„Viele Kinder sind jetzt auf sich alleine gestellt“

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Kinder und Bildung

„Viele Kinder sind jetzt auf sich alleine gestellt“

Seit Deutschlands Schulen geschlossen sind, sollen Kinder zuhause lernen. Das funktioniert gut in Familien, die Wert auf Bildung legen. Andere Kinder bleiben auf der Strecke.

Profilbild von Bent Freiwald
Bildungsreporter

Whatsapp-Nachricht von meiner Schwester, ein Video. Meine Nichte, sieben Jahre alt, grinst in die Kamera: „My favorite fruit is … mango!“ Seit einer Woche findet ihr Englischunterricht über eine App statt, ab und zu muss sie Videos aufnehmen und hochladen. Das macht sie selbstständig und total gut, sagt meine Schwester.

Seit über einer Woche läuft das wohl größte Bildungsexperiment der letzten Jahrzehnte: Innerhalb weniger Tage werden sämtliche Schulen in Deutschland geschlossen, zunächst für ein paar Wochen. Der Unterricht soll, wenn möglich, weitergehen. Das ist eine der Maßnahmen, mit denen die Ausbreitung des Coronavirus verlangsamt werden soll. #FlattenTheCurve heißt es jetzt – also: zuhause bleiben, Kontakt vermeiden und das eben auch zu anderen Kindern oder Lehrer:innen, damit die Kurve, die die Zahl der Infizierten in Deutschland angibt, nicht so schnell ansteigt, dass unser Gesundheitssystem überfordert wird.

Spontan haben die Lehrkräfte Lernpakete erstellt, sich von Kolleg:innen Tipps geholt, welche Online-Tools sich besonders gut für den Unterricht eignen, wie man jetzt am besten Kontakt hält zu den Schüler:innen.

Oft sollen Eltern die Aufgaben an ihre Kinder weitergeben, ihnen dabei helfen und Fragen beantworten – während sie im Homeoffice arbeiten (insofern das möglich ist). Manche Lehrer:innen sehen über Apps, wer die Aufgaben auch wirklich erledigt, andere müssen ihren Schüler:innen schlicht vertrauen. „Der allgemeine Eindruck ist: Es läuft erstaunlich gut“, sagt Heinz-Peter Meidinger, Präsident des Deutschen Lehrerverbandes. Weil die Lehrer:innen improvisieren, selbst die, die bisher mit digitaler Bildung nicht viel anfangen konnten. Und weil die Schüler:innen mitmachen. Wer ins digitale Wasser geworfen wird, lernt zu schwimmen.

Aber was, wenn die Eltern ihren Kindern jetzt nicht helfen können, weil sie kaum Deutsch sprechen, sich nicht für die Schule interessieren, oder selbst den ganzen Tag arbeiten müssen? Was, wenn im Schwimmbecken kein Wasser ist?

Was passiert mit diesen Kindern in einem Land, in dem Bildung so stark vom Elternhaus abhängt wie in kaum einem anderen europäischen Land? Drei Lehrerinnen und eine Schülerin haben mir erzählt, welche Sorgen sie sich jetzt machen. Sie haben mich gebeten, nur ihre Vornamen zu nennen oder Pseudonyme zu verwenden, die richtigen Namen sind mir bekannt.

Heidi, Lehrerin an einer Grundschule in Essen: „Kinder, die es sowieso schon schwer haben, trifft die Zwangspause besonders hart“

KR-Mitglied Heidi arbeitet seit mehreren Jahrzehnten an einer Brennpunktschule in Essen. Von den 200 Schüler:innen an ihrer Schule haben zwei Prozent keinen Migrationshintergrund, schätzt sie. Ungefähr die Hälfte der Eltern aus ihrer dritten Klasse bekommt Geld vom Jobcenter. Sie sagt: „Wir haben Eltern, die sich richtig gut um ihre Kinder kümmern. Wir haben aber auch Eltern, die noch nicht mal eine E-Mail-Adresse haben. Die ihre Kinder im Winter im T-Shirt in die Schule schicken.“

