Meine Hände zitterten, aber das hatte ich mir so ausgesucht. Also nicht das Zittern – sondern, dass ich zum ersten Mal auf einer Bühne stand, um einen von mir geschriebenen Text vorzutragen. Poetry Slam, also Wettstreit im Dichten. War damals, kurz vor meinem Abitur ziemlich angesagt.
Unsere Lehrer:innen hatten entschieden: Die letzte Woche im Schuljahr ist Projektwoche. Da passiere eh nicht mehr viel.
Ich konnte mir ein Projekt aussuchen oder sogar selbst eins anbieten. Eingeführt wurde diese Woche leider erst ein Jahr vor meinem Abitur. Weder davor noch danach konnte ich mir in der Schule nochmal selbst aussuchen, was ich lerne (Poetry Slam) und was ich damit anfange (einmal verschwitzt vor 15 Menschen auftreten und dann nie wieder). Diese Woche war die beste Schulwoche, die ich jemals erlebt hatte.
Nachdem ich Anfang des Jahres dafür plädiert habe, Schüler:innen viel öfter zu fragen, was sie wollen, haben mir einige Lehrkräfte geschrieben. Tenor: Bei den meisten Themen wollen die Schüler:innen doch gar nicht mitreden. Stimmt das? Oder ist das nur eine bequeme Ausrede?
Denn Kinder haben eine Superkraft: Sie stellen oft Fragen, die Erwachsene vielleicht nicht stellen würden. Sie stellen infrage, was für uns „schon immer so war“. Sie decken auf, was wir oft verschweigen, weil sie keine Hemmungen haben. Biologisch gesprochen: Der präfrontale Kortex entwickelt sich erst später vollständig und es ist dieser Bereich im Gehirn, der unser Verhalten kontrolliert – und hemmt. Kinder sehen also tatsächlich Dinge, die wir Erwachsenen nicht wahrnehmen. Diese Perspektive geht verloren, wenn wir sie nicht fragen.
Deshalb habe ich die Schüler:innen in einer Umfrage selbst gefragt, 170 haben geantwortet. Ihre Antworten zeigen: Mitentscheiden wollen sie. Bei wichtigen Dingen. Bisher werden sie nur um ihre Meinung gebeten, wenn es im Grunde um nicht viel geht. Würden die Schulen das ändern und beginnen, ihre Schüler:innen ernst zu nehmen, würden sie sich grundlegend ändern.
Schüler:innen haben nicht das Gefühl, mitreden zu können
Einen Einwand will ich gleich zu Beginn ansprechen: Durch die Wahl von Klassensprecher:innen und durch die Schülervertretung können sich die Jugendlichen oft genug einbringen. Das höre ich immer wieder. Problem: Es ist wissenschaftlich widerlegt. Zum Beispiel durch die Jugendstudie Baden-Württemberg 2020: Mehr als 2.311 junge Menschen zwischen 12 und 18 Jahren wurden unter anderem gefragt, ob sie den Eindruck haben, dass sie den Alltag an ihrer Schule ein Stück weit mitgestalten können. Knapp 58 Prozent sagen: gar nicht oder nur schwer. Wenn sie denn gelassen werden, machen sie damit vor allem gute Erfahrungen: Über 77 Prozent von ihnen sagen, dass sie Spaß daran hatten.
In meiner Umfrage sieht das so aus:
Bei diesen Themen möchten Schüler:innen mitreden
44 Schüler:innen (26 Prozent) haben bei meiner Umfrage angegeben, dass sie nie nach ihrer Meinung gefragt werden. Nie! Wer mitbestimmen darf, darf das vor allem bei diesen Fragen: Wer soll Klassensprecher:in werden (26-mal genannt, häufigste Antwort)? Und wohin soll es am Wandertag gehen (22-mal genannt)?
