Wenn du etwas vergisst, läuft in deinem Gehirn alles nach Plan

© iStock / francescoch

Kinder und Bildung

Wenn du etwas vergisst, läuft in deinem Gehirn alles nach Plan

Ich hasse es, wenn ich mir Dinge nicht merken kann. Aber die Hirnforschung der letzten Jahre zeigt: Wir müssen vergessen, um uns erinnern zu können.

Profilbild von Bent Freiwald
Bildungsreporter

Genau einmal im Jahr schlage ich die Hände vor dem Gesicht zusammen und kann nicht glauben, dass es schon wieder passiert ist: Ich habe Marcos Geburtstag vergessen. Dieses Mal schon ungefähr das achte Jahr in Folge. Einmal habe ich ihm gesagt: „Selbst wenn ich irgendwann dran denke: Ich gratuliere dir trotzdem nicht, aus Tradition!“

Dabei ist Marco nicht irgendwer, wir kennen uns seit der siebten Klasse. Und sein Geburtsdatum hat sich seitdem auch nicht verändert (soweit ich weiß).

Seit kurzem gibt es gute Nachrichten für mich und alle anderen, die sich wie schusselige Idioten fühlen, wenn sie mal wieder etwas vergessen haben: Vergessen ist kein Fehler, keine Schwachstelle – sondern eine enorm wichtige Funktion des Gehirns.

Um das zu verstehen, lohnt sich ein Blick ins Gehirn: Was passiert in unserem Kopf, wenn wir Informationen speichern? Wo speichern wir sie ab? Und was geht da schief, wenn wir etwas vergessen? In diesem Text erkläre ich dir: Gar nichts geht da schief!

Alles zu vergessen ist schrecklich, sich an alles zu erinnern aber auch

Auch wenn ich mich jedes Jahr an Marcos Geburtstag (oder eher: ein paar Tage danach) wie der größte Depp fühle: Es gibt natürlich Menschen, die echte Probleme mit ihrem Gedächtnis haben. Da wäre etwa Clive Wearing, der Mann ohne Gedächtnis. Wearing hat eine spezielle Form von Amnesie, er kann keine neuen Informationen abspeichern, sich überhaupt nichts Neues mehr merken. Sein Gedächtnis hat eine Dauer von 30 Sekunden, manchmal hält es auch nur sieben Sekunden, oder gerade mal für die Dauer eines einzigen Satzes.

Kein Wunder, dass er seine Ärzte für ziemlich inkompetent hält: „Ich habe nie einen von ihnen gesehen“, sagt er. Als ich das erst Mal das folgende Video über Clive Wearing gesehen habe, musste ich ganz schön schlucken. Wir sehen Wearing, der sich gerade erst lange mit seiner Frau unterhalten hat (die einzige Person, an die er sich erinnert). Sie geht kurz raus, um einen Kaffee zu kochen. Als sie wieder den Raum betritt, ist er überrascht und freut sich sehr, sie zu sehen. Denn er erinnert sich nicht daran, dass sie bereits seit Stunden bei ihm zu Besuch ist. Ich habe den eindrücklichsten Moment im Video herausgesucht:

https://www.youtube.com/watch?t=156&v=Vwigmktix2Y

Der Fall Clive Wearing zeigt in extremer Weise, was passieren kann, wenn wichtige Teile des menschlichen Gedächtnisses zerstört werden. Es verändert das komplette Leben, und damit auch die Art wie man sich selbst wahrnimmt. An einem anderen Punkt des Videos sagt Wearing: „Ich habe noch nie einen Menschen gesehen, noch nie einen Traum oder einen Gedanken gehabt.“

Das andere Extrembeispiel sind Menschen mit einem perfekten Gedächtnis, die sich an jedes Detail erinnern können. Ja, auch die gibt es. Wenn auch nur ca. 80 auf der ganzen Welt. Es sind Menschen mit dem sogenannten hyperthymestischen Syndrom, wie Jill Price, die sich seit ihrem 14. Lebensjahr an so gut wie alles erinnert. Fragt man sie nach einem beliebigen Tag in der Vergangenheit, kann sie genau sagen, welche Kleidung sie trug und was sie zum Mittagessen gegessen hat. Sie vergisst nichts davon – und das ist schrecklich. In einem Interview mit der Zeit sagt sie: „Ich fühle mich oft wie gelähmt. Ich hasse Veränderungen. Und ich trage ständig 49 Jahre an Gefühlen mit mir herum.“

Wie wir Informationen abspeichern

Forscher:innen vergleichen das gesunde menschliche Gedächtnis gern mit einer Art Bücherregal, in dem jedes Buch für eine Erinnerung steht, das man aus dem Regal nehmen und aufschlagen kann. Das Bild ist aber zu stark vereinfacht, denn eine einzelne Erinnerung kann über das ganze Gehirn verteilt gespeichert sein. Nehmen wir die berühmte Erbsensuppe deiner Oma. Nervenzellen im olfaktorischen Cortex haben gespeichert, wie die Suppe riecht, nach Erbsen und dem Sellerie, den sie immer mit reingeschnippelt hat. Im visuellen Cortex – also am anderen Ende des Gehirns – ist gespeichert, wie die Suppe aussieht (keine besonders schöne Erinnerung ist, es ist immer noch Erbsensuppe). Im gustatorischen Cortex ist der Geschmack hinterlegt. All diese Nervenzellen zusammen formen die Erinnerung an die Erbsensuppe.

