Eltern sind verzweifelt, Lehrkräfte auch, und die Schüler:innen versuchen irgendwie mitzuhalten – so ist die Situation nicht erst seit Corona. In den Schulen muss sich etwas verändern. Manche sagen: am besten alles. Aber wie? KR-Mitglied und Mediendidaktiker Axel Krommer sagt: Verändern wir die Prüfungskultur, verändert sich zwangsläufig auch der Unterricht – und damit das ganze Schulsystem. Deshalb hat er mit Kolleg:innen das Institut für Prüfungskultur gegründet. Ich wollte von ihm wissen, warum die meisten Aufgaben unintelligent gestellt sind, wieso sich Schüler:innen bei Klausuren unterhalten und ihr Smartphone benutzen sollten und warum wir in der Schule gar nicht die individuelle Leistung der Schüler:innen messen.
Herr Krommer, bei den meisten Prüfungen sitzen alle im gleichen Raum, haben die gleiche Zeit und schreiben auf gleiches Papier – gleicher wird es nicht im Klassenraum. Sie sagen, das ist ungerecht. Warum?
Lernen ist wie ein Marathon. Und Prüfungen sind wie die letzten 50 Meter dieses Marathons. Diese letzten 50 Meter sind uns als Gesellschaft wahnsinnig wichtig. Wir wollen genau wissen, wer als Erstes ins Ziel kommt. Wir kontrollieren ganz penibel, dass niemand etwas Unerlaubtes tut, wir wollen die Leistung jedes Einzelnen messen. Wir verlieren aber aus dem Blick, was davor passiert ist: Einige, die an dem Marathon teilnehmen, werden von ihrer Mutter mit dem SUV bis Kilometer 41 gefahren. Andere müssen die ganze Strecke barfuß laufen und tragen noch ihre Geschwister auf dem Rücken. In der Prüfung spielt das aber keine Rolle mehr. In dieser Situation tun wir plötzlich so, als sei der ganze Lauf fair, es laufen ja alle auf der gleichen Straße.
Prüfungen sind aber nur ein kleiner Teil von dem, was in der Schule passiert.
Das stimmt, aber wie schnell du ins Ziel kommst und wie gut du damit die letzten 50 Meter des Marathons schaffst, bestimmt über einen großen Teil deines weiteren Lebens: Ob du studieren darfst, ob Unternehmen dich annehmen, wie viel Geld du später verdienst. Der Leistungsgedanke legitimiert damit die Ungleichheit in der Gesellschaft: Das gute Ergebnis, die gute Note hat man sich ja verdient. Dann hat der eine eine Eins und der andere eine Drei. Der eine darf studieren und der andere eben nicht. Das ist fast schon zynisch. Der Gedanke, dass man bei Prüfungen individuelle Leistung misst, ist eine Illusion.
Warum das?
Die individuelle Leistung ist nicht unabhängig von der Leistung der anderen. Lernen ist ein sozialer Akt. Und trotzdem bringen wir die Schüler in der klassischen Prüfungssituation in genau solch eine Isolation, in der sie zurückgeworfen werden auf sich selbst.
Wenn es nur eine Illusion ist, dass Prüfungen die individuelle Leistung bewerten – warum dann überhaupt an Prüfungen festhalten?
Sie haben auch eine übergeordnete Funktion, und die hängt mit der gesellschaftlichen Rolle der Schule zusammen. Schule ist nicht identisch mit dem Gebäude, in dem sich Schüler und Lehrer treffen. Schule ist eine Institution und eine Institution ist Teil der sozialen Ontologie. Das heißt: Eine Schule ist kein Stein.
Da würde ich Ihnen jetzt spontan nicht widersprechen.
Was ich sagen will: Ein Stein ist ein Stein – egal, ob Leute daran glauben, dass es ein Stein ist. Er existiert einfach, niemand stellt ernsthaft infrage, ob es Steine gibt. Schulen hingegen existieren nur, solange wir daran glauben, dass es sie gibt. Das ist wie beim Geld: Der Geldschein in deiner Hand ist nichts wert, der Materialwert ist fast null. Aber dass er manchmal hundert, manchmal zwanzig, manchmal zehn Euro wert ist, hängt damit zusammen, dass wir kollektiv daran glauben.
