Auf der einen Seite: erleichterter Jubel. Auf der anderen: blankes Entsetzen darüber, dass die Schulen jetzt schrittweise wieder öffnen. Das Besondere: Beide Seiten könnten recht haben. Denn es gibt gute Argumente dafür, die Schulen wieder zu öffnen – aber auch gute Argumente dagegen.
Viele Eltern beklagen sich darüber, dass Heimunterricht neben der eigentlichen Arbeit schwierig ist. Für sie wäre es eine Entlastung, wenn Kinder wieder in die Schule gehen könnten. Andere Eltern haben noch größere Angst davor, dass sich ihre Kinder in der Schule anstecken. Ältere Schüler:innen kommen besser mit eigenständigem Lernen zurecht, man könnte die Schulen also zunächst für die Jüngeren öffnen. Den Jüngeren aber fällt es schwerer, sich an die Hygieneregeln in den Schulen zu halten.
Eine einfache Antwort auf die Frage, ob man die Schulen jetzt wieder öffnen sollte (und vor allem: wie), gibt es deshalb nicht. Aber es gibt Fakten, die uns dabei helfen, selbst abzuwägen und die Entscheidungen einzuordnen.
Okay, das Wichtigste zuerst: Wann gibt es endlich wieder normalen Unterricht?
Die ehrliche Antwort: In diesem Schuljahr auf keinen Fall, in diesem Kalenderjahr wahrscheinlich auch nicht mehr.
Der reguläre Schulbetrieb könne frühestens nach den Sommerferien wieder aufgenommen werden, heißt es von der Kultusministerkonferenz (KMK). Karl Lauterbach, Gesundheitsexperte der SPD, geht im Interview mit der Taz noch weiter: „Wir werden im Herbst 2020 keinen Klassenraum mit 30 Schülern erleben. Mindestens für ein Jahr nicht, möglicherweise für zwei Jahre nicht.“ Auch Bildungsministerin Anja Karliczek (CDU) sagte der Funke-Mediengruppe: „Die Ausnahmesituation wird bis weit in das nächste Schuljahr andauern.“
Dabei kam kurz Hoffnung auf: „Jeder Schüler soll noch vor den Ferien in die Schule“, hieß es zum Beispiel in der FAZ. So habe es die KMK beschlossen. In deren Rahmenplan für die Schulöffnungen steht aber ein wichtiger Zusatz: Jede:r Schüler:in soll vor den Sommerferien die Schule von innen sehen, allerdings nur „tage- oder wochenweise“.
Über den Rahmenplan der KMK beraten am 6. Mai die Ministerpräsident:innen und Bundeskanzlerin Angela Merkel. Sie könnten die Öffnungen der Schulen auch wieder kippen. Ob das passiert und wie schnell wieder Alltag einkehrt, hängt vor allem davon ab, was man über die Verbreitung des Virus bei Kindern lernt.
Wer geht jetzt wieder in die Schule?
Bisher konnten allein Abschlussklassen zurück in die Schule. Jetzt sollen auch die vierten Klassen zurückkommen, denn die stehen vor dem Übergang auf die weiterführenden Schulen. Welche Jahrgänge wann zur Schule gehen dürfen, entscheiden weiterhin die Bundesländer. Genauso wie die Frage, ob zunächst erstmal nur die Kernfächer unterrichtet werden, also zum Beispiel Mathe und Deutsch. Es könnte aber nicht nur 16 verschiedene Lösungen geben, sondern gleich 47.000. Denn wie genau die Öffnung aussieht, kann sich von Schule zu Schule unterscheiden, je nachdem, wie stark die Regionen von Corona betroffen und wie gut die Schulen ausgestattet sind.
Außerdem sollen benachteiligte Schüler:innen öfter zur Schule gehen. Weil sie Schwierigkeiten beim Lernen haben, von den Eltern nicht unterstützt werden können oder weil ihnen ein Laptop oder Tablet fehlt. So soll verhindert werden, dass die Bildungsunterschiede während des digitalen Lernens noch größer werden.
