Wochen zuvor saß Patrick am Abendbrottisch und sagte zu seiner Mutter: „Ich kann mich nicht erinnern, wann Schule zuletzt Spaß gemacht hat.“
Patricks Mutter rief deshalb eine ansässige Jugend-Psychotherapeutin an, sie mache sich Sorgen. Keine Chance: „Ich würde Ihrem Sohn gerne helfen, mit ein paar Sitzungen“, soll die Therapeutin gesagt haben, „aber ich schaffe es kaum, die schweren Fälle, die suizidgefährdeten Jugendlichen, zu versorgen.“
Vor zwei Jahren, vor Corona, kam Patrick noch zurecht. Er hatte ein paar Probleme in Mathe und Physik. Aber sonst lief es ganz gut. Während Corona schmieren seine Noten ab. „Der zweite Lockdown hat mich richtig mitgenommen. Im Dunkeln aufstehen, sich im Dunkeln an den Schreibtisch setzen. Mal war Onlineunterricht, mal nicht.“
Mit dem Lernen am Bildschirm kam er kaum zurecht, lenkte sich ständig ab. In die Schule durfte er damals nur, um Klassenarbeiten zu schreiben. „Es geht immer nur um Noten“, sagt er. Vor den Pfingstferien schrieb er erst eine Fünf und dann eine Sechs in Mathe. Er beschloss, die Schule zu wechseln.
Auf dem beruflichen Gymnasium kam er besser klar. Aber der Druck blieb. Er brach sich beim Basketballspielen die Hand, konnte nicht trainieren. Wie sehr ihn das eingeschränkt hat, bemisst er in verpassten Klassenarbeiten: „Nicht so schlimm. Ich musste nur eine Arbeit nachschreiben.“
Doch auch in der neuen Schule nahm der Druck bald zu. Als die Schüler:innen ihre Schulleiterin baten, eine Bio-Arbeit zu verschieben, soll sie geantwortet haben: „Wenn ihr mit drei Arbeiten pro Woche nicht klarkommt, seid ihr wohl auf der falschen Schule.“
Dabei dachte Patrick, endlich auf der richtigen Schule zu sein.
Während er das erzählt, kontaktiert seine Schwester Mia, 14 Jahre alt, ihre Mathe-Nachhilfelehrerin. In den nächsten acht Tagen wird Mia fünf Arbeiten schreiben: erst Geographie, dann Mathe, Englisch, Italienisch und Französisch. Sie versteht das alles nicht so richtig: Sinus, Cosinus, Wurzelgleichungen, Corona.
Im Lockdown stand Mia manchmal erst zwei Minuten vor Unterrichtsbeginn auf. Dann klickte sie sich in die Videokonferenz und schlief wieder ein, für zwei bis drei Stunden. Erst im Präsenzunterricht merkte sie, wie viel Stoff sie so verpasst hat. In der achten Klasse blieb sie fast sitzen.
All das, was an Schule Spaß macht, fällt aus, sagt Mia: die Berlin-Reise, der Frankreich-Austausch, der Italien-Austausch. Alles abgesagt. Eine Klassenarbeit wurde nie abgesagt.
Als sich Patrick nach dem Training um 22 Uhr die Treppen hoch Richtung Zimmer schleppt, ist Mia immer noch nicht wieder zuhause. Erst eine halbe Stunde später wird sie durch die Haustür kommen. Und auch die beiden folgenden Abende wird sie mit einem Schulfreund am Schreibtisch sitzen und lernen.
Die Politik hat den Jungen ein großes Versprechen gemacht: Die Schulen schließen nie wieder zuerst, immer erst zuletzt und nur, wenn alle anderen Maßnahmen ausgereizt sind. Die neue Familienministerin Anne Spiegel (Die Grünen) kündigte nach ihrer Ernennung als Erstes an, Kinder in der Pandemie besser zu unterstützen.
Erneute Schulschließungen wären eine enorme Belastung. Eine Omikron-Welle in den Schulen wäre eine enorme Belastung. Die Debatte über offene Schulen ist eine enorme Belastung. Und mittendrin versuchen junge Menschen junge Leben zu führen.
Dritter Halt: Panik
Am dritten Tag meiner Reise soll es nach Bergisch Gladbach gehen. Hier möchte ich die fünfzehnjärige Lucy und ihren kleinen Bruder Milo treffen. Lucy hat eine Angststörung. Sie litt schon vor Corona, aber die Lockdowns hätten ihre Situation verschärft, sagt die Mutter. Lucys Bruder Milo, zwölf Jahre alt, ist zu Beginn der Pandemie in eine Wohngruppe gezogen, um besser mit seinen Depressionen klarzukommen. Nun ist er alle zwei Wochen in Quarantäne, weil in der Wohngruppe ständig jemand Kontakt mit Infizierten hatte. Und zum ersten Mal hat Milo Angst, dass er deshalb Weihnachten nicht bei seiner Familie sein kann. Ich bin noch in Baden-Baden, als die Mutter mir schreibt: Lucy vermutet, Corona zu haben. Der Besuch muss leider ausfallen.
