Markus Lanz rutscht auf seinem Stuhl vor und zurück. Kurz zuvor hat ihm Karin Prien, Schleswig-Holsteins Bildungsministerin, erklärt, warum es keine deutschlandweite Kita-Pflicht geben kann: Bildung sei nunmal Ländersache.
Wenn das so sei und Frau Prien für diese Kitapflicht sei – warum führe sie diese in ihrem Bundesland dann nicht ein?, fragt der ZDF-Moderator.
Prien: „Ich bin halt für die Kitas nicht zuständig. Dafür ist die FDP zuständig.“ „Das ist doch irre“, sagt Lanz. So gehe das Spiel immer weiter.
Er meint das Spiel der weitergeschobenen Verantwortung, wenn es um Bildung geht. Nie ist jemand zuständig und nie jemand schuld, wenn etwas schief geht.
Insbesondere seit die Corona-Infektionszahlen in Deutschland regelmäßig in die Höhe gehen, bekommt der Bildungsföderalismus die Wut von Eltern und Lehrkräften ab. Anfang Januar, während der zweiten Infektionswelle, verkündete Bundeskanzlerin Angela Merkel gemeinsam mit den Ministerpräsident:innen noch, dass der Lockdown auch weiterhin für Schulen gelte. Nicht einmal 48 Stunden später war von der Ansage nicht mehr viel übrig.
Ein Bundesland nach dem nächsten gab bekannt, wie unterschiedlich eine gemeinsame Strategie aussehen kann. In Bremen wurde die Präsenzpflicht zwar ausgesetzt, aber dringend appelliert, die Kinder in die Schule zu schicken. In Berlin begann das große Chaos: Schulen zu, Schulen auf. Es hagelte öffentliche Kritik an Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD), partei-interne Streitereien entbrannten, dann folgte das große Zurückrudern: Schulen doch wieder zu. Plötzlich waren in Deutschland nicht nur die Bildungschancen vom Bundesland abhängig – sondern auch das Infektionsrisiko.
Bald ist Bundestagswahl. Und wie üblich ist Bildungspolitik kaum ein Thema. Und natürlich stellt sich die Frage: Was kann die nächste Bundesregierung schon ausrichten, wenn für Bildung die Länder zuständig sind?
Betrachtet man die Bildungspolitik der vergangenen zehn Jahre, zeigt sich aber ein überraschendes Bild: Bildung ist schon lange keine klassische Ländersache mehr. Immer mehr große Projekte wurden aus Berlin initiiert, Bildungspolitik hat sich zentralisiert. Auch, weil die großen Herausforderungen sich gleichen, ob im Saarland oder in Berlin – überall.
Die wichtigsten Bildungsprojekte wären ohne den Bund undenkbar gewesen
Eigentlich darf der Bund sich in Sachen Bildung nicht einmischen, es herrscht sogar ein Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern. Die großen Vorhaben der Bildungsrepublik Deutschland der vergangenen zehn Jahre kamen trotzdem nicht etwa aus der Kultusministerkonferenz. Dort einigte man sich zwar darauf, von G9 zu G8 zu wechseln (und wieder zurück) und Abituraufgaben künftig deutschlandweit aus einem gemeinsamen Pool zu stellen.
Die drei wirklich großen bildungspolitischen Vorhaben der vergangenen Jahre waren aber andere. Es waren Projekte, die Deutschlands Schulen langfristig verändern werden und darüber entscheiden, ob Schüler:innen für die Zukunft gewappnet sind. Und bei allen hat der Bund eine entscheidende Rolle gespielt.
Projekt 1: Das Recht auf Ganztagsbetreuung
Schon die zweite Schröder-Regierung pochte 2003 darauf. Aber Bund und Länder einigten sich erst Anfang September 2021 in letzter Minute. Grundschüler:innen haben Anrecht auf einen Platz in der Ganztagsbetreuung. Bisher gilt das nur in einzelnen Bundesländern, vor allem in Ostdeutschland, in Hamburg und Berlin.
Nach aktuellem Plan soll die Ganztagsschule für alle Grundschulkinder in Deutschland verfügbar sein, die ab Sommer 2026 eingeschult werden. Ministerien und Verbände schätzen, je nach Berechnung, dass zwischen 600.000 und einer Million Betreuungsplätze fehlen, um diesem Anspruch gerecht zu werden. Diese Plätze zu schaffen, wird sicher teuer. Bis zuletzt stritten sich die Länder mit dem Bund darüber, wer das bezahlt. Einige Länder fanden, der Bund wolle zu wenig dazugeben. Zuletzt einigten sie sich darauf, dass sich der Bund zunächst mit 3,5 Milliarden Euro an den Kosten beteiligt. Anschließend soll er mit 1,3 Milliarden Euro pro Jahr die laufenden Kosten mittragen.
Ganztagsbetreuung für alle Grundschüler:innen – ohne den Bund wäre das undenkbar.