Egal, wer wann zur Schule geht, die wichtigsten Hygieneregeln müssen eingehalten werden: regelmäßiges und sorgfältiges Händewaschen, Sicherheitsabstand von mindestens 1,5 Metern, die Husten- und Niesetikette …
Wie soll das gehen? Das sind ja immer noch Kinder.
Um den Abstand zwischen den Schüler:innen einzuhalten, müssen die Tische auseinander gestellt werden, die Klassen müssen aufgeteilt werden. Der Unterrichtsbeginn muss wahrscheinlich angepasst werden, damit nicht alle gleichzeitig anreisen. Die Räume müssen gereinigt und die Hände regelmäßig gewaschen werden. Und das alles in Schichten: für einen Tag oder eine Woche pro Jahrgang, damit die Schulen nicht überfüllt sind.
Das ist alles sehr aufwendig. Von Kindern kann man das nicht verlangen. Die Schulen müssen sich deshalb so gut vorbereiten, dass die Kinder möglichst selten in die Verlockung kommen, die Regeln zu brechen. In der Gemeinde Wedemark bei Hannover hat der Bauhof spontan Feldwaschanlagen der Bundeswehr vor dem Schulzentrum aufgestellt, damit sich die Kinder die Hände waschen können.
Der Verband Bildung und Erziehung und auch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, die beiden größten Lehrerverbände, warnen, dass die Schulen nicht genug Vorbereitungszeit hatten, um die neuen hygienischen Vorgaben umzusetzen. Und KR-Mitglied und Lehrerin Dorothee schrieb mir: „Wir sollten ehrlich damit umgehen – wir können in keiner Weise dafür sorgen, dass die Schüler:innen genug Abstand halten.“
Was, wenn sich ein Kind oder eine Lehrkraft anstecken?
Das Kind geht in die Schule und bringt das Virus mit nach Hause – das ist vielleicht die größte Sorge vieler Eltern. In Dormagen, Nordrhein-Westfalen, wurde ein Familienmitglied eines Schülers positiv getestet, woraufhin die gesamte Schule das Experiment „Unterricht in der Schule“ erstmal wieder abgebrochen hat.
Und in Köln wurde eine Zehntklässlerin drei Tage nach Schulbeginn positiv getestet. Zehn Schüler:innen und drei Lehrkräfte sind mittlerweile in Quarantäne. Solche Geschichten wird es in den kommenden Wochen immer wieder geben. Vor allem, weil jetzt mehr und mehr Kinder zurück in die Schulen kommen. Wer genau in Quarantäne muss, wenn sich Schüler:innen oder Lehrer:innen infiziert haben, entscheiden weiterhin die Gesundheitsämter. Und auch das kann sich von Schule zu Schule unterscheiden. Je nachdem, wie gut die Schulen die Hygienevorkehrungen einhalten können.
Gefährden wir mit den Schulöffnungen dann nicht die Eindämmung des Virus?
Die zwei entscheidenden Fragen sind: Geben Kinder das Virus genauso häufig weiter wie Erwachsene? Und stecken sich Kinder genauso häufig an wie Erwachsene? Wenn die Antwort auf beide Fragen „Ja“ ist, würden Schulöffnungen die Eindämmung des Virus definitiv gefährden.
Der Virologe Christian Drosten (ja, der Christian Drosten) und sein Team wollten herausfinden, wie ansteckend Kinder sind, und haben in einer Studie verglichen, wie viel virales Erbgut sich auf den circa 3.700 positiven untersuchten Abstrichen befindet. Die These: Wenn die sogenannte Viruslast bei Kindern genauso hoch ist wie bei Erwachsenen, könnten sie auch genauso ansteckend sein. Das Ergebnis: „Unsere Daten zeigen, dass sich die Viruslast bei jungen Kindern nicht von der Erwachsener unterscheidet.“
Also sind die Schulöffnungen gefährlich!
