Philippe Wampfler ist Deutschlehrer an einer Kantonschule in Zürich und Dozent für Fachdidaktik Deutsch an der Universität Zürich. In dem Buch „Eine Schule ohne Noten“ beschreiben er und sein Co-Autor Björn Nölte, warum sie Zensuren für wenig sinnvoll halten: Sie seien intransparent, schlecht fürs Lernen, demotivierend und hingen gerade einmal zur Hälfte von der erbrachten Leistung ab, argumentieren die Autoren. Nur: Was genau bedeutet das? Und: Was ist die Alternative?
Ich habe Wampfler nicht nur um eine Erklärung gebeten – sondern auch die Krautreporter-Leser:innen gefragt, was aus ihrer Sicht gegen seine Idee spricht. Ich habe ganze 763 Antworten bekommen. Mit diesen Einwänden habe ich Philippe Wampfler konfrontiert und ihn gefragt, wie stichhaltig – und vor allem wie realistisch – seine Forderung wirklich ist.
Als wir sprechen, sitzt Wampfler in einer schalldichten Telefonzelle in seinem Lehrerzimmer. Wir haben uns für ein Videogespräch verabredet. Es ist später Nachmittag, er trinkt Espresso, später steht noch ein Elternabend an. Wampfler wird heute bis 21.30 Uhr in der Schule bleiben.
Herr Wampfler, was war die letzte Note, die Sie vergeben haben?
Ich musste einen Text bewerten, in dem es um die Erfahrungen der Schüler:innen mit schweizerdeutschem Dialekt ging. Der Schüler, den ich zuletzt benotet habe, hat eine 5 bekommen.
Oh, echt? Mist.
Das ist in der Schweiz eine gute Note, die zweitbeste sogar. Hier ist der Notenspiegel umgekehrt und geht von 6 bis 1.
Achso, und wie haben Sie das entschieden?
Ich verwende mittlerweile Rubriken in der App Microsoft Teams, die automatisch die Note berechnen. Da muss ich kaum noch was machen, wenn ich die Kriterien angekreuzt habe. Zum Schluss überlege ich: Stimmt das überein mit meinem Bauchgefühl? Ich habe als Lehrer ein Gefühl dafür, was die richtige Note für eine bestimmte Leistung sein sollte.
Ein Bauchgefühl? Kein Wunder, dass Sie sagen, Noten seien nicht objektiv.
Dass die Bewertung von Deutschaufsätzen subjektiv ist, sagen ja viele. Aber das ist in allen anderen Fächer auch so! Da tun wir nur so, als seien Noten objektiv. Dabei sind sie scheingenau. Und das ist nur eine von vielen offensichtlichen Schwachstellen von Noten.
Sie halten es für grundfalsch, Noten zu vergeben. Warum?
Ich habe zahlreiche Gründe, der weitreichendste ist: Sie sind überflüssig geworden. Denken Sie mal an die Zeit nach der Schule. Wenn ein Unternehmen eine wirklich gute Human-Resources-Abteilung hat, achtet diese nicht mehr auf Noten. In der digitalen Gesellschaft kommt es auf Kommunikation und Zusammenarbeit an. Noten, die diese Kompetenzen gar nicht abbilden können, sind heute nicht mehr zeitgemäß – in den 1970ern hingegen waren sie das noch. Damals dachte man, man müsse jede Rechnung im Kopf können, weil man nicht jederzeit einen Taschenrechner dabei haben könnte. Heute wissen wir: Das stimmt nicht mehr. Andererseits glauben wir immer noch, so prüfen zu müssen, als würden wir nicht jederzeit jemanden anrufen können, der uns helfen kann. Wie viele Informationen haben Noten, die so zustande kommen, für die heutige Welt?
Studien zufolge hat fast die Hälfte aller Schüler:innen Angst vor schlechten Schulnoten …
Jetzt könnte man sagen: Wer sich genug anstrengt, wer gute Leistung bringt, muss auch keine Angst haben. Aber das stimmt nicht. Es gibt Untersuchungen, die versuchen, die Leistung von Schüler:innen standardisiert zu messen, die PISA-Studie ist eine davon. Wenn man die Ergebnisse dann mit den Schulnoten der Schüler:innen vergleicht, merkt man: Die Noten bilden die Leistung gar nicht richtig ab.
Warum nicht?
