Sie waren ja immer schon tot. Sonst hätte man sie mal fragen können, die Autoren und Autorinnen der Weltliteratur, deren Werke Millionen von Schüler:innen in ihrer Schullaufbahn lesen, analysieren und interpretieren mussten.
Franz Kafka zum Beispiel. Was er denn geraucht hat, hätte ich ihn gefragt, um auf diese Idee zu kommen: Ein Mann wacht morgens auf, hat sich in einen Käfer verwandelt und seine größte Angst ist es nun, dass er nicht mehr arbeiten gehen kann. Sein Dasein als Insekt kommt bei seiner Familie nicht sonderlich gut an – er stirbt. Weltliteratur.
Oder Theodor Fontane. Theodor, hätte ich gefragt, das mit den langen Sätzen, die sich über ganze Absätze, teilweise ganze Seiten, wenn nicht gar fünfzehn Seiten am Stück (!) ausbreiten, mit eingeschobenen Nebensätzen, die bis ins letzte Detail die Beschaffenheit und den Charakter einer rot-blau-gefärbten, leicht nach unten gesenkten Tulpe beschreiben, die er gerade beim Schlendern durch die Brandenburger Landschaften entdeckte (es ist ein weites Feld!), Satzkonstruktionen, die sich selbst gegen diese Verwendung gewehrt hätten – wenn sie es denn könnten! – und hervorstechenden Erkenntnissen wie der, dass man nicht noch glücklicher werden wollen sollte, wenn man schon glücklich ist; das also mit diesen Sätzen, die kein Ende finden wollten und wirklich nur schwerlich so weit zurückzuverfolgen sind, dass man den kompletten Inhalt versteht – geht das nicht, naja, auch etwas kürzer?
Was haben sich Kafka und Fontane nur dabei gedacht?
Hoch und runter haben wir diese Frage gestellt, in unzähligen Deutschstunden so viel an Texten herumanalysiert, bis ich noch weniger verstand als vorher. Oft beschlich mich dabei dieses Gefühl: Ist ja alles schön und gut, was wir uns hier zusammendenken – aber wie viel davon stimmt am Ende? Sind unsere Überlegungen nicht doch etwas weit hergeholt? (Ein Gruß geht raus an meine ehemalige Deutschlehrerin, Frau Schürmann!)
Direkt nachfragen konnte man nicht, nie. Denn die Autoren (ja, es waren zu 99 Prozent Männer!) waren immer schon tot. Die Betonung liegt hier auf waren.
Tot sind sie zwar immer noch, aber die Abiturprüfungen in Deutsch und Englisch drehen sich mittlerweile auch um Literatur, die nicht schon ein paar Jahrzehnte oder Jahrhunderte auf dem Buckel hat. Heute liest man auch Texte von lebenden Autor:innen.
Das ist halbwegs neu. Ganz neu aber ist, dass Abiturient:innen diesen Autor:innen nach der Prüfung schreiben, hundertfach, tausendfach, sie loben, kritisieren, sie fragen, was sie sich dabei gedacht haben oder sie sogar verantwortlich machen. Zum Beispiel für das künftige Leben unter der Brücke, das durch die schlechte Note jetzt nicht mehr zu verhindern sei.
Das muss diese verhunzte neue Internetgeneration sein, die sich selbst öffentlich lächerlich macht, diese jungen Leute. Nein, Moment; wenn jemand diese These durchanalysieren würde: Sie sitzt nicht. Dahinter steckt viel mehr. Also schauen wir uns das Phänomen genauer an.
Der verwirrte Kolumnist der New York Times
Da wäre Farhad Manjoo. Manjoo ist ein US-amerikanischer Journalist, der 2020 in einer Kolumne für die New York Times die kalifornische Gesetzgebung für Einfamilienhäuser kritisiert. Ähnlich wie Anton Hofreiter von den Grünen. Manjoo hält diese Wohnweise für rückständig, sie verbrauche zu viel Platz, schreibt er. Die Veröffentlichung ist schon etwas her, sein Leben ging weiter wie immer. Bis Ende April unter einem von ihm geposteten Bild auf Instagram auf einmal Hunderte Kommentare eintrudeln. Auf Englisch, auf Deutsch, aufsässig.
