Lesen ist Telepathie, und das Buch ist die mächtigste jemals erfundene Technologie.
Homer, Shakespeare, Voltaire, Flaubert, Tolstoi, Woolf, Hemingway – das sind heute nur noch Namen, ohne lebende Personen dahinter. Wir können nicht mit ihnen reden oder sie berühren, aber sie haben ihre Gedanken als geschriebenes Wort verewigt.
Aristoteles’ Logik, Keplers Astronomie, Newtons Physik, Darwins Biologie, Wittgensteins Philosophie – das sind Phänomene ohne lebende Urheber. Sie können ihre Ideen nicht mehr verteidigen, und doch sprechen wir immer noch darüber.
Ohne Bücher hätten die Menschen die Grenzen von Zeit und Raum nie überwunden. Jede neue Generation hätte ihre eigenen Lebenserfahrungen machen müssen, statt den Luxus zu genießen, auf der Vergangenheit aufzubauen; unser gemeinsames Wissen als Gesellschaft wäre kaum gewachsen.
Alles, was die moderne Welt ausmacht, hat seine Wurzeln in der Erfindung des Schreibens. Alles, was wir erreicht haben, haben wir durchs Lesen erreicht.
Selbst auf individueller Ebene ist eine der effektivsten Möglichkeiten, etwas über die Welt zu erfahren: Stück für Stück in die Weisheit der Vergangenheit einzutauchen. Anstatt dein Leben lang zu rätseln, wie der menschliche Geist funktioniert, kannst du einfach die Erfahrung von jemandem nutzen, der es bereits zu wissen glaubt. Statt die Naturgesetze selbst abzuleiten, kannst du dich einfach bei bereits existierenden Forschungsarbeiten bedienen.
Und darüber hinaus ist das Lesen eine wahre Freude. Es ist ein Hauch von Wachstum, es ist ein Leuchtfeuer der Inspiration, eine Quelle der Vernetzung. Wir sind das, womit wir unsere Zeit verbringen, und wir werden zu dem, was wir konsumieren. Es ist also folgerichtig zu sagen: Was wir lesen bestimmt, wie wir die Welt sehen.
Denn lesen ist mehr, als nur Worte in unseren Kopf zu flüstern. Es geht auch um eine bestimmte Geisteshaltung. Die Art und Weise, wie du liest, hat großen Einfluss darauf, was du daraus lernst. Sie prägt, worauf du achtest und wie du dich entwickelst.
Meiner Meinung nach wird dieser Aspekt des Lesens oft vernachlässigt.
Beim Lesen geht es zu oft um richtig oder falsch
Die meisten von uns lernen das Lesen in der Schule. Wenn wir lesen, dann aus einem dieser zwei Gründe: um auswendig zu lernen oder kritisieren zu können. Beides mit dem Ziel, zwischen richtig oder falsch entscheiden zu können.
Wenn wir etwas aus einem Lehrbuch auswendig lernen, ist das wesentliche Ziel, bei Tests gut abzuschneiden. Selbst wenn wir uns nicht jedes Wort einprägen, ist das Ziel immer noch, alle Details aus einem bestimmten Bereich aufzusaugen, damit wir eine Prüfung bestehen können. Alles, was darüber hinausgeht, ist für das Endergebnis unwichtig.
Auch wenn wir etwas kritisieren, zum Beispiel ein Buch oder eine historische Entscheidung, wollen wir unterscheiden zwischen dem, was richtig ist, und dem, was falsch ist. Alles, was wir lesen, soll in einen vorgegebenen Rahmen passen, damit wir dann überzeugende Argumente liefern können.
Das funktioniert in der Schule – aber es wirkt sich leider auf unseren Alltag aus. Denn durch diese Einstellung werden wir um Erkenntnisse gebracht.
Die Schule hat uns ein für alle Mal verdorben
Ich kenne Menschen, die diesen Prozess durchlaufen und für gut befunden haben. Aber später haben sie das Gefühl, ihre Zeit zu verschwenden, wenn sie sich nicht alle Fakten eines Textes merken oder sich nicht an alles erinnern können. Das hält sie künftig vom Lesen ab.
Ich kenne auch Menschen – und diese Leute gibt es im Internet zuhauf –, die nicht anders können, als alles mit einem kritischen Blick zu lesen. Sie sind so sehr darauf versessen, jeden kleinen Fehler in einem Text zu finden, dass sie immer das große Ganze übersehen. Sie lehnen alles ab, was nicht mit ihrem bestehenden Weltbild übereinstimmt. Und sie vergessen, auf das zu achten, was jenseits von Schwarz und Weiß liegt.
Natürlich ist es wichtig, sich auf das zu fokussieren, was einem etwas bringt. Und ebenso wichtig ist es zu erkennen, ob das Gelesene faktisch falsch ist.
Aber das heißt: Jedes Mal, wenn du etwas mit der Einstellung liest, dass du richtig von falsch unterscheiden musst, verringert sich, wie viel du aus einem bestimmten Text herausholen kannst. Du beschränkst eine Erkenntnis, die viele Aspekte hat, auf nur zwei Dimensionen.
Wer viel liest, dem wird immer klarer: Wenn du nur Bücher lesen würdest, denen du zu 100 Prozent zustimmst oder nur jene, die es wert sind, auswendig gelernt zu werden, würde dir bald der Lesestoff ausgehen.
Beim Lesen geht es nicht darum, auf Details zu achten. Es geht darum, sich eine neue Perspektive zu erschließen.
Die wahre Freude am Lesen
Wenn wir uns weder an alles erinnern sollen, was wir konsumieren, noch alles kritisch hinterfragen sollen – wo genau liegt dann der Wert des Lesens?
