Wir nehmen Einschränkungen in fast allen Bereichen hin: die unserer Freiheitsrechte, die unserer Wirtschaft und die des Versammlungsrechts. Menschen verlieren ihre Jobs, andere werden in Kurzarbeit geschickt. Wir verzichten seit Wochen darauf, unsere Freund:innen zu treffen, sogar unsere Familie (lieben Gruß nach Schleswig-Holstein!).
It’s a mad world.
Nur die Abschlussprüfungen, die lassen wir uns nicht nehmen. Es müssen diese Abschlussprüfungen sein, die unsere Gesellschaft im Kern zusammenhalten. Anders kann ich nicht erklären, warum die Ministerpräsident:innen und Kultusminister:innen bei jeder Gelegenheit betonen, dass die Prüfungen bei der Öffnung der Schulen höchste Priorität haben.
Dass ein ganzer Jahrgang, immerhin 1,1 Millionen Schüler:innen, auf die Prüfungen verzichten, sei unfair und keine Option, sagen die einen, sagen die Kultusminister:innen. Aber sie bekommen starken Gegenwind: Unter diesen Bedingungen überhaupt Prüfungen schreiben zu lassen, sei unverantwortlich und nach den vergangenen Wochen noch viel ungerechter, sagen die anderen. Sie fordern zum Beispiel ein Durchschnittsabitur – also, dass die Abschlussnote aus den bisher erbrachten Noten berechnet wird. Oder dass Schüler:innen selbst entscheiden, ob sie sich prüfen lassen, um ihre Abschlussnote zu verbessern.
Zwei Hamburger Schüler:innen haben in einer Petition für das Durchschnittsabitur mittlerweile über 145.000 Unterschriften gesammelt. Der Deutsche Gewerkschaftsbund und die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft fordern, alle Prüfungen abzusagen. Auch die Vereinigung der Berliner Schulleiter:innen spricht sich in einem Offenen Brief gegen Prüfungen aus. Diese Liste könnte ich ohne Probleme noch lange weiterführen.
Trotzdem halten die Kultusminister:innen an ihrer Entscheidung vom 24. März fest. In manchen Bundesländern sollen sich die Abschlussklassen schon zu Beginn der kommenden Woche wieder in den Schulen auf ihre Prüfungen vorbereiten. Diese Entscheidung ist nicht nur eine gesundheitliche. Virolog:innen können sagen, wie groß das Risiko von Infektionen ist und welche Vorsichtsmaßnahmen getroffen werden müssen – aber nicht, ob die Entscheidung bildungspolitisch sinnvoll ist.
Ich habe die vier wichtigsten Argumente dafür, dass die Prüfungen stattfinden, in diesem Text sortiert und analysiert. Es geht um Gerechtigkeit und Vergleichbarkeit, und darum, wie abhängig Unternehmen und Unis von den Noten sind. Eins vorweg: Wirklich fair ist derzeit keine der Optionen, aber in keiner anderen Frage wird in diesen ungewöhnlichen Zeiten so starr an gewöhnlichen Lösungen festgehalten wie in der Prüfungsfrage.
Argument 1: Wir müssen die Abschlüsse miteinander vergleichen können
Die Abschlüsse müssen vergleichbar bleiben, zwischen den Jahrgängen, aber auch zwischen den Bundesländern und auch im internationalen Vergleich. Deshalb wollen die Länder einheitlich entscheiden, deshalb hat die Kultusministerkonferenz auch Schleswig-Holsteins Vorstoß, die Prüfungen abzusagen, nach nur zwei Tagen wieder eingestampft.
In Hessen und Rheinland-Pfalz sind die Prüfungen schon Vergangenheit oder noch in vollem Gange. Würden die anderen Bundesländer jetzt auf ihre Prüfungen verzichten, wären die Abschlüsse unter den Bundesländern nicht mehr vergleichbar. Nicht zuletzt wollen manche Abiturient:innen auch im Ausland studieren – würden die Unis in England oder den USA es einfach hinnehmen, dass sie ihr Zeugnis ohne Abschlussprüfungen bekommen haben?
