Physik kann doch nur objektiv sein. Anders als bei anderen Forschungsrichtungen kann hier niemand herumtricksen oder überinterpretieren. Physiker sind kluge Leute, die sich in langen unterirdischen Tunneln herumtreiben, zwischen starken Magneten komplizierte Gleichungen lösen, um zu verstehen, woraus unsere Welt, woraus wir alle im Kern gemacht sind. Das glauben viele.
Doch auch in der Physik gibt es Voreingenommenheit. Die Physikerin Sabine Hossenfelder meint, dass gerade die moderne Teilchenphysik (ja, die mit dem Teilchenbeschleuniger in der Schweiz) das oft vergessen würde. Physiker achten zu sehr auf schöne Theorien und zu wenig auf überprüfbare Ergebnisse.
Wenn sie recht hätte, würde in Deutschland und überall auf der Welt viel Geld für Grundlagenforschung ausgegeben, die eigentlich keine ist – weil sie keine Grundlagen für irgendetwas liefert.
Frau Hossenfelder, was bringt mir als Nicht-Physikerin Grundlagenphysik? Sie als Physikerin verstehen vielleicht besser, woraus die Welt gemacht ist, aber was habe ich davon?
Nehmen wir einen Laptop oder ein Smartphone: Bildschirme, Transistoren, Mikrochips, Flüssigkristalle – und ist da noch ein CD-Player drinnen, ist da ein Laser. Das ist alles Physik und alles Grundlagenforschung gewesen. Oder die Fortschritte in der Medizin: Ein Großteil dieser Fortschritte beruht auf bildgebenden Verfahren, Röntgen, Ultraschall, Kernspinresonanz, Elektronenmikroskope, die Positronen-Emissionstomografie, Spektroskopie. Das ist alles Physik!
Warum greifen Sie dann diese Forschung an?
Die Leute, die selbst in dem Feld arbeiten, denken ja, dass sie Fortschritte machen. Das liegt daran, dass nicht nichts passiert, wenn man sehr genau hinguckt. Die Leute schreiben wissenschaftliche Aufsätze, gehen auf Konferenzen, geben Vorträge.
Nur kommt nicht viel dabei raus, jedenfalls in speziellen Feldern. Das muss ich dazu sagen, weil mir hier sonst die Festkörperphysiker auf die Füße steigen. Ich rede nur von den Grundlagen der Physik. Viele Leute, die in diesen Feldern arbeiten, vor allem in der Quantengravitation, würden mir stark widersprechen, dass es keinen Fortschritt gegeben hätte. „Natürlich, wir haben so viel über unsere Welt verstanden!“, das würden sie sagen. Das ist einfach eine andere Einstellung dazu, was Fortschritt bedeutet. Ich bin sehr ergebnisorientiert, ich gucke, was man dann damit machen könnte, und die Antwort ist: Leider nichts.
Aber wir hören doch immer wieder von spektakulären Entdeckungen!
Man hat nach wie vor, am Large Hadron Collider (LHC) in Genf außer dem sogenannten Higgs-Boson nichts Neues gefunden. Natürlich hat man noch andere Messungen gemacht. Aber verschiedenste Teilchen, die Supersymmetrie (SUSY), Extradimensionen, Schwarze Löcher, Kontakt zu Parallel-Universen, dieses ganze Zeug hat alles nicht stattgefunden!
Es sieht nicht gut aus für die Teilchenphysiker, muss man sagen. Sie reden schon seit den 1990er Jahren, seit der Bau des Superconducting Super Collider (SCC) abgebrochen wurde, von den tollen Dingen, die man am Large Hadron Collider (LHC) machen kann. Aber nichts ist passiert! Das Higgs-Boson löst zwar jetzt ein physikalisches Problem, da ohne es das Universum nicht funktionieren würde, aber für eine Anwendung ist es nicht gut. Nicht mal die Teilchenphysiker wissen, was die damit tun sollen!
Ihr Buch „Das hässliche Universum“ ist 2018 im September erschienen. Warum scheint niemand darüber reden zu wollen?