Infografik: Bent Freiwald

Noch ein Bild, um besser zu verstehen, was im Gehirn passiert, wenn du dich an etwas erinnerst: Stell dir eine La-Ola-Welle im Fußballstadion vor. Niemand aus dem Publikum alleine ist die La-Ola-Welle – erst wenn genügend Zuschauer:innen zusammen, in einem bestimmten zeitlichen Muster, ihre Arme in die Höhe werfen, entsteht eine richtige Welle. Und schon wandert die Welle von links nach rechts über die Ränge. Übertragen auf unser Gehirn bedeutet das: Nur, wenn bestimmte Nervenzellen in einem bestimmten Muster aktiviert werden, erinnerst du dich an die Suppe.

Damit das passieren kann, müssen sich die Verbindungen zwischen den Nervenzellen (die Synapsen) verändern. Und zwar indem die Rezeptoren an den Synapsen angepasst werden, sodass sie empfänglicher für bestimmte chemische Botenstoffe sind. Wenn sich so Verbindungen zwischen Nervenzellen gebildet haben, spricht man in der Wissenschaft von einem „Engramm“. Dazu gehören dann alle Nervenzellen, die bei einer Erinnerung aktiviert werden, beziehungsweise alle Leute, die bei der La-Ola-Welle die Arme gehoben haben.

Mehr noch: Zuschauer:innen, die bei der ersten La-Ola-Welle noch ganz zaghaft die Hände heben, werden mit jedem Durchgang sicherer. Das heißt: Je öfter Nervenzellen miteinander aktiviert werden (weil sie Teil einer Erinnerung sind), desto stärker wird auch das neuronale Netz.

Die Seepferdchen in deinem Kopf

Woher weiß das Gehirn, welche Nervenzellen es aktivieren muss, um sich an etwas bestimmtes zu erinnern? Wie also bildet sich ein Engramm?

Bleiben wir bei der Erbsensuppe. Damit ein Engramm entsteht, muss unser Gehirn den Geruch, den Geschmack und das Aussehen der Suppe über unser sensorisches Ultrakurzzeitgedächtnis aufnehmen und sich kurz merken. Damit sie zu einer Erinnerung wird, müssen die Verbindungen zwischen den beteiligten Nervenzellen „konsolidiert“ werden, das heißt: sie werden gefestigt. Damit das funktioniert, müssen wir etwas immer wieder wiederholen (zum Beispiel Vokabeln), wieder erleben oder etwas besonders emotional, eindrücklich oder wichtig finden (zum Beispiel der Geburtstag eines guten Freundes …).

Was in unserem Gehirn dabei passiert, war lange Zeit unklar. Bis der Chirurg William Scoville 1953 im US-Bundesstaat Connecticut einen jungen Epileptiker namens Henry Molaison einer ziemlich rabiaten Hirnoperation unterzog. Durch Zufall fand er dabei etwas Wichtiges heraus: Nämlich, dass der sogenannte Hippocampus (eine Gehirnregion, die aussieht wie ein kleines Seepferdchen) die Schaltzentrale unseres Gedächtnisses ist. Der Chirurg wollte den linken und rechten Temporallappen entfernen, denn dort vermutete er den Auslöser der Epilepsie. Er saugte dabei allerdings ungefähr zwei Drittel des Hippocampus heraus, mit verheerenden Folgen: Henry Molaison konnte sich fortan keine neuen Informationen merken.

Seit Molaisons Tod schnitten Wissenschaftler:innen nicht nur sein Gehirn in Scheiben, um es zu untersuchen – auch der Hippocampus geriet mehr und mehr in den Mittelpunkt der Gedächtnisforschung. Seitdem weiß man, dass der Hippocampus eine entscheidende Rolle bei der Konsolidierung von Erinnerungen spielt und dafür sorgt, dass Erinnerungen irgendwann außerhalb des Hippocampus, in der Großhirnrinde (Cortex), gespeichert werden.

Infografik: Bent Freiwald

Wenn wir etwas vergessen, läuft alles nach Plan

Die Gedächtnisforschung hat sich in den letzten Jahrzehnten vor allem der Frage gewidmet, wie wir uns an etwas erinnern können. Dass wir viel vergessen, haben Forscher:innen lange als Fehler angesehen, als ein Versagen – und als einen passiven Vorgang: Wir vergessen etwas, weil die Verbindungen zwischen den Nervenzellen nicht mehr benutzt werden. Die Erinnerung verblasst also, wie eine Freundschaft, wenn man über einen längeren Zeitraum keinen Kontakt mehr hatte. Ein bisschen ist es so wie mit unseren Beziehungen zu anderen Menschen: Eine Whatsapp-Nachricht an einen alten Bekannten fällt uns schwerer als eine an unsere Mitbewohnerin, die wir jeden Tag sehen. Das gleiche Problem haben – vereinfacht gesagt – auch die Nervenzellen in unserem Gehirn.