Und glauben Sie daran, dass es Schulen gibt?
Ich glaube schon, dass es Schulen gibt, zumindest noch. Mein Punkt ist aber: Die Schulen existieren in dieser Form nur, solange genügend viele Leute an die Gültigkeit und den Wert der Abschlussprüfung glauben.
Was wäre, wenn wir nicht mehr an dieses System glauben würden?
Die Abschlussprüfungen sind der Tropf, an dem die Schule gesellschaftlich und institutionell hängt, ohne den sie ihre Legitimation, in dieser Weise, verliert.
Sie haben vor zwei Wochen mit Lehrer:innen, Professor:innen und Schulleitungen aber das Institut für Prüfungskultur gegründet, nicht das Institut für die Abschaffung von Prüfungen.
Das schließt sich nicht aus. Wir sind keine kompletten Idealisten; was wir machen, hat einen pragmatischen Anspruch. Der erste Schritt muss sein, Bewusstsein dafür zu schaffen, dass in der Prüfungskultur etwas schiefläuft. Langfristig kann das dazu führen, dass Tests in der Form, wie wir sie jetzt kennen, abgeschafft werden. Die heutigen Prüfungen braucht kein Mensch!
Das ist ihr Ziel?
In den 1960er, 70er Jahren wurde in universitären Seminaren noch geraucht. Wenn man die Bilder heute sieht, denkt man: „Meine Güte, wie konnten die das zulassen?!“ Meine Vision geht so: Wenn man in der Zukunft Bilder von Messehallen sieht, in denen 500 Schüler in Reih und Glied unter Zeitdruck handschriftlich geprüft werden, soll man genau dasselbe denken: „Wow, wie konnten die das nur zulassen? Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen!“
Wenn Sie recht haben und diese Prüfungen keine individuelle Leistung messen – was messen sie denn dann?
Ich vergleiche Schule heute gerne mit dem Chinese-Room-Szenario des Philosophen John Searle. In dem Szenario stellt Searle sich vor, ein Mann stehe allein in einem abgeschotteten Raum, in dem sich ein sehr ausführliches Handbuch befindet. Das Handbuch enthält simple Regeln, die dem Mann sagen, wie man mit chinesischen Schriftzeichen umgeht. Auf beiden Seiten des Raums befinden sich kleine Öffnungen. Hin und wieder schiebt jemand einen Zettel mit chinesischen Schriftzeichen durch eine der Öffnungen, der Mann nimmt den Zettel, befolgt die Regeln aus dem Handbuch, erzeugt so eine neue Kette chinesischer Schriftzeichen, schreibt sie auf einen neuen Zettel und schiebt den durch die andere Öffnung hinaus. Der Mann versteht kein Chinesisch und weiß deshalb auch nicht, dass der Input aus Fragen besteht und sein Output aus dazu passenden Antworten. Weil sein Output aber korrekt ist, denken Außenstehende, der Mann würde Chinesisch verstehen, er antwortet ja korrekt auf die Fragen.
Und was hat das mit der Schule zu tun?
Die Schüler produzieren genauso den gewünschten Output, den überprüfen wir mit Klausuren und Tests – aber ob die Schüler überhaupt verstehen, was sie da tun, kontrollieren wir damit in den meisten Fällen nicht. Ihren Output deuten wir als erworbene Kompetenz. Dabei wird die Kompetenz in vielen Fällen nur simuliert.
Und das ist ein Problem.
Ja, denn wenn Schüler verstanden haben, dass sie mit simplen Handbuch-Routinen gute Noten bekommen können, entfällt der Anreiz, sich stattdessen mühsamen Prozessen des Denkens und Verstehens zu stellen: Warum sollte man kompliziertes Chinesisch lernen, wenn man das gewünschte Ziel auch erreichen kann, indem man nach einfachen und vorgegebenen Regeln chinesische Schriftzeichen hin- und herschiebt? Eigentlich müssten wir die Schüler aus dem Chinesisch-Raum rausnehmen, ihnen Chinesisch beibringen und endlich aufhören, auf den Output zu starren.
Malen Sie nicht ein etwas düsteres Bild von Prüfungen?