Man hat Angst, dass, wenn Probleme öffentlich diskutiert werden, dem Feld generell die Finanzierung abhanden kommt. Das sieht man insbesondere stark bei den Teilchenphysikern. Es gibt jetzt Pläne, einen neuen Teilchenbeschleuniger zu bauen. Ich habe mich dagegen ausgesprochen.
Denn wenn man zum Beispiel ein Higgs-Boson erzeugen will, wie es am CERN gemacht wurde, wird ein 30 Kilometer langer Teilchenbeschleuniger gebraucht, der kostet Unmengen an Geld.
Die Leute denken, ich soll bitte meinen Mund halten, auch wenn das, was ich sage richtig ist, denn es sei unfair, wenn dadurch anderen Wissenschaftlern das Geld genommen wird. So nach dem Motto: Weil ich Wissenschaftlerin bin, muss ich grundsätzlich die Wissenschaft unterstützen, solidarisch sein. Das wurde mir auch mehrfach gesagt, auch schon bevor ich das Buch geschrieben habe.
Wie kann es sein, dass so viele Leute jahrelang an etwas forschen, kaum Ergebnisse erzielen und trotzdem niemand glauben will, dass es sich um eine Sackgasse handelt?
Es ist einfach schwierig, wenn Sie 20 Jahre ihres Lebens in eine Idee hinein investiert haben. Da sagen sie nicht von heute auf morgen: „Ich glaube nicht mehr dran, ich mach jetzt etwas anderes.“ Selbst, wenn es gute wissenschaftlichen Gründe gibt, bleibt ein Widerstand. Man will sich nicht eingestehen, Lebenszeit verschwendet zu haben.
Zudem gibt es institutionelle Barrieren, die es schwierig machen, tatsächlich in ein anderes Feld zu wechseln. Wenn Sie 20 Jahre mit der Theorie der Supersymmetrie verbracht und nur zu diesem Thema veröffentlicht haben, können Sie nicht einfach etwas anderes machen. Da stellt Sie ja niemand ein! Es ist genau das gleiche, wenn sie versuchen Forschungsgelder zu beantragen. Zu dem Thema, wofür Sie Forschungsgelder beantragen wollen, müssen Sie vorweisen können, dass Sie ein gewisses Vorwissen haben.
Weil es so schwierig ist, aus einem Feld herauszukommen, zwingt das einige dazu, sich selbst und anderen ständig zu erzählen, wie toll das ist, an dem sie arbeiten: „Natürlich kann man die Supersymmetrie finden, wenn ich mit dem Collider und dem nächsten Collider arbeite, das kann gar nicht anders sein, wir wissen ja, dass das wahr ist!“
Sie erfahren auch immer Unterstützung einer Gruppe. Sie müssen sich vorstellen, es gibt weltweit um die 10.000 Teilchenphysiker, die an dieser Theorieentwicklung arbeiten. Bei Konferenzen zur Supersymmetrie sind typischerweise 800 bis 1.000 Teilnehmer. Wenn Sie Mitglied einer so großen Gruppe sind, die die Ergebnisse nicht infrage stellt, dann bestärkt Sie das in der Überzeugung, dass Sie auf dem richtigen Weg sind.
Das sieht man heutzutage auch nach wie vor, wenn es um die Idee der Natürlichkeit geht, eine Art der Schönheit.
Was ist Natürlichkeit oder Schönheit in der Physik?
Es gibt immer wieder Leute, die versuchen, das zu definieren. Aber weil es sich um ein ästhetisches Kriterium handelt, ist es sehr schwierig festzumachen. Eigentlich könnte man sagen, geht es hier eher um ein vages Gefühl, das die Physiker haben.
In den Grundlagen der Physik ist eine schöne Theorie einfach, natürlich, und elegant. Natürlich meint hier, dass die Zahlen, die in den Gleichungen der Theorie auftauchen, nicht sehr groß und nicht sehr klein sein sollen, sondern in der Nähe von 1.