Moment, so einfach ist das nicht. Es gibt ja noch die zweite Frage: Um herauszufinden, ob sich Kinder genauso häufig anstecken wie Erwachsene, verfolgt man, wie viele von ihnen Kontakt zu einem Infizierten hatten und sich anschließend angesteckt haben. Das Robert Koch-Institut schreibt in einer vorläufigen Zusammenfassung am 23. April: „Die wenigen vorliegenden Daten sprechen für eine gleichgroße Empfänglichkeit“.
In einer neueren chinesischen Untersuchung vom 29. April, erschienen im sehr angesehenen Science-Magazin, kommen Wissenschaftler:innen zu einem anderen Ergebnis: „Wir haben herausgefunden, dass Kinder im Alter von 0-14 Jahren weniger anfällig für SARS-CoV-2-Infektionen sind als Erwachsene.“
Also kann man doch die Schulen öffnen!
So einfach ist es auch dieses Mal nicht. Die Autor:innen schreiben auch, dass Schulkinder unter normalen Bedingungen nicht nur häufiger, sondern extrem viel häufiger Kontakt zu anderen Menschen (vor allem anderen Kindern) haben, mehr als sämtliche anderen Altersgruppen.
Wenn beide Studien recht behalten, stecken sich Kinder zwar seltener an, geben das Virus aber genauso wahrscheinlich weiter wie Erwachsene. Um das sicher zu wissen, braucht man aber noch mehr Untersuchungen. Bis dahin ist die Datenlage ziemlich widersprüchlich.
Der ärztliche Direktor der Universitätsklinik Heidelberg zum Beispiel sagte der Wochenzeitung Die Zeit: Die Daten von Drosten und seinem Team „allein verraten nicht, wie häufig Kinder andere anstecken und wie oft Kinder sich bei anderen anstecken.“ Dafür müsse man sich nicht nur die einzelne Viruslast anschauen, sondern Daten, die zeigen, wie sich die Krankheit in der Bevölkerung verbreitet.
Wenn noch gar nicht klar ist, welche Rolle Kinder spielen: Weiß man wenigstens, ob die Schulschließungen überhaupt etwas gebracht haben?
Ich weiß, wie wenig zufriedenstellend das ist, aber: Nein, das weiß man noch nicht. Aber auch damit beschäftigen sich Wissenschaftler:innen auf der ganzen Welt. In einer mittlerweile sehr bekannten Untersuchung, erschienen im Fachmagazin The Lancet, schreiben die Wissenschaftler:innen: „Unsere Daten deuten nicht darauf hin, dass Schulschließungen zur Kontrolle der Epidemie beigetragen haben.“
Du wirst es schon ahnen …
… so einfach ist es nicht?
Genau. In Deutschland ist man vor allem darauf aus, das Gesundheitssystem nicht zu überlasten, die Fallzahlen also nicht plötzlich in die Höhe schnellen zu lassen. Bei diesem Szenario beschreiben die Autor:innen der Lancet-Studie Schulschließungen wiederum als sinnvoll. Und auch die Autor:innen der neuen Studie aus China schlussfolgern: Wenn Kinder so viel mehr Kontakt zu anderen Menschen haben, können mit Schulschließungen auch enorm viele Kontakte vermieden werden. „Zwar können proaktive Schulschließungen allein die Übertragung nicht unterbrechen, aber sie können die Epidemie verzögern.“ Und genau darum geht es derzeit.
Was genau heißt das für die Schulen?
Kinder, Eltern und Lehrer:innen werden sich an einen Wechsel zwischen Unterricht in der Schule und Lernen zu Hause gewöhnen müssen.
Dieses „Homeschooling“ läuft ja jetzt schon seit Wochen. Wie gut klappt das überhaupt?