Als sie von der Schulschließung erfahren hat, hat sie mit ihren Schüler:innen erst mal alle Bücher und Hefte eingepackt, die sich für die Zeit zuhause eignen. So schnell konnte sie nicht auf digitalen Unterricht umsteigen. Einige Kinder werden die Aufgaben machen, da ist sie sich sicher. Das Problem sei, dass in vielen Familien niemand schauen kann, ob die Antworten auch richtig sind. „Die sprechen gar nicht genug Deutsch, um das zu kontrollieren. Und ich kann leider nicht alle Kinder erreichen, wenn die Eltern die E-Mails nicht lesen oder nicht ans Telefon gehen.“

„Kinder von Hartz-4-Empfänger:innen haben es sowieso schon viel schwerer in der Schule“, sagt sie. Viele dieser Kinder trifft die Zwangspause besonders hart. Jeden Sommer sieht Heidi Kinder, die einen großen Rückstand haben – schon bevor sie an ihre Schule kommen. „Manche können nicht mal einen Stift halten, wenn sie in die erste Klasse kommen. Es ist unter normalen Umstände schon total schwierig, den vorgeschriebenen Lernstoff mit diesen Kindern zu erfüllen.“

Sue, Lehrerin an einer Grund- und Mittelschule in der Oberpfalz: „Neuen Unterrichtsstoff kann ich mit meinem Gewissen nicht vereinbaren“

Die Familien an der Grund- und Mittelschule, an der KR-Mitglied Sue unterrichtet, kommen mittlerweile aus ganz unterschiedlichen Verhältnissen. Ärmere Familien ziehen jetzt öfter zu ihnen aufs Land – die Mieten sind dort günstiger. Auch an ihrer Schule gibt es Eltern, die sich vorbildlich um ihre Kinder kümmern. „Manche Eltern, das muss ich so hart sagen, lassen ihre Kinder aber auch verwahrlosen. Das wird sich jetzt nochmal verschärfen.“

Seit der Schließung nutzt Sue eine Cloud im Internet, auf die alle Schüler zugreifen können. Über ihre dienstliche E-Mail-Adresse, die sie nun endlich bekommen hat, steht sie in Kontakt zu den Eltern ihrer Fünft- und Sechsklässer:innen. Montags verschickt sie einen Plan für die ganze Woche. „Ich will die Eltern jetzt auch nicht überstrapazieren. Die müssen jetzt nicht auch noch zum Lehrer werden“, sagt sie.

„Wenn ich in diesen Tagen Rückmeldungen bekomme, dann von Kindern aus gutem Elternhaus. Ich bin mir sicher, dass viele meiner Schüler:innen sich die Aufgaben überhaupt nicht anschauen werden. Sie sind noch jung, sie brauchen jetzt ihre Eltern, mehr als sowieso schon. Viele sind jetzt aber auf sich alleine gestellt. Die meisten haben nicht mal einen Drucker zuhause.“

Sue wird in den kommenden Wochen vor allem Unterrichtsstoff wiederholen, und gar nicht erst versuchen, neuen Stoff mit den Schüler:innen durchzugehen: „Das kann ich nicht mit mir vereinbaren, wenn ich weiß, dass nur zwei Drittel meiner Schüler:innen die Aufgaben machen werden.“

Luisa, Lehrerin an einer Grundschule in Berlin-Kreuzberg: „Manche Kinder werden jetzt kein warmes Mittagessen mehr bekommen“

Bis vor ein paar Wochen hatte Luisa nicht mal ein Smartphone, jetzt verschickt sie das Unterrichtsmaterial an ihre fünfte Klasse mit ihrem Whatsapp-Business-Account. „Wenn ich Mails verschicke, bekommen das manche Kinder gar nicht mit“, sagt sie. Dass manche Elfjährige selbst Whatsapp nutzen, sei zwar nicht legal, aber: „Mit Whatsapp kennen sie sich aus, schreiben schnell eine Nachricht, fotografieren mal was ab. Darüber erreiche ich viel mehr Kinder als per Mail, das hat sich jetzt schon gezeigt. “

Als klar war, dass ihre Schule schließt, hat sie sich einen Tag lang mit Kolleg:innen eine Strategie überlegt: jede Woche ein neuer Arbeitsplan. Einen weiteren Tag hat sie im Copyshop verbracht, um das Material vorzubereiten.

Vergangene Woche hat Luisa Videos von Schüler:innen bekommen, die abgefilmt haben, was sie schon alles bearbeitet haben, und die ihr Fragen gestellt haben, die Luisa per Sprachnachricht beantworten konnte. „Ich habe viel persönlichen Kontakt – aber nur zu einigen Kindern.“ Manche Kinder sind schon am letzten offiziellen Schultag nicht mehr gekommen. Ihre Arbeitspakete sollten sie dann eigentlich bei anderen Familien abholen, das haben sie aber bis heute nicht gemacht.