Die Kommentare stammen von Abiturient:innen aus Nordrhein-Westfalen. Die nämlich sollten die Kolumne von 2020 im Englisch-Abitur lesen und analysieren, zumindest, wenn sie nicht eine der anderen beiden Aufgaben bearbeiten wollten, die zur Wahl standen.
Am selben Tag entdeckten sie Manjoo auf Instagram: „Your article is not exactly the yellow from the egg“, schreibt ein Schüler. Andere bleiben bei Deutsch: „Benutz doch Wörter, die es im Wörterbuch gibt, du H0nd!“
Manjoo ist verwirrt, bei Twitter schreibt er seinen 197.000 Followern:
https://twitter.com/fmanjoo/status/1385626083488239618
Das übersetze ich jetzt nicht auf Deutsch, den Abiturient:innen hat die Texte auch niemand übersetzt. Unter dem Tweet geht es weiter. „Du schuldest uns ein Abi, Bruder“, schreibt ein Schüler auf Deutsch.
Man muss fair sein: Manjoo benutzt wirklich komplizierte Wörter in seiner Kolumne. Er spricht von „little boxes made of ticky-tacky“, „suburban sprawl“ und „habitable charms“, er verwendet Wörter wie „befuddled“, „ritziest“ und „putative“. Hätte er sich beim Schreiben ja schon denken können, dass deutsche Abiturient:innen (und Journalist:innen) das nicht verstehen.
Der verständnisvolle Bestseller-Professor
Vier Tage später, wieder Nordrhein-Westfalen, dieses Mal: Pädagogik-Leistungskurs. Auf dem Prüfungsblatt ein Ausschnitt aus dem Buch „Mythos Bildung“ vom deutschen Soziologen und Erziehungswissenschaftler Aladin El-Mafaalani. Über das Buch habe ich schon bei Krautreporter geschrieben. „Schon kurz nach zwölf Uhr Mittag habe ich ein, zwei E-Mails bekommen, die ich nicht ganz verstanden habe“, sagt El-Mafaalani der Süddeutschen Zeitung, dann wurden es immer mehr.
„Bruder ich verzeih dir“, schreibt einer auf Instagram. Ein anderer: „Hör mir auf mit dem Franzosen!“ [Gemeint ist Pierre Bourdieu, Anm. d. Red.] Und El-Mafaalani antwortet. Er schreibt: „Aber Leute, einfacher kann man es nicht erklären! Schaut, was der große Pierre Bourdieu zum Habitusbegriff schreibt: Es sind ‚Systeme dauerhafter Disposition, strukturierte Strukturen, die geeignet sind, als strukturierende Strukturen zu wirken.“
Strukturierte Strukturen, die geeignet sind, als strukturierende Strukturen zu wirken. Ist klar. Anschließend gründet El-Mafaalani eine Selbsthilfegruppe für die „betroffenen“ Abiturient:innen.
Der Shitstorm, der keiner ist
Farhad Manjoo und Aladin El-Mafaalani sind nicht die einzigen Autoren, deren Texte in Abiturprüfungen drankamen. Der Journalist Marius Buhl sagt im Interview mit der Badischen Zeitung: „Ich habe ja gar nichts dazu beigetragen, außer diesen Text irgendwann einmal für den Tagesspiegel zu schreiben und ihn dann zu vergessen. Und auf einmal kamen diese ganzen Nachrichten.“
Die Schüler:innen geben sogar Ratschläge, hier dem Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaftler Oliver Nachtwey von der Universität Basel:
Was sind all diese Reaktionen der Abiturient:innen? Egal, ob sie auf Buhl, Manjoo oder Mafaalani einprasseln? Ein Shitstorm jedenfalls nicht. Marius Buhl sagt: „Mir haben bestimmt 150 Leute geschrieben. 99 Prozent der Kommentare waren positiv, was mich total gewundert hat.“ Und Aladin El-Mafaalani schreibt: „Von allen Nachrichten war höchstens eine von zehn unverschämt. Sehr viele waren witzig, manche zeugten von Interesse.“
Nur eine von zehn Nachrichten war unverschämt – wenn das immer der Durchschnitt in den sozialen Medien wäre: Halleluja! Da könnten sich die Erwachsenen ein Vorbild dran nehmen. In der digitalen Welt können Menschen miteinander kommunizieren, die vorher nicht miteinander kommunizieren konnten. Interaktion ist eine der großen Errungenschaften der digitalen Gesellschaft. „Dein Artikel hat mein Abi gefickt, danke für nichts.“ Auch das ist Interaktion, wenn auch keine Errungenschaft. Farhad Manjoo blieb trotzdem locker. Er antwortete: „Oh, I am sorry.“ Er kann ja nichts dafür.
