„Wenn es um die Bildung geht, zählt jeder Tag“, sagte die nordrhein-westfälische Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) vor einer Woche. Ihre Kolleg:innen in der Kultusministerkonferenz scheinen da gleicher Meinung zu sein: Sie haben beschlossen, nach den Sommerferien zum normalem Schulbetrieb zurückzukehren. Einige Bundesländer starten damit sogar schon vor den Sommerferien. Damit ist klar: Bei der Abwägung zwischen „Was wäre gesundheitlich das sicherste?“ und „Wie lange können wir das Schüler:innen und Eltern noch zumuten?“ gewichten die 16 Politiker:innen die zweite Frage mittlerweile schwerer als die erste.
„Wann gibt es endlich wieder normalen Unterricht?“, fragte ich Anfang Mai in meinem Artikel zu den Schulöffnungen, und habe mir (wie höflich) gleich selbst geantwortet: „In diesem Schuljahr auf keinen Fall, in diesem Kalenderjahr wahrscheinlich auch nicht mehr.“
Nun … es kam anders.
Dabei ist der Streit um die Schulöffnungen längst nicht beigelegt. Eine Epidemiologin oder einen Virologen, der sich für Normalbetrieb ausspricht, findet man eigentlich nirgendwo. Es ist also Zeit für ein Update.
Was weiß die Forschung über Covid-19 bei Kindern?
Vier medizinische Fachgesellschaften erklärten Mitte Mai, aktuelle Studien würden nahelegen: Kinder stecken sich seltener an und geben das Virus seltener weiter. Kinder seien also nicht die treibende Kraft bei Ansteckungen. Mit dem Statement der Verbände (u.a. der Deutschen Gesellschaft für Krankenhaushygiene und dem Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte) hat sich auch die Wissenschaftsjournalistin Mai Thi Nguyen-Kim in einem (wie immer sehr guten) Video beschäftigt. Ich weiß, es macht keinen Spaß, aber: Ob die Fachgesellschaften recht haben, weiß man nicht, auch heute nicht.
Denn wie Nguyen-Kim richtig hinweist: Untersuchungen dazu, wie sehr Kinder das Virus in die Familien bringen, kann man während eines Lockdowns gar nicht durchführen, denn die Kinder gehen ja währenddessen nicht raus. Klingt logisch. Es wird also weitergeforscht. Eine noch nicht fertiggestellte Studie aus Baden-Württemberg (die den Ministerpräsidenten Winfried Kretschmer dazu gebracht hat, die Schulen zu öffnen) liefert eigentlich erst in zwei Wochen wirklich belastbare Ergebnisse. Außerdem sollen rund 5.000 Kinder in Düsseldorfer Kitas getestet werden. Und am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf umfasst eine ähnliche Studie 6.000 Kinder. Die Kultusminister:innen wissen all das natürlich. Sie wissen auch, dass sie mit dem Normalbetrieb ein Risiko eingehen, wie die Erfahrungen aus anderen Ländern nahelegen.
Was wissen wir über Länder, die ihre Schulen bereits geöffnet haben?
Vor etwa einem Monat hat Israel angefangen, seine Schulen zu öffnen. Weil die Zahl der Neuinfektionen seit Ende Mai wieder angestiegen ist, mussten mittlerweile fast 130 Schulen und Kindergärten wieder geschlossen werden. Bei 347 Schüler:innen und Lehrkräften wurde das neue Coronavirus nachgewiesen, fast 20.000 Schüler:innen und Lehrer:innen sind jetzt in häuslicher Quarantäne. 56 Prozent dieser Neuinfektionen entfielen auf Jerusalem selbst, davon wiederum drei Viertel auf ein einzelnes Gymnasium. Ein Lehrer soll dort als Superspreader besonders viele Menschen angesteckt haben. Die Tagesschau und das Handelsblatt berichteten. Ende Mai wurden nur einen Tag nach der Schulöffnung auch in Südkorea knapp 200 Schulen wieder geschlossen, denn innerhalb von 24 Stunden kam es zu 79 Neuinfektionen – der höchste Tageswert seit über zwei Monaten. Mehr beim BBC.
Wie könnte das nächste Schuljahr in Deutschland aussehen?
Auch wenn die Kultusminister:innen jetzt wieder voll auf Präsenzunterricht setzen – so einfach ist es dann doch nicht. Fernunterricht muss und wird weiter eine Rolle spielen, denn Kinder mit Vorerkrankungen können weiterhin nicht zur Schule gehen und Lehrer:innen mit Vorerkrankungen können sich krankschreiben lassen (genügend Lehrer:innen gab es schon vor Corona nicht). Ein regulärer Stundenplan ist also nicht sehr wahrscheinlich. Außerdem, das zeigen die Erfahrungen aus den anderen Ländern, müssen sich die Schulen darauf vorbereiten, dass wegen Ausbrüchen wieder Klassen oder ganze Schulen geschlossen werden.
Deshalb hält eine Gruppe von Expert:innen der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) eine Mischung aus Präsenz- und Fernunterricht weiterhin für plausibel. Und empfiehlt Mindestanforderungen oder gar Standards für den Unterricht zuhause. Das wird nicht einfach: Eine aktuelle Umfrage der GEW hat gezeigt, dass neun von zehn Lehrer:innen ihre persönlichen Laptops und Tablets für den Unterricht benutzen müssen. Uff.
Wer sich ausführlicher mit den Rahmenbedingungen des nächsten Schuljahrs beschäftigen möchte: Der Bildungsjournalist Jan-Martin Wiarda hat eine Übersicht in sieben Punkten erstellt, von denen die meisten mittlerweile beschlossen wurden. Er fasst zusammen: Man sollte 1. die Abstandsregeln in Schulen und Kitas fallen lassen, 2. feste Gruppen einhalten und klaren Hygieneregeln folgen, 3. regelmäßige Corona-Tests einführen, 4. eine Attestpflicht für Lehrer:innen enführen, 5. die Schulbesuchspflicht aussetzen und 6. Standards für Fernunterricht einführen.
Nach „ganz normal“ klingt das nicht.
Ob es so kommt oder ob die Kultusminister:innen doch nochmal zurückrudern müssen? Ich wage keine Prognose. Nicht, nachdem mein Newsletter vor zwei Wochen, den ich morgens geschrieben hatte, abends schon wieder überholt war. Er wurde deshalb nie veröffentlicht. Diesen habe ich schneller fertiggestellt. Hoffen wir das Beste.
Redaktion und Schlussredaktion: Belinda Grasnick; Fotoredaktion: Martin Gommel.