Ich muss dringend mit Markus Söder reden. Markus, möchte ich sagen (ich duze ihn meinem Kopf): Markus, stell dir vor, du bist Lehrer und machst einen Klassenausflug ins Aquarium. Alle deine Schüler:innen sollen danach im Bus sitzen. Sagst du ihnen: „Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht?“ Nein, sagst du nicht. Du sagst deinen Schülern: Jeder merkt sich den Nebenmann oder die Nebenfrau. Sicher ist sicher. Und Markus, würde ich sagen, dieses „Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht“- Prinzip funktioniert nicht nur im Bus nicht, sondern auch nicht in der Bildungspolitik.
Aber von vorn: Seit März 2018 koalieren SPD und Union groß vor sich hin, die Beteiligten sind mit all dem nicht so richtig zufrieden. Schwach begonnen und stark nachgelassen, liest man in ihren Gesichtern. Was Schulen und Universitäten angeht, hatte sich die GroKo aber viel vorgenommen. Über einen der wichtigsten Punkte im geplanten Koalitionsvertrag schrieb ich damals in unserer Wahl-Hilfe für SPD-Mitglieder: „Zurzeit kochen alle Bundesländer ihr eigenes Süppchen, wenn es um Bildung geht. Mit einem Nationalen Bildungsrat könnten sie sich etwas annähern, das wäre vor allem für Eltern mit schulpflichtigen Kindern oder Studenten, die von einem Bundesland ins andere ziehen, ein Segen.“ Das Ziel: die Standards zwischen den Bundesländern vergleichbar machen. Es gab zustimmendes Nicken von Bildungsexpert:innen, so geht es ja nicht weiter. Die Zeit, sie drängt!
Der Nationale Bildungsrat ist vorerst gestorben. Vielleicht liegt es daran, dass der Name nicht GroKo-mäßig genug war. Der Gute-Bildung-Rat, das Gerechte-Chancen-Gremium oder das Hohe-Standards-Gesetz. Sowas beschließt man heute. Der Grund ist aber ein anderer: Markus Söder hatte Angst. Dass gleiche Standards in den Bundesländern beim Abitur am Ende in Bayern das Niveau senken, sagt er. Wir sind hier doch nicht in Berlin! „Das bayerische Abitur bleibt bayerisch!“, kam es dann bedeutungslos aus ihm heraus. Bayerisch bleibt bayerisch und Brautkleid bleibt Blautkreid!
Worum es also wirklich geht, mal wieder: Ihm redet so schnell niemand in seine bayerische Bildungspolitik hinein! Bildung – und meine Finger wehren sich fast, diese Wörter wieder und wieder und wieder tippen zu müssen – ist Ländersache! Stichwort: Bildungsföderalismus. Einen nationalen Bildungsrat scheinen einige Bundesländer nur dann zu akzeptieren, wenn er an den Machtverhältnissen, und folglich an der Bildung, nichts ändern kann. Also eine Nullnummer bleibt.
Warum sind einige Bundesländer eigentlich so stolz darauf, für etwas zuständig zu sein, das der Großteil der Bevölkerung als gegen die Wand gefahren und ungerecht bezeichnen würde?
In die lange Reihe der dem Bildungsföderalismus zum Opfer gefallenen reiht sich der Bildungsrat nun also auch ein. Und er ist dort in guter Gesellschaft. Zuletzt hatten die ständigen Keifereien zwischen Bund und Ländern den Digitalpakt maximal lange hinausgezögert. Auch bei der Frage Warum bröckelt in den Schulen eigentlich der Putz von der Decke? landet man schnell bei der scheiternden Zusammenarbeit von Bund, Ländern und Kommunen. Dabei könnte man da nun wirklich mal handeln. Die Zeit, sie drängt!
Nach Markus Söder hat sich auch Baden-Württemberg vom Nationalen Bildungsrat verabschiedet. Die Kultusministerin erklärte den Rat zum komplett überflüssigen Gremium. „Wir brauchen keine Vorgaben aus Berlin, sondern wir Länder sind stark genug, um selbst verbindliche und einheitliche Standards zu entwickeln“, sagte Susanne Eisenmann (CDU), nachdem die starken Länder es seit Jahren nicht hinbekommen haben, selbst verbindliche und einheitliche Standards zu entwickeln.
Auch die Heute Show machte sich anfangs über die Idee des Bildungsrats lustig:
#witzig. Dabei gibt es einen wichtigen Unterschied zur Kultusministerkonferenz. Im Bildungsrat sollten Forscher:innen ganz offiziell die Bildungspolitik beraten. Nicht mehr nur in selbst ins Leben gerufenen oder von Politiker:innen bestimmten Expertengremien. Das wäre ein demokratisch legitimiertes, regelmäßiges Einbeziehen von Forschungsergebnissen, das es bisher so nicht gibt. Das wäre wichtig, denn zu oft hat man den Eindruck, die Entscheidungen der Politik haben mit Erkenntnissen der Forschung nicht so richtig viel am Hut. Genau: Die Zeit, sie drängt.
Die Bildungsforscher:innen sind es auch, die nach ein paar Tagen des Kopfschüttelns wieder bei Sinnen sind und sich für ihre Verhältnisse deutlich äußern: „Diskursverweigerung“, „Täuschung der Öffentlichkeit“ und „verpasste Chance“ nennen sie Söders Entscheidung im Bildungsblog von Jan-Martin Wiarda.
Markus Söders Zitat vom Anfang ging übrigens noch weiter. Und auf eben diesen Halbsatz konzentrieren sich derzeit auch viele Medien und einige Ministerpräsidenten. „Das bayerische Abitur bleibt bayerisch“, und weiter: „… übrigens genauso, wie die Ferienzeiten bleiben, wir wollen auch die nicht angleichen“. Dass sich Medien lieber mit den Sommerferien beschäftigen als mit Gremien ist verständlich, Sommerferien sind so schön greifbar (mein nächster Sommerurlaub!), Bildungsräte eher unhandlich.
Warum Markus Söder die Sommerferien erwähnt: Damit es in Deutschland nicht zum Verkehrs- und Urlaubs-Chaos kommt, rotieren die Bundesländer den Beginn ihrer Sommerferien durch. Also alle außer Bayern und Baden-Württemberg. Eigentlich wollen die Länder diese Absprachen jetzt neu regeln. Also alle außer Bayern und Baden-Württemberg.
Man könnte hier ein Muster erkennen. „Jetzt wird jedes Land genau wie Bayern die Sommerferien im Alleingang festlegen“, warnte Hamburgs Bildungssenator Ties Rabe (SPD) in der Süddeutschen Zeitung. Und: „Viel Spaß auf den langen bayerischen Autobahnen!“ Die ausgestreckte Zunge müssen wir uns jetzt dazu denken.
Man muss solche Äußerungen nicht besonders ernst nehmen, kann man aber. Denn sie zeigen – gemeinsam mit dem Tempo der Fortschritte in Richtung gleiche Standards – dass sich die Länder nicht nur ständig mit dem Bund über Machtverhältnisse streiten, sondern auch untereinander unsachliche Lagerbildung betreiben.
Um es mit meinem Lieblingsverb von Benjamin von Stuckrad-Barre zu sagen: Die Bildungspolitik zeitlupt voran. Es ist beeindruckend, wie lange die Zeit drängen kann.
Redaktion: Vera Fröhlich, Fotoredaktion: Martin Gommel, Audioversion: Christian Melchert