Eigentlich sollen diese Rückmeldung sein für den Leistungsstand der Schüler, das stimmt, sie sollen Orientierung bieten. Prüfungen sollten objektiv, valide und verlässlich sein, damit das Ganze auch Hand und Fuß hat. Aber wenn man sich die wissenschaftlichen Ergebnisse anschaut, erfüllen Prüfungen diese Funktion nicht.
Können Sie ein Beispiel nennen?
Nehmen wir mal das klassische Diktat. Was misst so ein Diktat? Sicherlich nicht, wie gut du in der Rechtschreibung bist. In erster Linie misst ein Diktat, wie gut du unter Stress funktionierst. Diese Tests haben oftmals mehr mit Angst als mit Vertrauen zu tun.
Axel Krommer ist akademischer Oberrat am Lehrstuhl für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur an der Friedrich-Alexander Universität Erlangen-Nürnberg. Er ist Co-Autor des Buches „Routenplaner #Digitale Bildung“ und hat zu Beginn der Corona-Krise mit Kolleg:innen im Auftrag des Landes Nordrhein-Westfalen ein Impulspapier zum Lernen auf Distanz für Lehrkräfte verfasst.
Sollte man den Anspruch, individuelle Leistung zu messen, also komplett aufgeben?
Tendenziell geben zeitgemäße Prüfungen, wie ich sie mir vorstelle, diesen Anspruch dann auf, ja.
Ich habe vor unserem Gespräch gegoogelt, was Prüfungen sind. Bei Wikipedia steht, im übertragenen Sinne bedeute das Wort „schweres Leid“. Im Duden findet sich noch das hier: „schicksalhafte Belastung“. Wie gut Schüler:innen unter Stress funktionieren, ist doch nicht belanglos.
Ja, das höre ich von Lehrkräften und Eltern immer wieder: „Mir hat es nicht geschadet, deshalb kann es euch auch nicht schaden.“ Aber das überzeugt mich in keinster Weise. Viele Schüler und Schülerinnen erleben Prüfungen ja genau so: als eine schicksalhafte Belastung, die sie ihr Leben lang nicht mehr loswerden. Manche träumen noch von solchen Situationen. Das kann nicht richtig sein.
Ich träume heute noch davon, dass ich vor einer Mathe-Klausur sitze und keine einzige der Aufgaben verstehe. Warum tun wir uns das an?
Weil wir keine vernünftige Form finden, wie wir Leistung kontrollieren können. Viele Lehrkräfte können sich zum Beispiel gar nicht vorstellen, Schülern während einer Klausur zu erlauben, Informationen aus dem Netz zu ziehen. Das liegt aber nur daran, dass die meisten Prüfungen wahnsinnig unintelligent gemacht sind.
Unintelligent?
Die gleichen Lehrkräfte klagen dann, wenn sie ihren Schülern eine Aufgabe geben, gucken alle die Lösung einfach im Netz nach! Die Lehrer und Lehrerinnen kriegen dann Biographien von Erich Kästner vorgelegt, die gar nicht selbst geschrieben wurden – sondern aus dem Internet kopiert worden sind.
Das habe ich in der Schule auch gemacht. Meine Lehrerin meinte, das sei Betrug.
Und an der Stelle muss ich sagen: Entschuldigung, das ist nicht die Schuld der Schülerinnen und Schüler, das ist die Schuld der Lehrkraft! Lehrer:innen können heute nicht mehr die gleichen Aufgaben stellen wie vor 30 oder 40 Jahren. Statt nach einer Biographie von Erich Kästner zu fragen, könnte man auch die Aufgabe stellen: Findet fünf Biographien, vergleicht sie und sagt mir den folgenden Kriterien entsprechend, welche von den fünf die beste ist!
Vielleicht richte ich das meiner damaligen Lehrerin mal aus. Aber bestimmte Dinge muss man doch im Kopf haben. Wer nichts weiß, muss alles googeln.
Ich bin großer Freund davon, Dinge im Kopf zu haben. Dem würde ich nie widersprechen. Assoziationen zum Beispiel funktionieren nur, wenn man Dinge im Kopf hat. Die Welt wird komplexer, wir müssen heute tendenziell eher mehr im Kopf haben. Nur die Dinge, die wir im Kopf haben, müssen intelligent ausgewählt sein. Als vor einigen tausend Jahren die Handschrift aufkam, befürchtete zum Beispiel Sokrates, dass wir nun alle zu Scheinweisen werden würden, weil wir uns nicht mehr alles merken mussten, was uns erzählt wurde – wir konnten ja plötzlich auslagern, indem wir Dinge aufschreiben.