Ein Beispiel: Wenn Sie sich ein Feld oder einen Wald vorstellen, haben wir dort Ähren oder Bäume. Die sind nicht alle gleich groß, aber sie sind alle ungefähr gleich groß. Wenn Sie die Verhältnisse zwischen den Größen von diesen Pflanzen nehmen, kann man sie unter der Größenordnung 1 zusammennehmen. Wenn sie aber eine Ähre oder einen Baum haben, der 100.000 Kilometer hoch ist, dann würde Ihnen das sehr unnatürlich erscheinen. Genau da kommt die Idee von Natürlichkeit her.
Elegant finden die Physiker eine Theorie, wenn sie zu überraschenden Einsichten führt oder unvermutete Zusammenhänge erklärt. Bei der Einfachheit muss man betonen, dass es hier um absolute Einfachheit geht, nicht um relative. Die relative Einfachheit ist ein gutes wissenschaftliches Kriterium (von mehreren gleich guten Erklärungen, nimm die einfachste).
Dass die grundlegenden Naturgesetze jedoch schlicht und einfach sein sollen, ist Wunschdenken, nicht Wissen. Die Idee von der „Weltformel“ oder dass die bekannten Naturkräfte aus einer einzigen „vereinheitlichten Kraft“ hervorgehen sollen, sind Beispiele dafür, wie das Schönheitskriterium der Einfachheit derzeit in Praxis angewandt wird.
In der Hochenergie-Teilchenphysik gibt es eine abgewandelte Art von Natürlichkeit, die besagt, dass sehr kleine oder sehr große Zahlen erlaubt sind, wenn Sie eine Erklärung dafür haben. Aber im sogenannte Standard-Modell der Teilchenphysik gibt es eine Konstante, die nicht natürlich ist. Das ist die Masse des Higgs-Bosons.
Jetzt können Sie sagen, ich erkläre, warum diese Konstante klein ist, indem ich das Modell auf eine bestimmte Art verändere: Das ist die sogenannte Supersymmetrie, auf die sich viele Teilchenphysiker konzentriert haben. Damit das Ganze funktioniert, müssen Sie wiederum neue Teilchen einführen, das sind die supersymmetrischen Partner-Teilchen. Alle dachten, dass der LHC diese supersymmetrischen Teilchen produzieren muss.
Und haben die Physiker diese supersymmetrischen Teilchen gefunden?
Nein, man hat nach wie vor kein einziges von den supersymmetrischen Teilchen gesehen.
In einem Interview sagen Sie, die Teilchenphysik verschleiert ihr Versagen seit Jahren.
Ich denke, die Leute reden sich das schön.
Wenn man direkt an dem Thema arbeitet, sieht es ja so aus, als ob sich irgendetwas tut, man rationalisiert es sich zusammen. Hier spielt wieder eine große Rolle, dass es eine große Gruppe an hochintelligenten Leuten ist, die das alle glauben! Ich weiß nicht, ob die wirklich drüber nachdenken, dass es auch einfach nicht so sein kann. Ich habe zumindest in der Ausbildung nicht wirklich darüber nachgedacht. Erst beim Schreiben dieses Buches habe ich mich gefragt: Gibt es da irgendeinen tieferen Grund, warum man das glauben soll, oder kann das nicht einfach Zufall sein?
Was dazu kommt: Je mehr man sich mit einer Theorie beschäftigt, desto mehr Probleme findet man auch, die man lösen muss. Aus der Forschungsperspektive ist das natürlich interessant, wenn es viel auszurechnen gibt. Dazu kann man Papers schreiben, Geld verdienen und davon leben!
Natürlich lassen sich spannende Theorien auch besser verkaufen.
Ich habe da erstmal kein Problem damit. Wenn sich die Leute gerne unterhalten lassen, dann spekulieren sie halt gerne über Multiversen, aber ich möchte nicht, dass es als Wissenschaft verkauft wird. Das ist für mich schon näher an der Religion.
In meinem Buch ist eben auch eine der Schlussfolgerungen, die ich ziehe: Theorieentwicklung, mathematische Konsistenz ist schön und gut, aber man darf nicht dabei bleiben, man muss den Bezug zum Experiment im Auge behalten.
Es gab natürlich immer schon Leute, die auf Theorien beharrt haben, die nicht funktionierten. Wir haben jetzt aber eine andere Situation: Es dauert sehr lange und kostet viel Geld, wenn wir neue Experimente machen wollen. Wir brauchen etwa den Teilchenbeschleuniger oder große Teleskope. Die zu bauen dauert 10 bis 20 Jahre, kostet Milliarden, und neue Daten zu bekommen ist wesentlich schwieriger.