André (15) sagt: „Wenn wir beteiligt werden, dann bei eher unwichtigen Entscheidungen: Welches Buch lesen wir? Welchen Film gucken wir?“ Emmi (7) sagt: „Meine Klasse darf in Deutsch Wörter der Woche vorschlagen.“ Und Lucia (8) schreibt: „Die Lehrer sagen immer, was wir machen sollen.“
Dabei würden sie gern bei ganz anderen Themen mitreden, sie dürfen es nur nicht. Ein Beispiel: 62 Teilnehmer:innen würden gerne bei der Auswahl der Themen im Unterricht mitentscheiden. Und zwar nicht nur, womit sie sich beschäftigen, sondern auch wann. Aber nur zehn Schüler:innen dürfen bei diesen Fragen tatsächlich mitsprechen. Bei den anderen Antworten sieht das nicht viel besser aus:
Ein paar Schüler:innen antworteten mir, dass ihnen nichts einfällt. Wollen sie also gar nicht? Tut man ihnen sogar unrecht, wenn man sie öfter mitentscheiden lässt?
Die Autor:innen der Sinus-Studie „Wie ticken Jugendliche?“ haben Ähnliches unter den befragten jugendlichen Schüler:innen beobachtet. Sie erklären es sich so: „Die Zurückhaltung hat verschiedene Ursachen. Zum einen können sich die Mädchen und Jungen unter Mitgestaltung in der Schule prinzipiell nur wenig vorstellen. Ihnen ist unklar, in welcher Hinsicht sie sich wirksam einbringen könnten.“
Klar: Wer noch nie gefragt wurde, weiß auch nicht, was er verpasst – oder wo er gerne mitbestimmen würde.
Die Ideen der Schüler:innen stellen Grundsätzliches infrage
Die Antworten meiner Umfrage zeigen aber noch mehr: Denn die Schüler:innen stellen Abläufe infrage, die sich seit Jahrzehnten in den Schulen festgesetzt haben und sich seitdem kaum verändern.
Bennet (9) fragt zum Beispiel: „Warum soll ich nach der Schule zuhause weiter Aufgaben lösen, die ich bereits in der Schule verstanden habe?“ Und Adrian (10) möchte Hausaufgaben ganz abschaffen: „Keine Hausaufgaben! Stattdessen täglich lieber eine Schulstunde mehr.“
Lea (16) sagt: „Ich würde gerne mitbestimmen wie meine Fächer in der Woche und am Tag liegen.“ Also, ein Stundenplan, bei dem die Schüler:innen selbst entscheiden, wann sie sich womit beschäftigen. Auch Rosa (15) schreibt: „Ich würde gern entscheiden, wann ich welche Aufgabe löse und bei welchen Lehrern ich lerne.“ Und Jonathan (7) sagt: „Ich möchte nicht immer alles müssen. Ich möchte mehr spielen und lernen, was mich interessiert.“
Kaum vorstellbar? Im Schulalltag kann man das gar nicht umsetzen? Es geht noch weiter.
Tabea (14) fragt: „Warum werden wir so selten gefragt, welche Note wir uns selbst geben würden? Warum gibt es Noten überhaupt noch?“ Anna (15) sagt: „Lehrer sollten uns Projekte oder andere Möglichkeiten geben, eine gute Note zu bekommen, statt Tests und Abfragen.“ Und Paul (12) fragt: „Warum kann ich nicht selbst entscheiden, wann ich bereit bin für eine Prüfung?“
Ja, warum eigentlich nicht, Paul?
Viele dieser Ideen sind nicht neu: Wer genau braucht diese Abschlussprüfungen?, habe ich im April gefragt. Das Magazin Quarks schreibt: Noten sind weder aussagekräftig noch objektiv. Und dem Redaktionsnetzwerk Deutschland erklärt die Wissenschaftlerin Natalie Fischer, warum Schule auch ohne Hausaufgaben funktionieren kann.
Nur: In den meisten Schulen werden diese Ideen noch nicht umgesetzt, manchmal noch nicht einmal diskutiert. Würde sich das ändern, wenn man Schüler:innen konsequent mitbestimmen lässt?
„Je mehr kommuniziert wird, desto mehr verändert sich“
An der freien und demokratischen Schule Kapriole in Freiburg, an der Martin Truckses (37) unterrichtet, bestimmen die 150 Schüler:innen überall mit: Welche Regeln stellen wir auf? Tragen wir drinnen Hausschuhe? Welche Lehrer:innen stellen wir ein? Welche Fächer unterrichten wir? Und wofür geben wir Geld aus? „Wenn man die Schüler:innen lässt, verändert sich fast alles. Den Schulalltag kann man mit dem an einer normalen Schule kaum vergleichen“, sagt er.