Am nächsten Tag rufe ich stattdessen bei Babsi Winkler an. Babsi ist Erzieherin an einer Brennpunktschule in einer westdeutschen Großstadt. Dort betreut sie zehn Kinder und deren Familien.
Ich habe Babsi zu Beginn der Pandemie neun Monate lang begleitet. Sie heißt nicht wirklich so, aber sie erzählte mir Geschichten, die sie mir nicht erzählen durfte. Ich wollte von ihr wissen: Wie geht es den Kindern, für die Zuhause kein sicherer Ort ist? Damals sagte sie: „Ab vier Uhr nachmittags verkümmern die Kinder. Und wenn die nicht in die Schule gehen, dann verkümmern die den ganzen Tag.“
Ich kann Babsi nicht besuchen, auch sie wartet auf das Ergebnis eines PCR-Tests. Wir sprechen deshalb nur am Telefon miteinander.
Den Kindern, die sie betreut, gehe es zunehmend schlechter, erzählt sie. Die Schulen seien offen, aber auch Grundschüler bekämen mit, wie die Stimmung im Land ist, sagt sie. Normalerweise treffen sich Babsi, ihre Kinder, die Eltern und der Schulleiter einmal die Woche zum Frühstück. Es geht um Zahnarzttermine, Pausenbrote, Haferbrei, Wecker stellen. All das sind keine Selbstverständlichkeiten in diesen Familien, sagt Babsi. Seit die Corona-Pandemie begonnen hat, hat keines dieser Treffen mehr stattgefunden.
Babsi erzählt vom neunjährigen Hakim, der so gerne Blockflöte spielen wollte. Monatelang versuchte sie ihm einen Platz an der Musikschule zu organisieren und jemanden zu finden, der das bezahlt. Sie hat es geschafft. Seitdem geht Hakim jede Woche mit einem fetten Grinsen im Gesicht zum Unterricht.
Als sie ihn begleitet, um zu hören, was er schon alles kann, erzählt er, wie er zu Hause üben muss: vor der Tür. „Wenn der das Wort Lockdown auch nur hört, kriegt er Panik in den Augen“, sagt Babsi.
Babsi erzählt auch vom zehnjährigen Jason, der auf seinen zweijährigen Bruder aufpassen müsse, während seine Mutter schlafe. Jason stehe morgens alleine auf und mache sich alleine Frühstück: ein abgepacktes Schokobrötchen.
Babsi sagt, sie habe die Eltern immer wieder zu überzeugen versucht: Der Junge muss spielen, der Junge braucht Obst, der Junge braucht eine Psychotherapie. Aber die Eltern seien stur geblieben. Sie fühlen sich wohl angegriffen und meldeten Jason von Babsis Maßnahme ab. Seitdem sei Jason allein, sagt Babsi. Wenn er sie auf dem Schulhof trifft, halte er ihre Hand und sage: Ich vermisse dich.
Das ist schlimm, sage ich zu Babsi. Aber hat das was mit Corona zu tun? Sie antwortet: „Das hat nichts mit Corona zu tun. Und gleichzeitig alles.“ Nicht nur Corona schränkt die Kinder ein. Armut schränkt die Kinder ein. Fehlende Unterstützung schränkt die Kinder ein. Politische Sparmaßnahmen in der Jugendhilfe schränken die Kinder ein.
Im ersten Lockdown standen Kinder vor Babsi, die völlig verwahrlost gewesen seien, sagt sie. Die mitten am Tag Schlafanzug trugen, die Angst vor ihren eigenen Eltern hatten. Mittlerweile hat die Kriminalstatistik bestätigt, was Babsi täglich erlebt: 2020 gab es deutlich mehr Gewalt gegen Kinder.
Zwei Drittel der befragten Kinder der aktuellen Sinus-Studie geben an, dass ihre Familie ihnen am meisten dabei geholfen habe, mit der Pandemie umzugehen. Babsis Schulkinder gehören zu dem anderen Drittel. Sie sind mit ihren Geschichten die Ausnahme.