Das Problem: Unter den Bundesländern waren die Abschlüsse schon vor Corona nicht miteinander vergleichbar. Was nicht nur an den Prüfungen liegt. Welche Pflichtfächer Schüler:innen bis zum Abschluss belegen müssen, ist in jedem Bundesland anders geregelt. Die Abiturnote beispielsweise setzt sich nicht nur aus den Abi-Prüfungen zusammen, sondern auch aus den anderen Noten, die die Schüler:innen im Laufe der Oberstufe bekommen. Jede Lehrkraft hat ein eigenes System, um ihre Schüler:innen zu bewerten. Das spielt bei den einfachen und mittleren Schulabschlüssen eine noch größere Rolle. Darüber, wie subjektiv Noten sind, wird schon ewig gestritten.
Es gibt nicht nur Gymnasiast:innen, auch Gesamtschüler:innen streben das Abitur an. In Sachsen geht man acht Jahre aufs Gymnasium, in Rheinland-Pfalz neun. Diese G9-Jahrgänge starten dort bereits im Januar ihre Prüfungen, andere Bundesländer warten damit bis Mai.
Die Vergleichbarkeit, die die Kultusminister:innen aufrecht erhalten wollen – es gibt sie nicht. In Spanien, Portugal, Frankreich, den Niederlanden und Großbritannien verzichtet man bereits auf die Prüfungen. Auch im internationalen Vergleich würde Deutschland also nicht aus dem Raster fallen.
Argument 2: Ein Abschluss ohne Prüfungen ist weniger wert
Würde man auf die Prüfungen verzichten, hätten die Schüler:innen in diesem Jahr ihren Abschluss bekommen, ohne die herausfordernden Klausuren am Ende zu meistern. Sie würden die mittlere Reife, das Abitur, einfach geschenkt bekommen, während sich die Jahrgänge vor ihnen durch die letzten Monate ihrer Schullaufbahn regelrecht quälen mussten. „Es wäre gegenüber den Abiturienten der vorangegangenen und Folgejahrgänge schwer zu erklären, wenn jetzt ein ganzer Jahrgang ohne die schweren Abschlussprüfungen mit nur 66 Prozent der geforderten Leistungen ein gleichwertiges Abitur bekommt“, sagte der Hamburger Schulsenator Ties Rabe (SPD). Dieser Makel wird immer ihren Lebenslauf schmücken.
Abgesehen davon, dass alle, deren Abschlussprüfung ein paar Jahre her ist, wissen, dass sich spätestens nach der Ausbildung oder dem Studium niemand mehr für irgendein Zeugnis interessiert – warum es in diesem Jahr gerechtfertigt wäre, auf einem etwas anderen Weg zum Abschluss zu kommen, liegt auf der Hand.
Die Schüler:innen hatten dieses Jahr nicht nur weniger Vorbereitungszeit mit ihren Lehrkräften und Mitschüler:innen, sie sind gerade – wie wir alle – einer absoluten Ausnahmesituation ausgesetzt. Der diesjährige Jahrgang wird immer etwas Besonderes sein. Entweder, weil sie drei Klausuren weniger schreiben mussten, oder weil sie unter außergewöhnlichen Umständen Prüfungen meistern mussten (welche Folgen – auch gesundheitliche – das haben wird, kann derzeit niemand absehen).
Mit dem Durchschnittsabitur würde den Schüler:innen das Leben in einer außergewöhnlichen Situation etwas erleichtert. Und dafür sollte ein Leben lang auf sie hinabgeschaut werden? Diese Angst verrät viel über die deutsche Leistungsgesellschaft: Hier bekommt niemand was geschenkt, egal, wie die Umstände sind!
Argument 3: Prüfungen sind das Gerechteste, was wir haben
Keine subjektiven Eindrücke wie bei mündlichen Noten entscheiden bei schriftlichen Prüfungen, die Aufgaben sind (zumindest innerhalb einer Schule) für alle die gleichen. Alle sitzen im gleichen Raum, haben die gleiche Zeit und schreiben auf das gleiche Papier. Gleicher wird es nicht. Frei nach Winston Churchill könnte man sagen: Prüfungen sind die schlechteste aller Leistungskontrollen, bis auf alle anderen. Und die Abschlussprüfungen bilden das große Finale, keine Klausur in den Jahren zuvor war so gerecht wie die, auf die sich alle über Monate hinweg vorbereiten.