Wer einen der Klassenräume betritt, trifft nicht auf 30 Schüler:innen, die alle über der gleichen Matheaufgabe sitzen. Ein Mädchen sitzt vielleicht unter einem Tisch und liest, drei Jungs schweißen etwas zusammen und wieder andere bereiten sich auf ihre Abschlussprüfung in der zehnten Klasse vor – weil sie es so wollen. „Wenn ich an den Regelschulen die Kinder gefragt habe, was sie lernen wollen, kam erstmal nicht viel. Das muss man auch erstmal lernen.“
Und auch mit Corona sind sie an der Freiburger Schule anders umgegangen. Als die Schulen im März geschlossen wurden, war das für alle ungewohnt: „Dass uns etwas von oben herab verboten wird, sind wir in der Schule gar nicht mehr gewohnt“, sagt Martin Truckses. Als die Schüler:innen wieder zur Schule kommen durften, haben die Lehrkräfte sie zunächst gefragt, was ihnen wichtiger ist: Wollen sie in der Schule lernen oder erstmal Zeit mit ihren Freund:innen verbringen? „Corona war für uns alle eine Belastung, deshalb wollten wir wissen, was die Schüler:innen jetzt brauchen.“ Und tätsächlich: Die Mehrheit entschied sich dafür, erstmal ein paar Tage mit den Freund:innen zu verbringen. Das hat ihnen gefehlt.
„Schule ist ein Kommunikationssystem: Je mehr kommuniziert wird, desto mehr verändert sich“, sagt Martin Truckses. Er sieht, dass sich durch Corona viele Lehrer:innen vernetzt haben und sich austauschen. Seine Hoffnung ist, dass einzelne Schulen vorangehen und auch die Schüler:innen mit einbeziehen bei ihren Ideen, denn: „Die Gesellschaft verändert sich. Mit jeder neuen Schülergeneration verändern sich deshalb zwangsläufig auch die Schulen. In vielen Schulen kommt das aber nicht an, weil die Kinder gar nicht gefragt werden.“
Es geht um die kleinen Fragen, jeden Tag
Vor knapp einem Jahr habe ich mir noch eine Bildungskatastrophe gewünscht – damit sich endlich mal etwas verändert und damit Bildung mehr in die Öffentlichkeit rückt. Für viele war Corona so eine Katastrophe. Schule, wie wir sie kannten, war plötzlich nicht mehr möglich. Und Schwachstellen wurden so sichtbar wie selten zuvor: Unsere Schulen sind ungerecht, digital schlecht ausgestattet und Lernen ohne Lehrkraft vor der Klasse nur schwer vorstellbar. Eltern verzweifelten am Lernen auf Distanz ihrer Kinder. Die Schule muss sich verändern.
Deshalb arbeiten jetzt so viele Menschen wie selten zuvor an einem moderneren Schulsystem. Beim Hackathon „Wir für Schule“ haben im Juni über 6.000 Lehrkräfte, Eltern und Expert:innen mitgemacht. Und auch Schüler:innen waren dabei. 216 Lösungen für die Schule von morgen kamen heraus, 15 Ideen wurden von einer Jury ausgezeichnet.
Martin Truckses sagt: „Der Wunsch ist immer, dass es eine Lösung für alle Schulen gibt. Dabei sind die kleinen Dinge viel wichtiger: Fragen, die jeder Lehrer seinen Schülern stellen kann, die den Alltag betreffen, nicht unbedingt die große Vision.“
Danke an alle Schüler:innen, die bei meiner Umfrage mitgemacht haben! Und danke an alle Krautreporter-Mitglieder, die die Umfrage an ihre Kinder oder Schüler:innen verteilt haben. Hier könnt ihr alle Antworten anonymisiert anschauen.
Redaktion und Fotoredaktion: Rico Grimm, Schlussredaktion: Susan Mücke.