Babsi sagt: „Ich habe einfach die Befürchtung, wenn es nochmal zu einem Lockdown kommt, werden meine Kinder daran zerbrechen.“
Vierter Halt: Ausgefallen
In Brinkum bei Bremen sitzt Charlotte, 15 Jahre alt, an ihrem E-Piano und spielt „Amazing Grace“. Sie übt erst seit ein paar Monaten, sie spielt vorsichtig, zurückhaltend, noch gehorchen ihr nicht immer beide Hände gleichzeitig. Eigentlich sollte sie das Stück bei einem Vorspiel in der Musikschule aufführen. Stattdessen spielte sie es ihrer Oma am Telefon vor. „Die findet das super“, sagt Charlotte ganz anders als sie Klavier spielt: bestimmt, selbstbewusst, laut. „Aber Oma findet immer alles super.“
Es gibt einen Satz, den Familie Thom sehr häufig sagt, als wir miteinander reden: „Eigentlich sind wir ja privilegiert.“ Und sie haben Recht: Der Vater leitet eine IT-Firma, die Mutter arbeitet als Schulassistentin und wurde während der Pandemie weiter bezahlt. Im Lockdown kommt es zu Hause nur selten zum Streit.
Je länger ich mit Charlotte, Linus, 11, Lilli, 18, und deren Freund Felix, 20, rede, desto mehr verstehe ich aber: Selbst, wenn man privilegiert ist, ist Corona noch lange nicht vorbei. „Die Jahre 2020 und 2021“, sagt Charlotte, „werden nicht als die Corona-Jahre in Erinnerung bleiben, sondern als die Jahre, in denen das Zeltlager der Jugendfeuerwehr ausgefallen ist.“
Charlottes elfjähriger Bruder Linus musste ein Jahr darauf warten, bei der Jugendfeuerwehr einzutreten. Niemand durfte das Feuerwehrhaus betreten. Wenn einer der Feuerwehrleute erkrankt – wer soll dann die Feuer löschen?
Während Corona wechselte Linus auf die weiterführende Schule. Nach der vierten Klasse gab es kein Abschlussfest, die Klasse setzte sich in der Mensa in einen Kreis (mit Abstand!) und verabschiedete sich. Am Anfang der Fünften gab es auch keine Kennenlernfahrt. „Viele Dinge sind irgendwie einsam passiert“, sagt er.
Die älteste Schwester, Lilli, setzte in dieser Zeit auf ihren Realschulabschluss noch einen erweiterten Abschluss drauf, um eine Chance aufs Abitur zu haben. Auch an der Berufsschule gab es keine Abschlussfeier, keine Abschlussfahrt, die meisten ihrer Klassenkamerad:innen hat Lilli nicht kennengelernt und kaum gesehen. „Wir sind gar keine richtige Klasse geworden“, sagt sie. „Die Schule war einfach zu Ende, irgendwann.“
Vor Corona war Lilli eine 16-Jährige, die jedes Wochenende mit ihren Freund:innen in Clubs feiern ging. Samstags arbeitete sie im Baumarkt, ging danach fix duschen, ein bisschen Schminke und dann zum Vorglühen. Als ihr Lieblingsclub nach dem Lockdown zum ersten Mal wieder öffnete, standen eine halbe Stunde nach Ladenöffnung schon 200 Menschen in der Schlange. „Das war super-seltsam“, sagt Lilli rückblickend. „Ohne Maske, ohne Abstand, das hat sich frei angefühlt, aber auch total falsch.“
Heute ist Lilli eine 18-Jährige, die Plätzchen backt, Filme guckt, Spieleabende liebt. Sie geht nicht mehr in Clubs. Ihr Vater sagt: „Wir haben hier 18-jährige Spießer rumsitzen! Das kann ich kaum mit angucken!“
Lilli sagt: „Ich habe nur die Hoffnung, dass ich, bevor ich älter werde, nochmal was erleben kann.“
Fünfter Halt: Ungehört
Als ich auf dem Weg von Bremen nach Wismar bin, tagen die Kultusminister:innen. Ändern sie wegen der Omikron-Variante ihre Strategie? Nein. „Das Offenhalten der Schulen und Hochschulen hat weiterhin höchste Priorität, um das Recht der Kinder, Jugendlichen und jungen Menschen auf Bildung und Teilhabe zu gewährleisten“, sagt die Präsidentin der Kultusministerkonferenz Britta Ernst.
Mehr als das kommt von den Kultusminister:innen seit Monaten nicht. Die Frage nach dem Wohlergehen der Kinder und Jugendlichen wird auf eine einzige Entscheidung reduziert: Schulen offen lassen oder nicht.
Als ich in einem Dorf bei Wismar ankomme, fragt mich die sechzehnjährige Neele: „Haben die Politiker eigentlich in den letzten zwei Jahren einmal gefragt, was wir wollen? Also wir Schüler?“ Die Wörter purzeln aus ihr heraus, als hätte sie sie schon viel zu lange für sich behalten.
Schon vor Corona stimmten 71 Prozent der Jugendlichen laut Shell-Studie folgender Aussage zu: „Ich glaube nicht, dass sich Politiker darum kümmern, was Leute wie ich denken“.