Projekt 2: Die digitale Schule
Der Digitalpakt ist die teuerste Investition, die es jemals in deutschen Schulen gab. Er sollte Deutschlands Schulen endlich digital ausstatten. Im Jahr 2016 wurde das Vorhaben zum ersten Mal angekündigt, damals noch von Bundesbildungsministerin Johanna Wanka (CDU), 2019 wurde der Digitalpakt schließlich beschlossen. Drei Jahre lang stritten die Länder also mit dem Bund: Die Länder befürchteten, dass sich der Bund zukünftig noch öfter einmischen würde, und blockierten das Vorhaben – bis sie einsahen, dass ohne das Geld vom Bund nicht viel passieren würde.
Der Deal, auf den sie sich einigten, klang so: Fünf Milliarden investiert der Bund, 500 Millionen geben die Länder dazu. Mit Corona wurden noch dreimal je 550 Millionen Euro versprochen und in Zusatzvereinbarungen festgehalten. Erstens sollen damit Tablets für Schüler:innen gekauft werden. In einem zweiten Schritt soll Geld für IT-Administration bereitgestellt werden. Ein drittes Paket soll Lehrer:innen mit Geräten ausstatten.
Digitale Schulen – ohne den Bund undenkbar.
Projekt 3: Das Corona-„Aufholprogramm“
Zu wenig Lehrkräfte, schlecht ausgestattete Schulen, verpasste Inklusion; es ist nicht so, dass das Schulsystem einen weiteren Stresstest brauchte. Corona kam trotzdem. Zu all den offensichtlichen Schieflagen kommen nun noch Grundschüler:innen, die über Monate hinweg keinen richtigen Unterricht hatten.
Bildungsforscher Aladin El-Mafaalani sagte dem Evangelischen Pressedienst: „In Grundschulen lernen Kinder die kulturellen Grundtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen. Wenn diese im Krisenmodus, über Distanz und virtuell vermittelt werden sollen, ist das ein großes Problem.“
Zwei Milliarden Euro will der Bund 2021 und 2022 in das Programm „Aufholen nach Corona“ investieren. Eine Milliarde, um Nachhilfe im Lesen und Rechnen zu bezahlen. Eine weitere, um die sozialen und psychischen Folgen zu bewältigen.
Schüler:innen nach der Pandemie unterstützen – auch das wäre ohne den Bund wohl kaum bezahlbar.
Die Forderung wird immer lauter, dass der Bund mehr entscheiden soll
Noch vor 20 Jahren wäre das Einmischen des Bundes in diese Projekte ein Skandal gewesen. Denn den Föderalismus gibt es in Deutschland schon lange und eigentlich aus gutem Grund.
Bis 1871 bestand Deutschland aus vielen selbständigen Feudalstaaten und freien Reichsstädten. Sie alle hatten ihre eigene Kultur- und Bildungspolitik. Auch als das Deutsche Reich 1871 gegründet wurde, änderte sich daran nichts. Dann kamen die Nazis. Gewaltsam zentralisierten sie Kultur und Bildung, um ihre Ideologie in Kunst, Schulen und Hochschulen zu verbreiten. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs entschieden die Alliierten, dass es in einem derart zentralen System zu einfach ist, Ideologien aufzuzwingen. Kultur und Bildung wurden wieder föderal organisiert und der Bund im Grundgesetz mit strengen Auflagen belegt, die sich bis heute auswirken.
Diese Auflagen fasst man heute unter einem Schlagwort zusammen: „Kooperationsverbot“. Dieses Verbot wurde aber schon mehrfach aufgeweicht; zuletzt, um den Digitalpakt umzusetzen. Der Bund darf seitdem auch Kommunen helfen, die nicht finanzschwach sind.
Den Streit darüber, ob Bildung Ländersache bleiben sollte, gibt es seit Jahren. Winfried Kretschmann, grüner Ministerpräsident in Baden-Württemberg, stellte Anfang des Jahres in einem Interiew mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland sogar das Bundesbildungsministerium infrage: „In Baden-Württemberg gibt es ja auch kein Außenministerium.“ Wenn es nach Kretschmann ginge, hätte Bildungsministerin Anja Karliczek (CDU) bald keinen Job mehr, selbst wenn die CDU an der nächsten Regierung beteiligt wäre. Karliczek hält dagegen: Der Bund müsse sich mehr, und nicht weniger einmischen dürfen.
Auch die Bürger:innen halten nicht mehr viel vom derzeitigen Bildungsföderalismus. Das war schon vor dem Schulchaos während der Corona-Pandemie so. Diese Daten stammen von 2019:
Aber was, wenn man statt der Bildungsministerin die Kultusminister:innen entmachtete? Mal angenommen, es gäbe bundesweit die gleichen Lehrpläne. Die Schule wäre nicht nach Bundesland organisiert und am Ende schrieben alle die gleichen Prüfungen. Das wäre einheitlicher und weniger anstrengend für Eltern und Kinder, die vom einen in ein anderes Bundesland ziehen. Es wäre auch gerechter, denn Bildung sollte nicht davon abhängen, welche Postleitzahl man hat.