Da ist zunächst mal der Einfluss der eigenen Klasse. Eine sehr gute Schülerin in einer sehr guten Klasse kann eine schlechtere Note bekommen als eine eigentlich schlechtere Schülerin in einer schwachen Klasse. Dann hängt es auch davon ab, wie die Lehrkräfte die Schüler:innen wahrnehmen. Das wiederum hängt von der Beziehung zum Schüler ab, von Vorurteilen, von Verzerrungen, von der Herkunft der Eltern. Und dann ist es auch einfach Zufall: Mag der Lehrer die Aufgabenstellung, die dir besonders liegt, nicht – weil er da so viel zu korrigieren hat? Ich zum Beispiel mag entdeckendes, diskursives Lernen, bei dem Lernende begründen und reflektieren. Das mögen aber nicht alle Schüler:innen, viele würden gern einfach mal eine Antwort hinschreiben, bei der ich dann sage, ob sie richtig oder falsch ist – ohne sie begründen zu müssen.
Am Ende lassen sich nur etwa 50 Prozent einer Note auf die tatsächliche Leistung zurückführen.
Sie wollen sagen, sonderlich viel kann ich nicht für meine Abiturnote?
Ich weiß, das ist eine Zumutung. Aber es wird noch schlimmer: Die Leistung hängt auch noch von den Genen ab. Nehmen wir mal den Sportunterricht. Man kann sich schon fragen, wie sinnvoll es ist, zwei Menschen beim Hochsprung zu vergleichen und zu benoten, wenn der eine 20 Zentimeter kleiner ist als der andere. Was genau haben diese beiden Jungs davon? Dem Lernen ist das nicht zuträglich.
Sie sagen, Noten verhindern Lernen sogar. Wie meinen Sie das?
Die Aufmerksamkeit und die Gefühle richten sich auf die Noten statt aufs Lernen. Die Prüfungen sind heute sehr an Wissensvermittlung angelehnt, an den Stoff, den Schüler:innen „können“ sollen. Die Notenvergabe ist nicht Teil des Lernprozesses, sie beendet den Lernprozess. Die Tatsache, dass eine Note gegeben wird, suggeriert: Dieses Thema ist jetzt beendet, jetzt kommt das nächste.
Mehr zu dem Thema:
- „Die heutigen Prüfungen braucht kein Mensch!“
- Die vier Säulen des Lernens
- Dieser verdammte Lärm! Eine öffentliche Verteidung des Lehrerjobs
Irgendwann muss man doch kontrollieren, ob jemand ein Thema verstanden hat.
Ideal wäre es, wenn alle Schülerinnen und Schüler dazu gebracht werden, eine gute Leistung zu bringen – egal, wie lange sie dafür benötigen. Beim Schwimmkurs wirft man die, die noch nicht schwimmen können, auch nicht einfach ins tiefe Wasser, weil das jetzt als Nächstes dran ist. Die würden ertrinken! In anderen Fächern tut man das aber: Dort ersetzt man die Unterstützung, die diese Schüler:innen bekommen sollten, durch eine Bewertung. Es geht nicht mehr darum, was die Schüler:innen können sollten, sondern nur noch darum, ihren bisherigen Stand zu messen. Ich finde, das ist pädagogisch nicht verantwortungsvoll.
Aber sind dann wirklich Noten das Problem – oder die Lehrkräfte, die unfair bewerten?
Lehrkräfte sind abhängig von dem System, in dem sie arbeiten. Sie können nach drei verschiedenen Normen bewerten. Es gibt einerseits die soziale Norm: Beim 100-Meter-Lauf bei den Olympischen Spielen gewinnen die drei Personen eine Medaille, die als Erste im Ziel sind. Man vergleicht also die vorhandene Gruppe.
Dann gibt es die kriteriale Norm: Wenn jemand bei der Führerscheinprüfung bestimmte Leistungen erbringen kann, kriegt er einen Führerschein. Egal, wie gut andere Prüflinge sind, man vergleicht die einzelnen Prüflinge nicht miteinander.
Und das Letzte ist die individuelle Norm: Wenn jemand seinen Wortschatz in einer Fremdsprache um 100 Vokabeln erweitert, dann ist das eine bemerkenswerte Leistung, auch wenn der Wortschatz bestimmten Anforderungen noch nicht genügt oder im Vergleich mit anderen noch klein ist – die lernende Person hat einen Fortschritt gemacht.
