Ich bin zehn Jahre alt, es ist mitten in der Nacht. Meine Freunde und ich rennen über den dunklen Fußballplatz zu den Toiletten. Dort entwerfen wir unseren Schlachtplan: Erst zu den Mädchenzelten! Wenn ein Betreuer kommt, hinter den Zelten verstecken! Und zur Not: Zwischen die anderen legen und so tun, als würden wir schlafen! Wir checken noch kurz unsere Ausrüstung: Eddings. Heute Nacht wird angemalt!
Eine Toilettentür geht auf. Unser Zeltbetreuer Torben steht breit grinsend hinter uns. „Ihr seid ein paar Amateure!“, er schüttelt den Kopf. „Ich habe nichts gehört. Macht, was ihr wollt, aber lasst euch nicht erwischen!“
Und wir ließen uns nicht erwischen.
Vor acht Wochen, ziemlich genau 18 Jahre später, sitzen Torben und ich uns bei Zoom gegenüber. Mittlerweile leiten und organisieren wir gemeinsam mit einem dritten Kollegen das Zeltlager am Stocksee, in dem wir als Kinder so oft selbst waren. 150 Kinder, circa 25 Betreuer:innen, seit über 60 Jahren fährt der Sport-Club Itzehoe in Schleswig-Holstein jeden Sommer für zwei Wochen ins Naturschutzgebiet beim Stocksee. Da gibt es Wald, einen See, den weiten Himmel und sonst: nichts. Nur ein einziges Mal blieben wir zuhause. 2020, klar, wegen Corona.
Für viele Menschen ist Sommer = Zeltlager, und Zeltlager = unbeschwerte Kindheit. Für mich auch. Auf der Ferienfreizeit am Stocksee war ich das erste Mal richtig verliebt, mit 13 Jahren, hier kenterte ich das erste Mal mit dem Kanu (aus Versehen!), tanzte bis 23 Uhr in der ersten Disco meines Lebens und ließ mir die Angst bei der Nachtwanderung im Wald niemals anmerken. Hier baute ich mein erstes Lagerfeuer und schoss mein bisher wichtigstes und einziges Kopfballtor im Spiel gegen die Betreuer.
Wenn man all das zusammennimmt, was das Zeltlager kann, bekommt man das glatte Gegenteil von dem, was Kinder und Jugendliche in den vergangenen anderthalb Jahre erlebt haben: Abenteuer und Freundschaften, konzentriert auf 14 Tage im Sommer. Kann das klappen, mitten in der Pandemie? Mit weniger Kindern und weniger Betreuer:innen? Dafür mit Tests, achtseitigem Hygienekonzept und Notfallplan, falls wir einen positiven Test dazwischen haben sollten?
Vier Wochen vor Abfahrt entscheiden wir uns zu fahren. Trotz sorgenvoller Eltern und eigener Bedenken. Die ersten vier Tage testen wir durch. Einen Tag vor der Rückkehr noch einmal, um am nächsten Tag eine sichere Übergabe zu ermöglichen. Positive Tests: 0. Kinder mit Ferienfreizeit trotz Pandemie: 92.
Was fehlt Kindern während der Corona-Maßnahmen? Die Bilder, die während der zwei Wochen entstanden sind, liefern einen Teil der Antwort.
Rätsel lösen, Lieder gurgeln und sogar komplizierte Matheaufgaben lösen (und das freiwillig!) – beim Kerzenabend geht es vergeichsweise ruhig zu.
Offiziell kentern die Kanus immer nur aus Versehen. Wie gesagt, offiziell.
Während der zwei Wochen sind Handys verboten. Klar, die Betreuer:innen wissen auch, dass Kinder ab einem bestimmten Alter ihr Handy trotzdem dabeihaben. Aber schon das Verbot sorgt dafür, dass sie ihr Handy – wenn überhaupt – erst abends benutzen können. Niemals die alte Regel vergessen: Nur nicht erwischen lassen!
Im Zeltlager machen die Kinder im Alter von sieben bis 16 viele Dinge zum ersten Mal. Die erste richtige Disco, die erste gruselige Nachtwanderung, der erste Arschbombencontest oder, wie hier, das erste Mal Yoga.
Die meisten Betreuer:innen haben keine pädagogische Ausbildung und das ist vielleicht auch gut so. Manchmal schütten die Kinder Geschichten aus, die seit Jahren in ihnen brodeln.
Mit sogenannten Nerf Guns Gummigeschosse auf Plastikflaschen schießen und je nachdem, wie viele man trifft, eine lange oder kurze Runde laufen – das heißt im Zeltlager: Stocksee-Biathlon.
Bis zu zehn Kinder passen in ein Zelt. Logisch, dass sich da nicht immer alle sofort verstehen. Die Herausforderung: trotzdem zwei Wochen so miteinander umgehen, dass alle sich wohlfühlen. Da wird auch mal geschrien und geweint.
Trocken bleibt am Stocksee niemand. Regelmäßig kommt es zu geplanten und ungeplanten Wasserschlachten. Selbst unter Betreuer:innen gilt die Regel: Niemals mit dem Handy auf den Steg!
Wie tanzt man eigentlich zu Klassikern wie „Moskau“ von Dschinghis Khan oder „Das rote Pferd“? Bei der Open-Air-Disco lernen die Kinder auch das.
Als Betreuer:in im Zeltlager zu sein, ist stressig, anstrengend, lustig und manchmal schlammig. Wer zum ersten Mal mitfährt und sich halbwegs benimmt, wird von Neptun, dem Herrscher aller Meere, getauft, um so die ewige Bindung mit dem Stocksee zu besiegeln.
Mehrmals am Tag schallt es „Allgemeines Baden!“ durch die Lautsprecheranlage über den Platz. Keine drei Minuten später wird geplantscht, untergetaucht und vom Steg gesprungen.
Nach einer Woche standen zwei Mädchen hinter mir. Eins von ihnen sagte: „Wir kennen uns erst eine Woche, aber mir kommt es vor, als würden wir uns schon ein Jahr kennen!“
Beim Lagerzirkus traut sich Keven, vor allen Kindern Gitarre zu spielen und dazu „Ring of Fire“ von Johnny Cash zu singen. Nicht ein Kind schreit dazwischen, alle hören ruhig zu.
Das große Lagerfeuer am letzten Abend bauen die ältesten Kinder tagelang auf. Ein Geburtstagskind und die jüngte Teilnehmerin dürfen das Feuer mit einer Fackel anzünden. Drei Lieder dauert es, bis alle still sind und ins Feuer schauen. Beim vierten Lied liegt sich die Hälfte der Kinder schon weinend in den Armen.
Fotos: Hanna Hartmann, Text: Bent Freiwald, Redaktion: Esther Göbel, Fotoredaktion: Till Rimmele, Schlussredaktion: Susan Mücke.