Tablets machen den Unterricht besser – sie anzuschaffen kann trotzdem ein Fehler sein

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Kinder und Bildung

Tablets machen den Unterricht besser – sie anzuschaffen kann trotzdem ein Fehler sein

Deutschlands Schulen funktionieren oft noch wie im 20. Jahrhundert. Das könnte der „Digitalpakt“ der Bundesregierung tatsächlich ändern – wenn das Geld für die richtigen Dinge ausgegeben wird. Wie das gehen kann, habe ich mir von meinem alten Mathelehrer in Schleswig-Holstein zeigen lassen.

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Bildungsreporter

Als die Sechstklässler:innen ihren Klassenraum im Erdgeschoss betreten, strahlt der Beamer bereits eine große, rechteckige Schokolade an die Wand. Sönke Schulmeister, der Lehrer, verkündet das Thema der Stunde: „Heute machen wir Bruchrechnung!“ Die Schokolade wird als Vorlage zum Teilen dienen.

Seine Schüler:innen schlagen die Hände über dem Kopf zusammen: „Oh, nein!“ Bruchrechnung bleibt auch mit der neuesten Beamer-Technik: Bruchrechnung. Bei Sönke Schulmeister (gibt es eigentlich einen besseren Namen für einen Lehrer?) lernte ich selbst schon, wie man rechnet. In dieser Schulstunde im Dezember 2018 möchte er mir aber etwas anderes zeigen: Alle Schüler:innen haben Tablets vor sich liegen. Sein Unterricht ist digital geworden. 60 Minuten später werden die Schüler:innen Videos geguckt, digitale Arbeitsbögen bearbeitet, ihre Lösungen verglichen und in einem digitalen Quiz ihr Können verglichen haben.

Das ist an kaum einer deutschen Schule Alltag, wie zwei neue Studien belegen. Da ist die ICILS (International Computer and Information Literacy Study) 2018, die unter anderem zeigt, dass Deutschland im internationalen WLAN-Vergleich eher eine runtergerockte Regionalbahn mit „leider defekter“ Toilette als ein moderner Schnellzug ist. In einer Umfrage des WDR haben Schulleitungen und Schüler:innen bewertet, wie gut (also schlecht) ihre Schulen ausgestattet sind. Der Digitalpakt der Bundesregierung mit seinen fünf Milliarden Euro sollte all das besser machen, die Idee ist schon über drei Jahre alt, angekommen ist davon aber bisher in der Breite nichts. Im Unterricht von Sönke Schulmeister wiederum vergeht kaum eine Stunde ohne Tablet und Beamer.

Seit meinem Besuch bei ihm verstehe ich, warum Tablets den Unterricht für Lehrkräfte tatsächlich leichter machen können und was die Schüler:innen davon haben. In drei Monaten sollen die Schulleitungen endlich die ersten Anträge für das Digitalpakt-Geld einreichen können. Die Gefahr, dass Schulen das Geld langfristig verschwenden, ist aber groß. Denn teure Geräte allein machen noch keine Digitalisierung.

Bringt euer eigenes Tablet mit

„Bring Your Own Device“ heißt das Konzept, mit dem an der Auguste Viktoria Schule (AVS) in Itzehoe, an meinem ehemaligen Gymnasium, zumindest eine Klasse pro Jahrgang im Jahr 2019 ankommen soll. Also: Bringt eure eigenen Tablets mit. „Die Geräte haben einen viel zu kurzen Lebenszyklus. Es lohnt sich nicht, schuleigene Tablets zu kaufen. Die Gefahr ist, dass in drei, vier Jahren jede Schule ihren eigenen IT-Friedhof hat“, sagt Schulmeister und meint damit auch die Schulen, die große Teile des Digitalpakt-Gelds für Tablets und Smartboards ausgeben wollen.

„Der größte Fehler wäre, teure Geräte anzuschaffen, die niemand bedienen und warten kann.“ An der AVS setzen sie deshalb auf die Geräte der Schüler:innen. Diese müssen den Mindeststandards der Schule entsprechen. Wer mehr will, kann aufrüsten und bessere oder größere Geräte kaufen, die findet man ja immer. Für Familien, die sich das nicht leisten können, gibt es Zuschüsse vom Amt oder vom Förderverein der Schule.

Mit diesen eigenen Geräten scannen Sönke Schulmeisters Schüler:innen im Matheunterricht einen QR-Code und landen bei einem Erklärvideo vom Youtuber „Lehrer Schmidt“, das die Grundregeln der Bruchrechnung erklärt. Warum macht mein alter Mathelehrer das nicht mehr selbst? Ist er müde vom jahrzehntelangen Erklären?

Nein, ist er nicht: Manche Schüler:innen gucken das Video einmal und lösen die Aufgaben direkt, andere spulen immer wieder zurück zu Stellen, die sie nicht verstanden haben. „Ich benutze die Tablets nicht in jeder Stunde, aber immer, wenn es sinnvoll ist“, sagt Sönke Schulmeister.

Vor dieser Wahl steht in Deutschland kaum eine Lehrkraft – und kaum ein:e Schüler:in:

Infografik: Bent Freiwald

Der digitale Vergleich Deutschland gegen Dänemark ist sowieso ein heftiger. Zeit Online hat ihm einen eigenen Artikel gewidmet, sie fasst zusammen: „Buchstäblich jede dänische Schule verfügt laut ICILS über ein stabiles WLAN-Netz, in Deutschland liegt der Wert bei einem Viertel. Und während in deutschen Schulen sich 17 Prozent der Schüler und Lehrer über eine gemeinsame Lernplattform austauschen, sind es jenseits der Grenze 97 Prozent.“

„Funktionierendes WLAN war für uns ein ganz großer Schritt“, sagt Schulmeister. Er ist sowas wie der personifizierte Gegenentwurf zu Deutschlands Digitalpolitik der letzten 15 Jahre. Während sich Regierung, Bundestag und Bundesrat noch darüber stritten, ob der Bund überhaupt Geld für Bildung ausgeben darf (das ist doch schließlich Ländersache!), warf sein Beamer schon lange Bilder und Videos an die Wand. „Wir haben den Auftrag, die Medienkompetenz an die Schüler weiterzugeben“, sagt er.