Historisch gesehen haben wir erst gestern Schreiben gelernt; früher wurde Wissen nur durch Erzählen weitergegeben, man konnte nichts nachschlagen. Die Handschrift hat dazu geführt, dass sich unser Wissen komplett neu strukturiert hat. So groß ist der Unterschied zu heute gar nicht. Heute können wir nur jederzeit nachgucken, im Smartphone.
Und was kann man heute auslagern?
Eine Faustregel gibt es nicht. Vielleicht muss man nicht mehr Jahreszahlen und Lebensdaten auswendig lernen, die man früher auswendig gelernt hat. Die findet man heute ja mit einer schnellen Suche bei Wikipedia. Das heißt aber nicht, dass ich nichts wissen muss. Vielleicht muss ich nicht die genauen Geburtsdaten von Kopernikus, Galileo und Newton im Kopf haben. Aber ich muss ungefähr eine Vorstellung davon haben, in welcher Abfolge sich historisch unser Weltbild entwickelt hat. Dass nicht erst Galileo kam und dann Kopernikus, sondern andersherum. Viel zu viele Lehrkräfte finden es auch heute noch wahnsinnig wichtig, dass die Schüler Dinge auswendig lernen.
Ich habe das gehasst.
Wenn ich Vorträge vor Lehrern und Lehrerinnen halte, frage ich oft ins Publikum, wie viele der Anwesenden nach ihrer Studienzeit noch in der Weise auswendig gelernt haben, wie sie das jetzt immer von ihren Schülerinnen und Schülern verlangen. Meistens hebt niemand die Hand. Weil Lernen informell ganz anders funktioniert. Wer außerhalb des Klassenraums lernt, sitzt nicht rum und dreht Kärtchen um. Du guckst, was dich interessiert, was dich motiviert. Ich bin Mediendidaktiker, ich lerne doch jetzt nicht Medientheorie auswendig, oder? Ich schreibe mir doch keine Karte mit den drei Thesen von Pörksen zum Filter Clash! Nein, ich beschäftige mich wieder und wieder damit – und irgendwann kenne ich die drei Thesen von Pörksen und kann damit arbeiten.
Wie kam man überhaupt darauf, dass Prüfungen in dieser Form eine gute Idee sind?
Prüfungen und Noten hatten ab Anfang des 19. Jahrhunderts auch den Sinn, den Zugang zu Universitäten gerechter und objektiver zu gestalten als nur durch die Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht: Es sollten nicht nur reiche, weiße Männer studieren dürfen, die schon als Kind die besten Privatlehrer hatten, so die Idee. Das war damals noch viel ungerechter als heute.
1969 gingen 16 Prozent eines Jahrgangs aufs Gymnasium, heute 40 Prozent. Von 1960 bis 1980 wurden 40 neue Universitäten gegründet, danach noch 20 weitere. Dazu kommen mehr als 250 neue Fachhochschulen. Man könnte also sagen, ein breiterer Zugang zu den Universitäten ist geglückt.
Ja, deshalb müssen wir auch nicht so starr an den alten Prüfungen festhalten. Schule soll die Schüler zu selbstständigem Handeln befähigen, dazu führen, dass Heranwachsende und später Erwachsene kulturell und gesellschaftlich teilhaben können. In der echten Welt lösen wir kein einziges anspruchsvolles Problem, was uns Teilhabe ermöglichen könnte, indem wir uns allein in einen Raum setzen, das Internet ausschalten, mit niemandem kommunizieren und zurückgeworfen sind auf das, was wir im Kopf haben.
Das heißt, man sollte Smartphones in Prüfungen erlauben, statt sie am Anfang einzusammeln?