Für Schulnoten gibt es also keine einheitliche Norm?
Die Normen gehen immer durcheinander, bei jeder Art von Prüfung. Das führt zu Ungerechtigkeiten, dazu, dass meine Fortschritte nicht anerkannt werden oder dass die Kriterien, um eine gute Note zu bekommen, diffus sind. Eine einzelne Lehrkraft kann sich da wahnsinnig anstrengen, Gerechtigkeit herzustellen – am Ende schafft sie es nicht.
Das muss doch wahnsinnig anstrengend sein: Sie fordern öffentlich, Noten abzuschaffen, vergeben aber täglich selbst welche.
Ich gebe so wenig Noten wie möglich. Und ich versuche, möglichst gute Noten zu geben, so gut, wie ich damit durchkomme bei der Schulleitung.
Wie viel Spielraum haben Sie da?
Im Schweizer System haben wir recht viel Freiraum. Ich muss ungefähr pro Semesterlektion eine Note erteilen. Ich lasse nichts systematisch aus, sondern kommuniziere klar, was benotet wird – aber halt nicht mehr, als absolut notwendig ist. Das machen Kolleg:innen teilweise anders. Die schreiben dann mehrere Aufsätze und ich nur einen. Mündliche Noten mache ich, aber mit klaren Kriterien, Gesprächen und Selbsteinschätzungen der Schüler:innen.
Ich versuche, den Schüler:innen gegenüber deutlich zu machen, dass Noten keine absolute Beurteilung ihrer Leistung sind. Wenn sie nicht zufrieden sind oder etwas anders sehen, können sie mir das auch sagen.
Wenn die Schüler:innen sich besser einschätzen als Sie, berücksichtigen Sie das? Wo ist da die Grenze?
Ich muss schauen: Steht das jetzt noch im korrekten Verhältnis zu den Leistungen der anderen Schüler:innen? Da gibt es schon Grenzen, wo ich sagen würde: Nein, im Vergleich mit den anderen bist du nicht so gut, wie du dich selbst einschätzt. Ich lade die Klassen aber immer ein zu sagen, was die wichtigen Kriterien für die Leistung sind. Bei einem Text könnten Kriterien sein, dass er lustig ist, dass persönliche Erfahrungen vorkommen, dass er Fachinformationen vermittelt. Wenn ich das mit Klassen diskutiere, wird klar, worum es bei einer Schreibaufgabe überhaupt geht.
Dann kann man bei der Note besser entscheiden, ob diese Kriterien erfüllt sind. Und wenn das tatsächlich der Fall ist, dann bin ich dazu geneigt, die Note zu verändern. Aber eigentlich möchte ich, dass Schüler:innen beim Abgeben einer Prüfung oder beim Einreichen einer Leistung schon selbst wissen, wie gut ihre Leistung war. Ich glaube, dass sie das selbst beurteilen können.
Sie denken, dass ein Schüler oder eine Schülerin nach dem Test beim Abgeben sagen kann: Das wird eine Zwei. Oder: Das wird eine Vier?
Nicht nur das – sondern auch, dass sie sich diese Note auch gleich selbst geben können, weil die Kriterien und Erwartungen so transparent sind. So wie Erwachsene bei dem, was sie beruflich tun, ein genaues Gefühl für die Qualität haben.
Was ist dann die Alternative zu Noten? Irgendeine Art des Feedbacks braucht es ja.
Die Alternative ist jedenfalls nicht ein anderes kodiertes System. Einfach eine verbale Beurteilung zu schreiben, löst das Problem nicht, wenn ich statt einer Ziffernnote kopierte Absätze einfüge. Das Gleiche gilt für Emojis, Farben oder andere Skalen, die Noten durch Symbole ersetzen.
Für mich sind Dialoge die Lösung. Lehrkräfte sprechen mit Schüler:innen über ihre Leistung und bringen die Schüler:innen dazu, Verantwortung für ihr Lernen zu übernehmen und zu reflektieren. Sie sollen wissen: Was muss ich tun, um einen Schritt weiterzukommen?
Und wenn mal jemand anderes wissen will, was Schüler:innen können? Die Uni, ein Unternehmen, die Eltern?