Luisa sorgt sich aber nicht nur um die Aufgaben. Seit diesem Schuljahr ist das Mittagessen für die 170.000 Kinder an Grundschulen sowie rund 5.000 Fünft- und Sechstklässler an Oberschulen in Berlin kostenlos. „Manche Kinder werden jetzt kein warmes Mittagessen mehr bekommen. Die Eltern kriegen das teilweise einfach nicht hin.“

Emma, Schülerin an einer Sekundarschule in Berlin: „Die Prüfungen machen mir Angst“

Eigentlich hätte sich Emma (15) gemeinsam mit ihren Klassenkamerad:innen in den nächsten Wochen auf den mittleren Schulabschluss vorbereiten sollen. Aber gemeinsam ist jetzt nichts mehr: „Ich gehe spazieren oder male alleine. Meine Freundinnen treffe ich gar nicht mehr. Das ist ziemlich langweilig“, sagt sie. Als die Schulen geschlossen wurden, bekam sie als Schülersprecherin Texte von ihrer Lehrerin geschickt, die sie in die Whatsapp-Klassengruppe postete. „Ich glaube aber nicht, dass irgendjemand aus meiner Klasse diese Texte liest.“

Vergangene Woche musste sie noch einmal in die Schule kommen, alleine, um sich die Unterlagen für ihre Probeprüfung abzuholen. Normalerweise hätte die neunte Klasse noch Arbeitsblätter mit den Themen behandelt, die die Schüler:innen noch nicht so gut können. „Das muss ich jetzt alleine machen und kann nicht einfach den Lehrer fragen, wenn ich nicht weiterweiß.“ Statt die Prüfung in der Schule zu machen, muss sie sich jetzt zuhause einen Timer stellen und die Aufgaben selbstständig bearbeiten. Um den Unterrichtsstoff sorgt sie sich nicht, aber um die Prüfungen: „Das macht mir Angst.“

„Ich glaube auch, dass es irgendwann richtig eng bei uns wird“, sagt sie. Sie teilt sich ihr Zimmer mit ihrer 18-jährigen Schwester, da fällt das Konzentrieren nicht immer leicht. „Wenn uns irgendwann verboten wird, rauszugehen, hätten wir nur einen kleinen Balkon, auf dem ich mal frische Luft schnappen könnte.“

Je länger die Schulen geschlossen sind, desto größer werden die Bildungslücken zwischen den Schüler:innen

Heidi, Sue und Luisa befürchten, dass die Bildungslücken zwischen den Kindern aus Akademikerhaushalten und Kindern aus Nicht-Akademikerfamilien immer größer werden, mit jeder weiteren Woche, in der die Schulen geschlossen sind. #FlattenTheCurve könnte so unfreiwillig zu #WideningTheGap werden.

„Wenn die Schule wieder losgeht, schieben wir Fächer wie Deutsch und Mathe in den Vordergrund. Ich weiß zwar gar nicht, ob das erlaubt ist, aber wir müssen irgendwie gucken, dass die Kinder das lernen, was sie auf jeden Fall lernen müssen. Das wird sonst eine große Katastrophe“, sagt Grundschullehrerin Heidi.

„Manche Kinder werden auf der Strecke bleiben. Die werden diesen riesigen Vorsprung kaum aufholen können. Das macht mich wirklich traurig, die stehen sowieso schon so schwach da“, sagt Sue.

Ein Mal die Woche versucht Luisa, alle Kinder ihrer fünften Klasse zu erreichen. Sie sollen sehen, dass ihr wichtig ist, wie es ihnen geht. Von vier Kindern hat sie seit der Schließung nichts mehr gehört. „Nächste Woche versuche ich es wieder.“


Danke an alle 207 Lehrer:innen, die an meiner Umfrage zu Unterricht in Zeiten von Corona teilgenommen haben. Eure Antworten haben mir sehr dabei geholfen, die richtigen Schwerpunkte in meinem Artikel zu setzen.

Redaktion: Philipp Daum; Schlussredaktion: Susan Mücke; Fotoredaktion: Martin Gommel.