Wenn man während des Lernprozesses mit anderen zusammenarbeitet und Internetquellen oder Bücher nutzt, sich von anderen Leuten helfen lässt – warum soll das dann in der Prüfungssituation nicht möglich sein? Es kommt eben auf die Aufgabenstellung an. Ausgerechnet in den Prüfungen, die individuelle Leistung widerspiegeln sollen, werfen wir die Leute zurück in Paradigmen, die mit der gesellschaftlichen Realität kaum noch etwas zu tun haben! Das merken auch Unternehmen. Das sieht man an jedem Assessment-Center, das aufgebaut wird von großen Firmen. Die sagen: Mich interessiert deine Abiturnote nicht wirklich, mache erst einmal unseren Test. Jedes dieser Assessment-Center ist eigentlich ein Beleg dafür, dass die Zeugnisnoten und Prüfungen von vielen Seiten infrage gestellt werden.
Die meisten Unis und Unternehmen verlassen sich ja aber heute noch auf die Noten aus der Schule, wenn sie entscheiden, wen sie aufnehmen.
Das stimmt. Aber das muss ja nicht für immer so bleiben. Man könnte es auch so machen: Schüler durchlaufen die Schule, Lehrer geben sinnvolle Rückmeldungen, aber am Ende steht keine Prüfung, die den Marathon entscheidet. Man kann sich ja mal ausmalen, was passiert, wenn der Druck der Unis und Unternehmen plötzlich nicht mehr da ist. Dann hätte man Prüfungssituationen, in denen tatsächlich Vertrauen und Freiheit statt Kontrolle und Angst im Vordergrund stehen. Wenn in der Prüfung nicht mehr nur auf eine bestimmte Weise agiert werden darf, dann muss ich auch den Unterricht nicht permanent auf die Prüfung ausrichten. Ich glaube, dass die Prüfungskultur eine ganz wichtige Schraube ist, an der man drehen kann, um das System als Ganzes zu verbessern.
Wenn dann im Assessment-Center genauso geprüft wird wie heute in der Schule, haben wir das Problem aber nur verschoben.
Assessment-Center sind nicht gerechter, sie sind nur ein Indiz dafür, dass Unis und Unternehmen weniger Vertrauen in unsere Prüfungskultur haben. Wenn der Glaube schwindet, dass die Schule eine gute Prüfung macht für einen bestimmten Zweck, kommt BMW und macht eigene Tests. Manchmal ist es so, dass Teamgedanken und kreative Aufgaben dort eine größere Rolle spielen, als es in Schulen der Fall ist. Aber ich würde nie behaupten, dass Assessment-Center eine Form der Lösung sind. Sie sind ein Symptom des Problems.
Okay, verstehe: Prüfungen, wie wir sie alle hatten, sind ungerecht, weniger objektiv als wir glauben und aus der Zeit gefallen. Mal andersherum gefragt: Welche positiven Seiten sehen Sie denn bei traditionellen Prüfungen?
(schweigt)
…
(verschränkt die Arme)
Hm?
Da fällt mir ganz wenig ein. Eigentlich fällt mir nichts ein.
Woran erkennt man eine gute Prüfung?
Wenn man in einer guten Prüfungssituation betrügt, betrügt man nicht das System, sondern sich selbst. Noch ist es umgekehrt: Derjenige, der betrügt, ist der Coole. Der hat die Prüfung mit möglichst wenig Aufwand bestanden. Eine gute Prüfungssituation bedeutet hingegen: Sinn erleben.
Was heißt das?
Der Schüler sagt: Da möchte ich hin, das ist mein Ziel. Der Zweck von Prüfungen ist es nicht, das so schwer wie möglich zu machen, sondern alle möglichen Hilfen zur Verfügung zu stellen, dass der Schüler dieses Ziel erreichen kann. Und ihm Feedback zu geben, was ihm dabei hilft – das ist eine völlig andere Form als die isolierte Einzelprüfung, die zum Zweck hat zu zeigen, dass der eine besser ist als der andere. In zeitgemäßen Prüfungen sollten Kommunikation und Kollaboration eine Rolle spielen. Das ist das, was man zum Beispiel in einer Hausarbeit an der Uni auch macht: Man dokumentiert die Zusammenarbeit mit anderen, seien es Autoren oder Wissenschaftler, im Literaturverzeichnis. Niemand kommt auf die Idee, dass das nichts wert ist. Gute Prüfungen setzen Lernprozesse fort und sind nicht deren Ende.
Redaktion: Esther Göbel, Schlussredaktion: Susan Mücke, Fotoredaktion: Till Rimmele