Der Bildungsforscher Stephan Huber und sein Team haben genau das 7.100 Lehrer:innen, Eltern und Schüler:innen gefragt. Die Forscher:innen machten zwei Extremgruppen aus. 31 Prozent der Schüler:innen gaben an, sie würden 25 Stunden und mehr pro Woche für die Schule lernen. 18 Prozent der Schüler:innen gaben an, sie würden weniger als neun Stunden pro Woche etwas für die Schule tun.
In einer Befragung des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung haben 37 Prozent der befragten Oberstufenschüler:innen an, sich täglich weniger als zwei Stunden mit Schulaufgaben zu beschäftigen. Bei den Abiturient:innen waren es sogar 46 Prozent. Und über die Qualität des Online-Lernens sagt das erstmal noch nichts aus.
Das ist im Vergleich zur normalen Schulzeit ja verschwindend wenig.
Stimmt. Bei den Kindern in der Grundschule kommt es außerdem sehr stark auf die Eltern an, wie viel Zeit die Schüler:innen mit Aufgaben verbringen. Und genau das wird mit jeder Woche zu einem immer größeren Problem.
Denn während viele Teile der Gesellschaft gerade eher zusammenrücken, wird die Kluft zwischen Eltern und Lehrer:innen eher größer. Und der Konflikt immer emotionaler. In der Welt schreiben zwei Väter, gerichtet an die Lehrkräfte: „Euer Versagen ist unser Untergang.“ Und in der Zeit schreibt eine Autorin in Richtung der Lehrer:innen, die PDFs verschicken und Hausaufgaben nicht kontrollieren würden: „Nach fünf Wochen Homeschooling darf es ein bisschen mehr sein.“
Tatsächlich hängt es derzeit vor allem vom einzelnen Lehrer ab, wie gut der digitale Unterricht zuhause läuft und wie viel Last die Eltern tragen müssen. Fast 80 Prozent der Lehrer:innen geben an, vor allem per E-Mail mit den Kindern zu kommunizieren. Die Eltern müssen die Aufgaben dann oft an die Kinder weitergeben und sie auch noch erklären. Andere Lehrer:innen unterrichten wiederum per Videokonferenz, denken sich kreative Aufgaben für Zuhause aus und bekommen Dankesbriefe von den Eltern.
Gibt es für den digitalen Unterricht denn keine Standards?
Standards oder Erfahrungswerte gibt es kaum, die Voraussetzungen und die Ausstattung sind fast überall schlecht. 5,5 Milliarden Euro wollten Bund und Länder mit dem „Digitalpakt“ für die Digitalisierung der Schulen ausgeben – bis März hatten nur zwölf Bundesländer überhaupt Geld aus diesem Topf beantragt. Vor Corona haben gerade einmal vier Prozent der Achtklässler:innen täglich digitale Medien im Unterricht benutzt.
Das macht die Sache so schwierig: Die Eltern balancieren zwischen Homeoffice und Aushilfslehrkraft und erwarten von den Lehrer:innen, dass der Unterricht digital weitergeht. Die Lehrer:innen aber wurden vor ein paar Wochen ins kalte Wasser geworfen. Sie müssen ihren Unterricht komplett umstellen und darauf achten, dass Kinder ohne Tablets oder Laptops nicht ausgeschlossen werden.
Schon vor Corona haben die Schulleitungen in einer Forsa-Umfrage geschätzt, dass sich 72 Prozent der Lehrer:innen privat fortbilden. Rund ein Drittel der Schulleiter:innen geht davon aus, dass weniger als jede:r vierte:r ihrer Kolleg:innen überhaupt an einer Fortbildung zum Einsatz digitaler Endgeräte im Unterricht teilgenommen hat.
Dann darf man sich ja eigentlich nicht darüber wundern, dass digitales Lernen nicht überall funktioniert.
Wundern vielleicht nicht, aber ärgern darf man sich trotzdem. Denn zu Hause lernen ist anstrengend, für alle Beteiligten. Die Frage ist nur, wer den Ärger abbekommt.
Redaktion: Philipp Daum und Rico Grimm; Schlussredaktion: Susan Mücke; Fotoredaktion: Martin Gommel.