Deswegen ist es inzwischen so, dass ein Physiker in der Grundlagenforschung seine ganze Karriere damit verbringen kann, an Theorien zu arbeiten, die nie getestet werden! Weil es einfach zu lange dauert.
Experimentatoren legen eine Analysemethode fest, bevor sie sich überhaupt die Daten angucken. Entsprechend werden zum Beispiel in der Medizin die Leute dazu angehalten, Hypothesen darzulegen, bevor sie überhaupt mit dem Experiment anfangen. Das macht man deshalb, damit die Leute sich nicht andere Hypothesen überlegen, bevor sie die Daten gesammelt haben. Das ist ein statistischer Trick, mit dem man sich selbst reinlegen kann.
Sie sagen, dass auch Physiker nicht immer objektiv sind.
Ja, aber die Wissenschaftler in allen Bereichen der Physik wollen das einfach nicht wahrhaben. Die wollen sich selbst als objektiv sehen und denken, „es kann nicht sein, dass wir von der Größe der Community beeinflusst werden“. Gerade bei den Teilchenphysikern findet man das: „Wir sind so intelligent, wir haben keine kognitiven Vorurteile!“ Ich höre das ständig. Wenn man die fragt, was haben sie denn gemacht, um sich vor dem Einfluss der Gruppe zu schützen, sagen die: „An Soziologie glauben wir nicht.“ Vielleicht ist es bei den Teilchenphysikern extrem, weil die von sich sehr viel halten.
Wissenschaftssoziologie hat das schon vor Jahren erkannt, aber das Wissen ist einfach nicht dort, wo es hin muss, nämlich bei den praktizierenden Wissenschaftlern. Es gibt auch ganz konkrete Schritte, die man unternehmen kann, um dem Problem entgegenzuwirken. Etwa in einem Aufsatz nicht nur die positiven Seiten zu besprechen. Man sollte meinen, dass das offensichtlich ist, wird aber de facto im Moment nicht gemacht. Das trägt dann dazu bei, dass die Leute wenig Zweifel bekommen.
Und welche Bereiche sind zurzeit vielversprechender als die Teilchenphysik?
Da möchte ich vorweg sagen, dass ich mir wünsche, dass die Physiker in den entsprechenden Gebieten diese Frage mal diskutieren. Das wäre die beste Art und Weise, Entscheidungen über die Forschungsrichtung zu treffen.
Persönlich sehe ich das so: Historisch waren die Forschungsrichtungen am erfolgreichsten, in denen man Widersprüche untersucht hat, entweder Widersprüche zwischen Beobachtung und Theorie, oder interne Widersprüche in der Theorie. In der Hochenergie-Teilchenphysik haben wir derzeit keinen dieser Fälle, deshalb halte ich kostspielige Experimente in diesem Bereich derzeit nicht für vielversprechend.
Wir haben aber Widersprüche zwischen Beobachtungen und Theorie im Bereich der Astrophysik und Kosmologie, wenn es um Dunkle Materie geht. Dort sollte man weiter Details messen, um herauszufinden, wie dieser Widerspruch gelöst werden kann. Zum Beispiel, was Dunkle Materie überhaupt ist.
Außerdem haben wir interne Widersprüche in den Theorien im Bereich der Quantengravitation und den Grundlagen der Quantenmechanik. Dort werden aber sehr wenige Experimente gemacht, die die Theorieentwicklung vorantreiben. Da sollte man mehr investieren.
Ich bin immer noch von der Hoffnung angetrieben, mehr zu verstehen über das Universum, aber wenn Sie sich alles anschauen, was wir im Moment wissen über die Struktur der Materie, sieht es nicht so aus, als ob wir mit einem neuen Teilchenbeschleuniger irgendetwas Neues lernen können. Die fressen viel Geld auf, es gibt keinen guten Grund warum man sie bauen sollte.
Redaktion: Rico Grimm; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Bildredaktion: Martin Gommel.