Ich finde Portfolios können diese Funktion gut erfüllen. Schüler:innen stellen dort digital aus, was sie können und was sie bisher alles gemacht haben. Sie erstellen eigentlich einen eigenen Leistungsausweis, ohne sich dabei von anderen Personen abhängig zu machen. Wer sich dafür interessiert, kann sich das Portfolio anschauen. Und der Jugendliche kann sagen: Seht her, das habe ich gezeichnet und das ist mir wichtig. Das enthält doch viel mehr Informationen als wenn ich sage: Im Zeichnen habe ich die Note 2 bekommen.
Haben Sie Ihre Schüler:innen mal gefragt, ob sie Noten wollen oder nicht?
Meine Schüler:innen sind mir gegenüber schon kritisch. Die meisten finden gut, dass kein Druck entsteht, dass sie nicht zu Prüfungen gezwungen werden. Aber die kritischen sagen, dass es ohne Noten weniger Verbindlichkeit gebe. Sie nehmen das Thema nicht ganz so ernst, wie sie es nehmen würden, wenn es benotete Wissensprüfungen gäbe. Sie sagen auch, dass es für sie bequemer wäre, wenn ich einfach ganz normal Noten geben würde. Ich verlange viel Reflexion. Den direkten Weg – lernen, prüfen, benoten – hätten sie manchmal lieber.
Laut einer Umfrage von Focus Online waren 2019 mehr als 60 Prozent der Deutschen eher oder auf gar keinen Fall dafür, dass Noten durch schriftliche Rückmeldungen ersetzt werden. In Berlin zum Beispiel kann jede Schule selbst entscheiden, bis zur neunten Klasse auf Noten zu verzichten – das macht nur kaum eine Schule.
Viele meiner Schüler:innen und ihre Eltern sind interessiert daran, Bewertung anders zu denken und sich von mir überzeugen zu lassen. Ich spreche nicht für eine Mehrheit, das weiß ich. Aber ich spreche aus, was wissenschaftlicher Konsens ist – auch wenn die Mehrheit noch nicht so denkt. Seit 50 Jahren dokumentieren Studien, dass Noten nicht so funktionieren, wie Menschen denken. Da braucht es Aufklärung und ein Bewusstsein.
Abgesehen davon, dass es keine Mehrheit in der Gesellschaft gibt – wer verhindert denn, dass der wissenschaftliche Konsens, von dem Sie sprechen, umgesetzt wird?
Menschen, die Bildungspolitik machen, waren meistens gute Schüler:innen. Das führt dazu, dass Erwachsene, die gute Erfahrungen mit Noten gemacht haben, darüber bestimmen, ob es weiterhin Noten geben sollte. Einzusehen, dass die eigenen guten Noten gerade mal zur Hälfte auf die eigene Leistung zurückzuführen sind, ist eine wahnsinnige Kränkung.
Zweitens orientieren sich viele Menschen, die entscheiden, wie Schule funktionieren soll, an ihren eigenen Erfahrungen. Und die sind verklärt. Negative Erlebnisse sind dann plötzlich ein notwendiges Leid auf dem Weg, den sie gegangen sind.
Und drittens gibt es Systemabhängigkeiten, die jede kleine Änderung erschweren. Wir könnten jetzt auf Noten verzichten, aber wie erfolgt dann die Auswahl der Studienplätze? Ohne Noten müssten wir auch das neu regeln. Und schon brauchen wir plötzlich einen riesigen Aufwand, müssen das ganze System verschieben und erneuern und dann sagt man: Wir lassen lieber alles so, wie es ist.
Eine gewisse Vergleichbarkeit brauchen wir doch auch, es können ja nicht alle Arzt oder Rechtsanwältin werden.
Es spricht ja nichts dagegen zu sagen: Wenn du studieren willst, musst du das und das können. Das hat aber nichts mit Noten zu tun, sondern damit, Qualifikationen klar zu benennen. Erklären Sie mir doch mal, warum wir Medizinstudienplätze nach Abiturnote vergeben. Was hat die Note in Kunst oder Erdkunde damit zu tun, wie gut jemand als Ärztin wäre? Noten abzuschaffen heißt ja nicht, dass es keine Vergleiche mehr geben kann. Die Noten sind nur eine Art, Vergleiche aufzuschreiben. Aber keine besonders gute.
Für den Arztberuf klingt das logisch. Aber wie entscheiden wir etwa über Schulabschlüsse? Wer im Abi in Deutschland schlechter als 4,0 ist, ist durchgefallen.