Neue Studien, wie die JuCo-Studien, zeigen: Die Beteiligungsmöglichkeiten von jungen Menschen wurden in der Pandemie noch weiter ausgesetzt. Nicht mal Schülervertretungen konnten das Schulleben noch mitgestalten. All das ist kein glorreicher Ausblick, wenn man bedenkt, dass die Jugend die Zeit ist, in der man lernt, wie Demokratie funktioniert – oder eben auch nicht.
Neele sagt, sie kann sich eigentlich nicht beschweren, ihr und ihrer Familie gehe es ja gut. Aber: „Die Politik redet über ihre Interessen, nicht über uns Kinder!“
Im ersten Corona-Winter, als offene Fenster plötzlich als Kinderschutz galten, stellte Neele als Klassensprecherin ein Thermometer in der Klasse auf. Wenn das Fenster geöffnet ist, seien schon mal nur vier Grad, sagt sie. Im normalen Unterricht betrage die Temparatur zwischen zwölf und 18 Grad. „Warum gibt es sowas wie Arbeitsschutz eigentlich nur für Erwachsene? Warum gibt es keine offiziellen Regeln, was uns Kindern zugemutet werden kann?“, fragt sie wütend wie eine Sechszehnjährige, anklagend wie eine Gewerkschaftsvertreterin.
Manchmal fährt Neele morgens in die Schule und sieht dann: Fast alles fällt aus, nur die siebte und achte Stunde finden statt. Entweder sind die Lehrer:innen selbst krank oder deren Kinder. Und auch viele Schüler:innen fehlen. „Mehr als zwei Drittel der Klasse sind eigentlich nie da.“ Das Problem, sagt Neele: Wenn man jetzt fehlt, verpasst man alles. Man kann online nichts nachholen. Denn Distanzunterricht gibt es nicht mehr.
In der Schule lesen Neele und ihre Freund:innen sich die neuesten Corona-News vor. „Mittlerweile hat sich sowas wie Hass entwickelt“, sagt sie. Was sie sich vom nächsten Jahr erhofft? „Es wäre schön, wenn man irgendwas auch mal selbst entscheiden könnte.“
Letzter Halt: Gespalten
Junge Menschen fühlen sich nicht gehört. Oder werden einfach vergessen: Angela Merkel hatte mehrfach öffentlich versprochen, dass alle Bürger:innen bis zum Sommer 2021 ein Impfangebot bekommen haben werden. Die Kinder scheinen nicht zu diesen Bürger:innen zu gehören. Sie blieben unerwähnt.
Die Impfung sollte die vierte Welle verhindern. Es kam anders. Zu wenige Erwachsene ließen sich impfen. Seitdem teilt sich die Gesellschaft in Geimpfte und Ungeimpfte. Diese Spaltung trifft jetzt auch Kinder.
Paula aus Weimar erzählt von einer Freundin, die sie nicht mehr besuchen will. Die sei ungeimpft. Dass die Freundin ohnmächtig werden würde, wenn sie Maske tragen müsse, nimmt Paula ihr nicht mehr ab.
Patrick aus Baden-Baden erzählt von seinem besten Freund, der sich nicht impfen lassen wolle. Er habe versucht, ihm zu zeigen, dass das Bullshit ist, habe ihm Artikel geschickt. Aber der bleibt bei seiner Meinung. „Das tut mir im Herzen weh“, sagt Patrick.
Keines von Babsis Kindern aus der Schule ist bisher geimpft. Weil für die unter Zwölfjährigen die Impfung gerade erst losgeht, klar. Aber vor allem, weil sich die Eltern mit dem Thema Impfen noch gar nicht auseinandergesetzt haben. Die meisten hätten sich seit Beginn der Pandemie noch nicht ein einziges Mal getestet. Ihr Alltag findet nicht dort statt, wo man geimpft oder getestet sein muss.
Lilli aus Brinkum erzählt, dass sie vor allem deshalb nicht mehr feiern gehe, weil ihre ungeimpften Freund:innen nicht in die Clubs kämen. Sie versucht, das Thema so selten wie möglich anzusprechen.
Und Neele aus Wismar sagt: Gäbe es Ungeimpfte in ihrem Freundeskreis, wären die nicht mehr in ihrem Freundeskreis.
Meistens, das erzählen alle, folgen die Kinder und Jugendlichen den Einstellungen ihre Eltern. Die müssen am Ende sowieso entscheiden.
Die Impfung für Kinder ist das Licht am Ende des Pandemietunnels. Die Spaltung der Gesellschaft in Geimpfte und Ungeimpfte macht vor den Schulen dieses Landes aber keinen Halt. Es ist die nächste Zumutung für die Kinder, die seit mittlerweile zwei Jahren zurückstecken. Das war so nicht abgemacht.
Redaktion: Lisa McMinn, Fotoredaktion: Till Rimmele, Schlussredaktion: Susan Mücke, Audioversion: Christian Melchert und Iris Hochberger