Wie gut sich die Schüler:innen auf diese gerechteste aller Leistungskontrollen vorbereiten können, hängt aber schon immer auch vom Elternhaus ab. Können sie sich Nachhilfe leisten? Einen Laptop? Einen Drucker? All das spielte schon vor Corona eine Rolle, aber während der Schulzeit haben alle Schüler:innen das gleiche Material, können die Lehrer:innen um Hilfe bitten, ihre Mitschüler:innen fragen. Es wird versucht, die unterschiedlichen Voraussetzungen auszugleichen.
Bildungsministerin Anja Karliczek (CDU) hatte dem Redaktionsnetzwerk Deutschland schon Ende März gesagt: „Aus der Ausnahmesituation darf diesem Abiturjahrgang jetzt kein Nachteil entstehen.“
Nun … zu spät. Der Ausgleich, der vor Corona schon schwierig war, ist spätestens seit die Schulen geschlossen sind, nicht mehr möglich. Manche der Schüler:innen, die sich jetzt auf ihre Prüfungen vorbereiten, sind selbst Risikopatient:innen, manche leben mit ihren Großeltern zusammen und haben Angst, sich bei der Prüfung anzustecken und sie damit in Lebensgefahr zu bringen. Andere müssen sich zuhause um ihre Geschwister oder den Haushalt kümmern, damit die Eltern Homeoffice machen können.
Auf Zeit Online schreibt ein Abiturient:
„Lernen fühlt sich zurzeit einfach sinnlos an. Die Motivation ist am Boden. Täglich steigende Todeszahlen in den Nachrichten und dazu die Krisen in unserem Umfeld lassen Geometrie oder Gedichtanalysen völlig irrelevant erscheinen. Manche unserer Eltern arbeiten gefühlt rund um die Uhr, andere fürchten um ihre Existenz. Der Opa eines Freundes ist im Pflegeheim – er hat Angst um ihn und fühlt sich hilflos.“
Finden die Prüfungen statt, ist das ein klares Signal: Gegen die Solidarität mit den benachteiligten Schüler:innen. „Gleiche Chancen für alle“, „Bildungsgerechtigkeit“ – diese Ziele verlieren die Kultusminister:innen damit nicht nur aus dem Auge, sie geben sie auf.
Argument 4: Unternehmen und Unis brauchen die Abschlussnoten
Das vielleicht stärkste Argument. Denn auch, wenn sie in der Debatte ständig vergessen werden, geht es hier auch um Berufsschüler:innen. Darum, dass sie endlich den Job antreten können. Darum, dass Unternehmen sich darauf verlassen, dass ihre Noten mit anderen Jahrgängen vergleichbar sind. Es geht auch um Universitäten, bei denen die Abiturnote in den meisten Fällen darüber bestimmt, ob jemand ein Studium anfangen darf oder nicht. Das allerdings kommt auch bei Hochschul-Präsident:innen nicht immer gut an. Sie müssen sich bei der Auswahl ihrer Student:innen auf die Notengebung der Schulen verlassen. Ein Witz unter ihnen geht so: Es gibt nur zwei Institutionen, die sich ihre Insassen nicht selbst aussuchen können: Gefängnisse und Universitäten.
Das Bundesverfassungsgericht hat bereits 2017 geurteilt, dass diese Art der Hochschulzulassung teilweise verfassungswidrig ist. Ein Auszug vom 19.12.2017:
Verfassungswidrig sind die gesetzlichen Vorschriften zum Auswahlverfahren der Hochschulen insofern, […]
- als im Auswahlverfahren der Hochschulen die Abiturnoten berücksichtigt werden können, ohne einen Ausgleichsmechanismus für deren nur eingeschränkte länderübergreifende Vergleichbarkeit vorzusehen,
- als für einen hinreichenden Teil der Studienplätze neben der Abiturdurchschnittsnote keine weiteren Auswahlkriterien mit erheblichem Gewicht Berücksichtigung finden.