Es muss am Ende eine Art Abschlussnachweis geben, das sehe ich ein. Vielleicht wäre es aber ehrlicher zu sagen: Wir machen standardisierte Abschlussprüfungen – und dazwischen geben wir einfach keine Noten, sondern bereiten alle Schüler:innen darauf vor, das Nötige zu können. So entziehen wir die Lehrkräfte dem permanenten Konflikt, gleichzeitig unterstützen und beurteilen zu müssen. Und immer zu entscheiden: Entspricht das jetzt der achten Klasse oder sollte der Schüler sitzenbleiben?
Also, Klassenstufen auch einfach abschaffen?
Es gibt Schulen, die machen das. Da lernt man nicht unbedingt mit denen zusammen, die gleich alt sind, sondern mit denen, die in dem jeweiligen Fach auf deinem Niveau sind.
Selbst wenn das so umsetzbar wäre – Kinder vergleichen sich auch ohne Noten ständig miteinander. Warum sollte man ihnen das wegnehmen?
Das ist nicht bei allen Kindern so. Wenn ein Junge jedes einzelne Spiel gegen seinen größeren Bruder im Mario Kart verliert, hat der keine Lust, jeden Tag gegen ihn zu spielen. Er hat immer dann Lust, sich zu vergleichen, wenn er auch mal die Chance hat zu gewinnen. Wer in der Schule Woche für Woche, Jahr für Jahr in Mathe mit anderen verglichen wird, die immer besser sind als man selbst, und ständig schlechte Noten dafür bekommt, der hat irgendwann schlichtweg keine Lust mehr. Der ist frustriert.
In meiner Umfrage haben trotzdem mehrere Hundert Teilnehmer:innen gesagt, Noten hätten sie in der Schule motiviert.
Entweder ein Schüler ist motiviert oder nicht. Ein Anreiz von außen ändert daran kaum etwas. Studien belegen gut: Sobald man an Arbeitsplätzen externe Anreize schafft, zum Beispiel durch mehr Lohn, führt das langfristig zu mehr Fehlern. Denn die Mitarbeiter:innen konzentrieren sich dann nicht mehr darauf, das zu machen, was am besten für die Lösung einer Aufgabe ist, sondern darauf, das zu machen, was zu mehr Lohn führt.
So ist es auch in der Schule: Schüler:innen machen nicht das, worauf sie Lust haben oder was am besten fürs Lernen wäre, sondern das, was zu guten Noten führt.
Wir haben das früher Bulimie-Lernen genannt.
Genau. In der Nacht vor der Klausur wird sich nochmal alles an Stoff reingeprügelt. Hängen bleibt davon nichts, aber das ist auch nicht das Ziel. Die gute Note ist das Ziel.
Dialoge, Reflexion, Portfolios – ihre Ideen klingen ja ziemlich gut, aber uns fehlen Zehntausende Lehrer:innen und die, die noch da sind, haben schon jetzt kaum genügend Zeit. Wie soll das gehen?
Meine Idee ist idealistisch und utopisch, klar. Viele Lehrkräfte sind überfordert, schlecht qualifiziert oder haben zu wenig Zeit. Da ist es schwierig zu sagen: Wir machen jetzt etwas, das noch mehr Zeit benötigt. Das leuchtet mir völlig ein. Und gleichzeitig ist das System viel flexibler als viele denken.
Was macht Ihnen Hoffnung, dass in 50 Jahren nicht jemand in einem Buch fordert, Noten abzuschaffen und in diesem Buch auf das Buch von Philippe Wampfler und Björn Nölte verweist? Die wollten schon damals, 2021, Noten abschaffen!
Ich arbeite an einer traditionsreichen Handelsschule. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hat man an meiner Schule darüber diskutiert, ob es auch schriftliche Prüfungen geben sollte. Die älteren Lehrkräfte haben gesagt: „Nein! Wer kompetent prüfen will, prüft mündlich!“ Das ist heute unvorstellbar. Das Schulsystem verändert sich. Für Ungeduldige wie mich geht das nur niemals schnell genug.
Danke an jede:n einzelne:n der 763 Teilnehmer:innen, die mir in meiner Umfrage gesagt haben, was aus ihrer Sicht gegen die Abschaffung von Noten spricht. Eine viel bessere Vorbereitung kann ich mir als Journalist für so ein Interview nicht wünschen!
Redaktion: Lisa McMinn, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Till Rimmele, Audioversion: Christian Melchert und Iris Hochberger