Der internationale Vergleich mit zentral gesteuerten Bildungssystemen allerdings zeigt: Staaten, die ihre Bildung zentral organisieren, sind nicht unbedingt besser aufgestellt. Und Länder wie die Schweiz und Kanada, die wie Deutschland föderal organisiert sind, können bei PISA genauso an der Spitze stehen.
Der Bund könnte auch komplett darauf verzichten, in Bildungsfragen mitzuentscheiden. Das Geld, das er für Bildungs-Großprojekte ausgibt, stammt sowieso aus Steuern, die von den Ländern an Berlin abgeführt werden. Statt dieses Geld erst einzusammeln und dann wieder zu verteilen, könnte er es den Ländern auch selbst überlassen. Das wäre das glatte Gegenteil der aktuellen Debatte – allerdings strebt das keine Partei derzeit ernsthaft an.
Würde sich durch dieses Umverteilen an Verantwortung Bildung verbessern? Würden Kinder dadurch mehr lernen? Besser schreiben und rechnen können?
Wie die Parteien zum Bildungsföderalismus stehen
Ob Bildungspolitik zentral organisiert werden sollte, ist derzeit eine rein theoretische Überlegung. Den Plan, die Bildungspolitik komplett zu zentralisieren, hegt keine der größeren Parteien. Und ohne die Zustimmung des Bundesrates, also der Länder, könnte eine so massive Grundsatzentscheidung auch nicht beschlossen werden.
Die Parteien, die zur Bundestagswahl antreten, haben aber unterschiedliche Vorstellungen davon, wie (und ob) sich die Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern verändern muss.
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Die Union „bekennt sich zum bewährten Bildungsföderalismus.“
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Die SPD ist für eine „Weiterentwicklung der Bund-Länder-Zusammenarbeit“ und für die „Einführung von Sozialkriterien“, damit das Geld von Bund und Ländern da ankommt, wo es gebraucht wird.
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Die Grünen wollen „die Zusammenarbeit zwischen Bund, Ländern und Kommunen verfassungsrechtlich absichern.“
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Die FDP fordert „eine Reform des Bildungsföderalismus und eine Grundgesetzänderung, damit Bund und Länder zusammen für die Sicherstellung der Qualität, die Leistungsfähigkeit und
die Weiterentwicklung des Bildungswesens wirken können.“ -
Die Linke will „das Kooperationsverbot komplett aufheben und Bildung als Gemeinschaftsaufgabe im Grundgesetz verankern.“
Dieses strukturellen Änderungen hätten tatsächlich konkreten Einfluss auf die Bildung. Denn wenn grundsätzlich geklärt ist, ob – und wenn ja, wie – der Bund bei Bildungsfragen mitsprechen darf, werden Streits um die Verantwortung unwahrscheinlicher, die Projekte um Jahre nach hinten verschieben.
Bildung hängt auch von der nächsten Bundesregierung ab
Bildung ist schon heute vor allem auf dem Papier: Ländersache. Die großen bildungspolitischen Vorhaben der letzten Jahre findet man in den Koalitionspapieren der vergangenen Bundesregierungen. Und die Vorhaben der nächsten Jahre werden im Koalitionspapier der kommenden Regierung stehen. Diese Bundestagswahl entscheidet also durchaus darüber, in welche Richtung es geht – und ob Deutschlands Bildungssystem nach 20 verpassten Jahren endlich gerechter wird.
Zu tun gäbe es genug. Auch die drei oben beschriebenen Großprojekte sind noch lange nicht zu Ende gebracht.
Für die Ganztagsbetreuung fehlen zehntausende Erzieher:innen und Lehrkräfte. Die Tablets und Infrastruktur, die die Schulen dank des Digitalpakts bekommen haben oder bekommen werden, veralten irgendwann. Spätestens dann wird neues Geld gebraucht. Und Grundschüler:innen sollten nicht nur in den nächsten zwei Jahren wegen der Pandemie mehr Hilfe in Schreiben und Rechnen bekommen – Defizite gab es schon vor Corona. Die bereits angestoßenen Veränderungen werden ohne den Bund keinen Bestand haben.
Die wohl größte Herausforderung für das Bildungssystem steht sogar noch an. Das zeigt eine neue Studie des wohl bekanntesten deutschen Bildungsforschers Klaus Klemm. Der hat für den Deutschen Gewerkschaftsbund untersucht, was sich seit dem großen PISA-Schock 2001 verändert hat. Die Erkenntnis damals: In keinem Land war das Ausmaß sozialer Ungleichheit unter den Schüler:innen so groß wie in Deutschland. Unser Schulsystem ist ungerecht.
Fast zwanzig Jahre später, bei der PISA-Untersuchung 2018, hat sich die Situation immer noch nicht verbessert: Deutschland belegt unter den inzwischen 36 teilnehmenden OECD-Staaten Platz 33.
„Ein echter Fortschritt ist nicht erkennbar“, schreibt der Bildungsforscher in seinem Gutachten. Ob das so bleibt, hängt auch von der nächsten Bundesregierung ab. Denn auch das Großprojekt Bildungsgerechtigkeit werden die Länder nicht allein stemmen können.
Redaktion: Thembi Wolf, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Till Rimmele, Audioversion: Christian Melchert