Die Tausenden Kommentare waren in erster Linie ein Ventil, in einer Zeit, in der Ventile Mangelware sind – Corona sei dank: Auf der Abifeier abstürzen, sich volllaufen lassen, Drogen nehmen, beim Abistreich die Schule bemalen, sich die großartigste Zukunft ausmalen und noch am Tag der Abiprüfung die Aufgabenstellung vergessen – geht gerade alles nicht. Irgendwohin muss der Frust. Also warum nicht an den einzigen Ort, der derzeit ohne Abstandsregel zu betreten ist: das Internet. „Sein Instagram-Profil wurde eher als Plattform zur Kommunikation zwischen den Leuten genutzt, die die Klausur geschrieben haben“, sagt Joe, ein Abiturient, der Manjoo angeschrieben hatte, gegenüber dem Radiosender Deutschlandfunk Kultur. Die Reaktionen der Schüler:innen sind also ein Abiturstressbewältigungsventil.
Falls dieser Text mal Teil einer Abiturprüfung sein sollte: Das war ein Neologismus, weil das Phänomen so neu ist, dass es dafür noch kein passendes Wort gab. Nichts zu danken.
Die Reaktionen könnten auch Vorboten einer größeren Entwicklung sein, auch das: dank des Internets. Wenn Abiturient:innen in den Achtzigerjahren unzufrieden waren mit der Aufgabenstellung, konnten sie sich höchstens abends beim Bier mit ihren Mitschüler:innen darüber aufregen. Heute kann sich ein ganzes Bundesland zusammenschließen, über die sozialen Medien, innerhalb von zwei Tagen. Sie können die Plattformen nutzen, aus ihrem Ärger eine Petition mit über 8.000 Unterschriften starten und eine fairere Bewertung fordern.
Junge Menschen mischen sich ein in die Politik, das wissen wir spätestens seit den Klimaprotesten. Auch da spielen die sozialen Medien eine entscheidende Rolle. Vielleicht hören sie damit nicht auf, sondern knüpfen sich die nächste Krise vor: das Bildungssystem. Wenn Schüler:innen sich heute ärgern, wird es laut.
Der Autor, der es auch nicht besser weiß
Was hat sich der Autor dabei gedacht? Wollte man das Franz Kafka fragen, hätte man einen handgeschriebenen Brief losschicken müssen. Bis der ankommt, wären wahrscheinlich Wochen vergangen. Kafka war nicht bei Instagram. Heute reicht ein Kommentar auf Social Media. Eine Schülerin schreibt Farhad Manjoo auf Twitter:
„Ich frage mich, ob Autoren wie Sie, die am Ende Teil von Prüfungen sind, Ihre eigenen Schriften im gleichen Licht sehen wie wir. Wir sind da draußen und analysieren ihren Text: ‚Der Autor benutzt diese Metapher, um das Interesse des Lesers zu wecken.‘ Und Sie denken sich wahrscheinlich: ‚Lol ich habe das geschrieben, weil es sich nett anhörte.“
Manjoo antwortet ihr: „Haha, yeah pretty much.“
Ha! Diesen Dialog würde man ja am liebsten seiner ehemaligen Deutschlehrerin ausdrucken und mit einem großen „Ich wusste es schon immer!“ versehen. (Der zweite Gruß an Frau Schürmann geht hiermit raus!)
Aber wie langweilig wäre es, wenn Autor:innen von nun an ständig ihre eigene Kunst und Journalist:innen ihre eigenen Kolumnen erklären? Auch das wäre kein Garant für eine gute Note: Der Autor Saša Stanišić hat den Selbsttest gemacht. Im Hamburger Deutsch-Abi stand 2019 eine Aufgabe zu seinem Roman „Vor dem Fest“ zur Wahl. Nach eigenen Angaben schrieb er die Prüfung selbst mit, unter dem Pseudonym „Elisabeth von Bruck“. Die Lehrerin gab ihm 13 Punkte.
Was hat sich der Autor dabei gedacht?
Redaktion: Esther Göbel, Schlussredaktion: Susan Mücke; Bildredaktion: Till Rimmele; Audioversion: Iris Hochberger.