Bis 24 Uhr sitzen Dieter Bachmann und seine Klasse am Lagerfeuer, dann hat Hasan Geburtstag. Zwei seiner Mitschülerinnen kommen zum Feuer, sie tragen einen Kuchen, auf dem zwei große Kerzen Hasans neues Alter formen: 14. Die Klasse singt „Happy Birthday“ auf Deutsch, dann auf Bulgarisch, dann auf Türkisch. Sie hätten es noch in diversen anderen Sprachen singen können: Die Schüler:innen der 6b kommen aus Kasachstan, Marokko, Rumänien, Brasilien, Russland, Deutschland – 19 Kinder aus insgesamt zwölf Nationen.
Die Doku „Herr Bachmann und seine Klasse“ ist ein Porträt über ein Deutschland, das die AfD immer noch als Schreckgespenst inszeniert, das aber schon längst Realität ist. Zum Beispiel im hessischen Stadtallendorf, im Kreis Marburg-Biedenkopf, wo die Doku gedreht wurde. Eine kleine Industriestadt mit Migrationsgeschichte bis zurück in die NS-Zeit, heute Multikulti – und wie!
Die Doku von Regisseurin Maria Speth ist aber auch ein 3,5-stündiges Nachdenken darüber, was es heißt, heute Lehrer:in zu sein. Wer da denkt? Die Zuschauer:innen. Es gibt keine Stimme aus dem Off, niemanden, der das Gesehene einordnet oder kommentiert. Das muss man schon selbst machen, aber man hat ja die Zeit. Und es lohnt sich.
„Manchmal bin ich unzufrieden“, sagt Bachmann im Film, „weil ich denke, man müsste die Kinder mehr trimmen. Weil ich denke: Was lernen die, wenn sie den ganzen Tag jonglieren oder Schlagzeug spielen? Dann denke ich, sie müssten mehr Mathe und Deutsch lernen. Und dann gehts mir nicht gut, weil ich dann gegen die Kinder arbeite.“
Was sie beim Jonglieren und Schlagzeugspielen lernen, zeigen die anderen 215 Minuten der Doku, in denen sie lachen, schreien, ausprobieren, üben und weinen. Denn eigentlich pfeift Dieter Bachmann auf Konventionen: Er trägt Mütze, gehäkelt, auch im Unterricht. Ein ausgewaschenes ACDC-T-Shirt, darunter Kapuzenpullover. „Ich piss in den Fluss! Ich fress gleich meine Mütze!“, ruft er, wenn die Kinder eine Antwort nicht wissen. Peter Lustig in cool und mit Bassgitarre. Die ist ständig im Bild. Der Unterricht, das „konzentrierte Lernen“, wie Herr Bachmann ihn nennt, wird eingerahmt von Musik, und alle machen mit.
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Die Doku zeigt, was in Schulen möglich ist, wenn Noten, Prüfungen und Humankapital mal nicht im Mittelpunkt stehen. Und sie ist erfolgreich: Bei der Berlinale gewann sie sowohl den Publikumspreis als auch den Silbernen Bären. Sie inspiriert, weil Herr Bachmann sich traut, wovon viele nur träumen.
Die Geschichten der 19 Kinder sind Geschichten, die es in Deutschland zuhauf gibt, die aber nur selten in der Öffentlichkeit besprochen werden. Da ist Ayman aus Marokko, der seine Familie vermisst: „Sonst gehen wir ein Mal im Jahr dahin, dieses Mal sind wir aber zwei Jahre nicht hingegangen.“ Seine Lehrerin Aynur Bal, die neben Herrn Bachmann auch immer wieder zu sehen ist, dreht sich weg, als Ayman das erzählt. Sie schnieft laut, sie weint. Ein Schüler dreht sich zu ihr und hält ihr ein Taschentuch hin – selbstverständlich. Die Kamera hält immer drauf, 240 Stunden Material hatten die Filmemacher:innen im Gepäck, als sie die Kleinstadt in Hessen wieder verließen.
Wenn Kinder Filme schauen, rufen sie den Schauspieler:innen manchmal etwas zu: „Hinter dir! Pass auf!“ In den 3,5 Stunden hätte ich das am liebsten auch immer wieder gemacht: den Kindern etwas zugerufen. Plötzlich war ich Teil der Klassengemeinschaft. Ayman, Ferhan, Hasan, Jamie, Tim – und Bent.
Herr Bachmann ist sich für keine Frage zu schade und die Kinder schämen sich für keine ihrer Antworten. Willst du mal heiraten?, fragt er sie. Oder: Wie soll deine Traumfrau aussehen? Welchen Beruf willst du mal haben? Sind bei euch zuhause oft Besucher? Wäre es wichtig für dich, dass dein Mann auch mal die Spülmaschine ausräumt? Warst du schon mal verliebt?
Dieter Bachmann hört zu, er ist den Kindern nah, und er ist da, wenn sie ihn brauchen: Wer einen schlechten Tag hat, bekommt einfach mal drei Schokokekse geschenkt. Und wer einen guten Tag hat, wird gelobt, auf Bachmanns Weise: „I am your fan! I love you!“
Die Dokumentation ist geduldig, weil Dieter Bachmann geduldig ist. Dabei war es nie sein Traum, Lehrer zu werden. Seine Frau war schwanger, jemand musste Geld verdienen. „Schule als Institution“, sagt er, „hat mich von Anfang an befremdet.“ Er konnte sich nicht vorstellen, dass er nicht hochkant wieder rausfliegt. Mittlerweile ist er seit 17 Jahren an der Schule. Er sagt: „Meine längste Beziehung.“
Seine sechste Klasse ist eine besondere: Im darauffolgenden Schuljahr gehts für die Schüler:innen entweder auf die Hauptschule, die Realschule oder zum Gymnasium. Am letzten Tag vor den Sommerferien hält Herr Bachmann eine Ansprache an seine Schüler:innen. Man müsste sie ausdrucken und zu jedem Zeugnis in Deutschland dazulegen, als Packungsbeilage gegen die Risiken und Nebenwirkungen unseres Schulsystems:
„Diese ganzen Zeugnisse sind natürlich nur Momentaufnahmen. Das seid ihr nicht wirklich. Ihr seid alle ganz andere Menschen. Diese Noten zeigen überhaupt nichts von euch. Das sind nur Momentaufnahmen von eigentlich sehr nebensächlichen Dingen wie Mathematik und Englisch. Viel wichtiger ist, dass ihr alle tolle Kinder seid.“
Die Doku ist keine Nebensächlichkeit, ihr solltet sie sehen. Sie läuft bereits in deutschen Kinos. Hier könnt ihr euch einen Trailer anschauen.
Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Till Rimmele.