Um das zu beantworten, müssen wir herausfinden, warum wir überhaupt lesen, und dieser Grund ist relativ simpel: Wir lesen, um zu verstehen.
Ob du eine moderne Komödie liest oder einen russischen Klassiker; ob du den neuesten Band der Pop-Psychologie oder ein altes Notizbuch eines römischen Kaisers durchgehst – so oder so: Du versuchst, dich in einen anderen Zustand der Realität zu versetzen, sodass du aufnehmen kannst, was der Text dir sagt.
In diesem Fall gibt es nur einen nützlichen Filter: zu unterscheiden zwischen dem, was für dich relevant ist und was nicht, zwischen dem, was wichtig ist und was nicht.
Wenn du nur nach richtig oder falsch filterst, versuchst du nicht nur, ein Ganzes anhand einzelner kleiner Teile zu malen. Du schränkst auch das ein, was du verstehst. Wer kann dir sagen, dass du nicht auch aus falschen Dingen etwas lernen kannst? Oder, was noch wichtiger ist: Wer sagt denn, dass das, was du für richtig hältst, nicht nur ein Vorurteil ist? Dass du das nicht eines Tages ganz anders siehst?
Jedes Mal, wenn ich ein Buch nochmal lese, das mir in der Vergangenheit wichtig war, sammle ich neue Erkenntnisse. Die meisten Bücher enthalten mehr als eine Idee, und sie vermitteln unterschiedliche Dinge – je nachdem, wann du sie liest.
Ich kann viele Fälle aufzählen, in denen ich etwas verpasst habe, weil ich dachte, dass ich es bereits wüsste. Oder weil es für mich keinen Sinn ergab. Oder dass ich – weil ich dachte, zwischen richtig und falsch unterscheiden zu können – zu früh verurteilt habe. Nur um zu erkennen: Mit einer neuen Denkweise und einem ausgefeilteren Standpunkt finde ich darin etwas von tiefer Weisheit.
Die viel besseren Fragen sind: Was ist daran richtig? Selbst wenn ich nicht daran glaube: Warum glaubt jemand anderes daran?
Der Sinn des Lesens ist nicht das Auswendiglernen, und es ist sicherlich nicht die Kritik. Es geht darum, mit einem offenen Geist aufzunehmen und zu filtern – das Richtige zur richtigen Zeit zu finden, damit du dein bestehendes Weltbild verbessern und aktualisieren kannst, anstatt das, was du liest, so zu formen, dass es in dein Weltbild passt.
Das Schöne an dieser Denkweise ist, dass du nicht bewusst filtern musst. Du musst nur beschließen: Es ist in Ordnung, nicht zuzustimmen, und es ist in Ordnung, das zu übersehen, was keinen Sinn ergibt. Von diesem Punkt an wird dein Verstand automatisch nach dem filtern, was relevant ist und was nicht.
Wenn das passiert, wirst du es merken. Und es wird dich so verändern, wie es das Auswendiglernen niemals kann.
Und was lernen wir daraus?
Lesen ist nicht nur ein herrliches Hobby. Wenn es richtig gemacht wird, ist es auch eine Tugend. Es lehrt dich nicht nur, wie man lebt und was man tut; es lehrt dich, wie man sieht.
Indem wir in die Köpfe einiger der größten Denker und Geschichtenerzähler eintauchen, versetzt uns das Lesen in Bereiche der Wirklichkeit, die uns sonst unbekannt bleiben würden. Aus einem guten Buch kommen wir oft mit einer neuen Sichtweise heraus, und wir können – wenn wir wollen – diese neue Sicht dazu nutzen, eine bessere Welt um uns herum zu schaffen.
Damit ein Buch diese Wirkung entfalten kann, müssen wir aber auch unseren Teil dazu beitragen. Wir müssen mit der richtigen Haltung ans Buch herangehen, und wir müssen uns in einen Wahrnehmungszustand versetzen, der Feinabstimmung zulässt.
Im Gegensatz dazu, wie die meisten von uns lesen lernen, beschränkt sich dieser Prozess nicht darauf, zwischen richtig und falsch zu unterscheiden. Mit dieser alten Denkweise betrügen wir uns um eine nuanciertere Weise des Verstehens, und wir vergessen das Gelesene schnell.
Jedes Wort, jeder Satz und jeder Absatz eines guten Textes hat das Potenzial, dir etwas beizubringen. Das bedeutet nicht, dass du nicht wählerisch sein solltest, was du liest. Du kannst etwas zur Seite legen, wenn es dich nicht anspricht. Aber es bedeutet sehr wohl, dass du dich zunächst darauf einlassen musst, berührt zu werden, damit dich ein Buch auch wirklich berühren kann.
Wenn es dir um Relevanz und Verständnis geht, wirst du auch Relevantes finden, und dann wird dir das geschriebene Wort Freude machen.
Oder wie Game-of-Thrones-Autor George R.R. Martin in Teil 5 („Ein Tanz mit Drachen“) formuliert:
„Ein Leser lebt tausend Leben, bevor er stirbt“, sagte Jojen.
„Der Mann, der nie liest, lebt nur einmal.“
Zat Rana ist Schriftsteller und Stratege. Er veröffentlicht seine Texte auch auf seiner Website „Design Luck“. Außerdem verschickt er einen kostenlosen wöchentlichen Newsletter an Tausende von Leser:innen, die „intelligenter denken und leben“ wollen. Diesen Text über das Lesen hat er zuerst auf Englisch bei Medium.com veröffentlicht.
Übersetzung: Vera Fröhlich; Redaktion: Bent Freiwald.