Seit etwa zehn Jahren fangen Forscher:innen an, das Vergessen anders zu sehen: Nicht mehr als Fehler, sondern als Voraussetzung dafür, dass es überhaupt funktioniert.

Schauen wir uns kurz zwei Experimente an, die zeigen, dass Vergessen ein aktiver Vorgang ist, kein Unfall.

Ronald Davis und seine Kolleg:innen trainierten Fliegen darin, Elektroschocks mit bestimmten Gerüchen in Verbindung zu bringen und diese Gerüche später zu vermeiden (logisch, tut ja auch weh). Anschließend aktivierten sie in den Fliegen Nervenzellen, die auf den Botenstoff Dopamin reagieren. Die Folge: Die Fliegen vergaßen den Zusammenhang zwischen Geruch und Gefahr ziemlich schnell wieder. Wenn die Forscher:innen die Dopamin-Neuronen nicht aktivierten, sondern blockierten, konnten sich die Fliegen an den Zusammenhang erinnern und vermieden weiterhin die fiesen Gerüche. Die Fliegen haben also vergessen, weil Nervenzellen aktiv waren.

Und in einem Experiment mit Ratten, bei dem die Nager sich an die Position von Objekten erinnern mussten, fanden die Forscher:innen heraus, dass beim Vergessen bestimmte Rezeptoren an Nervenzellen entfernt werden, weshalb sich die Verbindungen zwischen diesen Zellen auflösen. Als sie das durch Infusionen blockierten, vergaßen die Ratten die Objekte nicht mehr. Um zu vergessen, müssen Ratten also proaktiv Rezeptoren zerstören.

Nochmal, weil das wichtig ist: Man hat Fliegen dazu gebracht, etwas zu vergessen, und Ratten dazu gebracht, etwas nicht zu vergessen. Vergessen, sagt Oliver Hardt (einer der Forscher), „ist kein Gedächtnisverlust, sondern eine Funktion des Gedächtnisses“.

Vergessen ist keine Schwachstelle

Unser Gehirn ist kein Computer mit begrenztem Speicherplatz. Es besteht aus ca. 86 Milliarden Nervenzellen, jede davon ist über ca. 10.000 Synapsen mit anderen Nervenzellen verbunden – da kann man schon so einiges speichern.

Aber um Entscheidungen zu treffen, müssen wir Wichtiges von Unwichtigem unterscheiden können. Das können wir nur, weil wir uns nicht jedes Detail merken, sondern lediglich die für uns wichtigen Informationen. Das ist auch deshalb wichtig, weil unsere Entscheidungen so gut wie nie auf vollständigen Informationen beruhen. Um also eine Entscheidung treffen zu können, nutzen wir unsere gespeicherten Erfahrungen und Fakten über uns und die Welt. Würden wir uns alles merken, hätten wir viel zu viele Erfahrungen und Fakten zur Auswahl, und könnten uns wahrscheinlich nie entscheiden.

Entweder bleibt das Unwichtige direkt draußen: Hätten unsere Vorfahren sich beim Angriff eines Säbelzahntigers nur an die plüschigen Ohren und die hellbraunen Tatzen erinnert, gäbe es uns heute nicht. Oder Unwichtiges wird von Neuem überschrieben: Zum Beispiel, wenn wir uns merken, wo wir heute Morgen unser Auto im Parkhaus geparkt haben. Die Information, wo unser Auto die letzten 30 Male stand, ist unwichtig, kann also weg.

Mit unserem Gedächtnis ist es wie mit einem Stück Holz: Erst, wenn wir etwas Holz wegschnitzen, entsteht eine Figur daraus. Die Leerstellen sind keine Schwachstellen, sondern notwendig. Vergessen ist kein Fehler.

Was wir vergessen, hat auch damit zu tun, was uns wichtig ist

Das alles habe ich Marco erklärt als ich in seinem Büro vor ihm stand.

Okay, das ist gelogen. Aber selbst wenn ich ihm diesen Vortrag gehalten hätte, wäre das noch keine vollständige Erklärung dafür gewesen, warum ich seinen Geburtstag ständig vergesse. Unsere Erfahrungen haben Einfluss darauf, was wir uns merken und was nicht, was wir als wichtig erachten und was nicht. In meinem persönlichen Fall heißt das: Mir selbst sind Geburtstage ziemlich egal, nicht nur die von anderen, sondern vor allem mein eigener. Marco war auch noch nie richtig sauer auf mich, wenn ich ihm wieder zu spät gratuliert habe (vielleicht würde es helfen).

Aber ich bin optimistisch: Ich habe seinem Geburtstag gerade schließlich einen ganzen Artikel gewidmet. Jetzt muss sich die Erinnerung doch eigentlich festsetzen. Nächstes Jahr denke ich daran – hoffentlich.


Redaktion: Theresa Bäuerlein; Schlussredaktion: Rico Grimm; Fotoredaktion: Martin Gommel.