In vielen Staaten auf der Welt werden die Hochschulzulassungen schon lange über standardisierte Tests gesteuert, manchmal kommen noch Bewerbungsgespräche hinzu und auch die Schulnoten der für das Studium wichtigen Fächer. Das Centrum für Hochschulentwicklung hat vor zwei Wochen untersucht, wie gut unsere Unis darauf vorbereitet wären. Rund jeder fünfte Fachbereich in Deutschland nutzt bereits Eignungs- oder Auswahltests bei der Vergabe der Studienplätze. Und in den Bereichen Architektur (45 Prozent), Anglistik/Amerikanistik (35 Prozent) oder Soziale Arbeit (31 Prozent) kommen sie vergleichsweise oft vor. Hinzu kommt, dass sowieso nur 40 Prozent aller Bachelor-Studiengänge zulassungsbeschränkt sind.
Der Abi-Jahrgang 2020 hätte zu einem Versuch dafür werden können, ob flächendeckende Eingangstests nicht auch in Deutschland möglich wären. Nur: Wo sollten die Tests so schnell herkommen? Das ist keine einfache Aufgabe. Aber Hoffnung bestand: Die Länder hatten versichert, sich die Abschlüsse gegenseitig anzuerkennen, egal, unter welchen Umständen sie zustande gekommen sind. Die Hochschulen hatten auch schon angekündigt, die Bewerbungsfristen fürs Wintersemester auf Ende August zu verschieben – es wäre also durchaus Zeit geblieben. Inspiration fänden sie bei den Unis in Deutschland und im Ausland, die bereits Tests durchführen.
Warum also überhaupt noch Prüfungen?
Prüfungen sagen kaum etwas darüber aus, was ein:e Schüler:in kann oder nicht kann. Wenn eine Klausur am Ende der Schullaufbahn so entscheidend dafür ist, was Schüler:innen lernen, ist die Jahre zuvor Einiges schief gelaufen. Müssten die Unis und Unternehmen nun mit einer Generation von Schüler:innen rechnen, die weniger kann als die vorigen? Natürlich nicht. (Die Unis beschweren sich sowieso seit Jahren, dass die Schüler:innen immer weniger können – und das trotz der Prüfungen.)
Prüfungen haben vor allem eine Signalfunktion. Sie signalisieren, dass die Schüler:innen unter Druck ihre Leistung abrufen können. Dass sie sich in diesem oft sehr starren System Schule zurechtfinden konnten. Dass sie verstehen, was von ihnen verlangt wird. Das ist auch etwas wert.
Der Bildungsexperte Manfred Prenzel hat für die Nationale Wissenschaftsakademie Leopoldina die Empfehlungen für die Öffnung der Schulen mitverfasst. Im Interview mit Zeit Online sagt er: „Wir leben alle in einer Ausnahmesituation. Aber gerade angehende Abiturienten sollten mit dieser Herausforderung besser umgehen können als andere.“ Als wenn es vom Bildungsgrad abhängt, wie sehr einen die derzeitige Situation psychisch belasten darf. Schon gar nicht sollten wir den Schüler:innen vorwerfen zu jammern, wie es immer wieder in sozialen Medien zu lesen ist. Ein Mitglied der Krautreporter-Bildungsgruppe auf Facebook schreibt etwa: „Es wird nur allzu oft gejammert, statt sich zusammenzunehmen und Leistung zu bringen.“
Ich nehme mich jetzt mal zusammen: Die Prüfungen abzusagen, wäre ein solidarisches Zeichen gewesen. Gegenüber denen, die es gerade besonders schwer haben, aber auch gegenüber allen anderen Schüler:innen, über deren Belastung wir gerade nicht urteilen sollten. Nach all dem Gezerre hätten wir dann darüber diskutieren können, ob wir den Prüfungsmarathon am Ende unserer Schullaufbahn wirklich brauchen.
Diese Chance ist erstmal vertan.
Schade.
Vielen Dank an Roland, Nora, Daniela, Friederike, Magnus, Marco, Hein-Wilhelm, Dorothea, Nina, Alina, Ilka und Meike für eure E-Mails zu diesem Thema. Sie haben mir sehr bei meiner Recherche geholfen! Danke auch an alle, die mit mir auf Facebook und Twitter zur Prüfungsfrage diskutiert haben.
Redaktion: Philipp Daum; Schlussredaktion: Susan Mücke; Bildredaktion: Martin Gommel.