Instagram und Tiktok machen auch im Unterricht keine Pause

Als die Schüler:innen seiner sechsten Klasse den Arbeitsbogen bearbeitet haben, sollen sie ihre Ergebnisse vergleichen. Ein Klick später ist Alex’ IPad mit dem Beamer verbunden. Die Schokolade verschwindet von der Wand, es erscheint sein digitales Arbeitsblatt. In Echtzeit erklärt Alex die Aufgaben und korrigiert seine falschen Ergebnisse.

Zu meiner Schulzeit ging man nach vorn und schrieb das, was man ein paar Minuten vorher bereits in sein Heft geschrieben hat, nochmal an die Tafel. Hält doppelt eigentlich immer besser? Während Alex noch die letzten Zahlen einträgt, schallt ein Video durch den Raum. „Uuups“, kichert es aus der Ecke hinten links. Die Klasse lacht los, aber nur kurz, passiert ja ständig. Der Kampf um die Aufmerksamkeit war schon immer aufwendig und ist nun noch härter: Auf Instagram und Tiktok passieren auch während des Unterrichts wichtige Dinge.

Was auch ständig passiert: Geräte gehen kaputt, brauchen Updates, sind veraltet. Eigentlich sollten sich an der AVS zwei Fachleute um die Wartung kümmern. Bei knapp 1.000 Schüler:innen und 70 Lehrkräften klappt das mäßig gut. „Eigentlich bräuchte jede Schule eigene Fachleute“, erklärt Anne Gruitrooy, die sich mit Schulmeister um das Digital-Konzept der Schule kümmert. Doch die fehlen, immer noch, an mindestens jeder zweiten Schule in Deutschland:

Infografik: Bent Freiwald

Note für Deutschland: ausreichend – aber eigentlich reicht da gar nichts aus

Im Durchschnitt vergeben die Schulleitungen in Deutschland die Note 3,8 für ihre digitale Ausstattung. Die Schüler:innen die Note 3,9 – das heißt eigentlich „ausreichend“, aber reicht das alles wirklich aus, um im Jahr 2019 zeitgemäß zu unterrichten?

Infografik: Bent Freiwald

Am Ende der Mathestunde dürfen die Schüler:innen von Sönke Schulmeister spielen, so nennen sie es selbst. Für Schulmeister bedeutet das in erster Linie: schauen, wo es noch hakt. Fachwort: Diagnostik. Und das geht heute am besten mit einem Quiz. Ein Bruch nach dem anderen ziert die Wand und die Tablets der Sechstklässler:innen. Zu jeder Aufgabe gibt es vier Antwortmöglichkeiten, nur eine stimmt.

Ich spiele mit: ⅞ + ¾ = … ?

Nach jeder Aufgabe berechnet die App die ersten fünf Plätze mit Gesamtpunktzahl. „Das Quiz zeigt mir immer, wo die Schüler:innen noch Schwierigkeiten haben. So einen detaillierten Überblick bekomme ich sonst nicht. Dann weiß ich: Das muss ich nächste Stunde nochmal vertiefen“, sagt Schulmeister.

Der Bedarf an Fortbildungen wird mit dem Digitalpakt nochmal wachsen

Ob die Kolleg:innen auch so arbeiten, frage ich. „Das ist sehr unterschiedlich“, sagt Anne Gruitrooy. „Es bringt natürlich nichts, wenn an einer Schule nur fünf Nasen wissen, wie man digitale Medien benutzt.“ Sönke Schulmeister sagt: „Nicht jeder Erdkundelehrer muss einen Algorithmus erklären können. Ich muss ja auch kein Französisch beibringen können. Es geht um die Basics.“

Es gibt zwei Arten, Tablets zu nutzen, sagt Sönke Schulmeister. Die erste Art ist der reine Konsum, das machen die Kids meistens zu Hause. Die zweite Art ist das Tablet als Arbeitsgerät – das sollen die Kinder in der Schule lernen. Und das haben sie nötig, wie die ICILS-Studie zeigt. Wer im digitalen Zeitalter aufwächst, ist eben nicht automatisch digital fit. Über Ländergrenzen hinweg kommen 18 Prozent der Achtklässler:innen nicht mal auf das grundlegende Kompetenzniveau. Also: sicher im Internet surfen, eine einfache Präsentation erstellen, bei Word Texte formatieren.

Dass am Ende der Mathestunde das faire Aufteilen der Schokolade kein Problem mehr für die Schüler:innen ist, liegt vielleicht am Beamer und an den Tablets. Vielleicht auch daran, dass es keine echte Schokolade war, um die man sich hätte streiten können. Wahrscheinlich ist Sönke Schulmeister aber einfach ein guter Lehrer, der die Zeichen der Zeit erkannt hat: Die Schüler:innen leben sowieso in einer Welt, in der Smartphone, digitale Plattformen und Google zum Alltag gehören. Wenn Schulen darauf verzichten, könnten sie für die heutige Generation von Schüler:innen gefährlich bedeutungslos werden.

Achja. Die Lösung für die Bruchrechnungs-Aufgabe ist 13/8.


Redaktion: Rico Grimm; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Fotoredaktion: Martin Gommel.