Sie brauchen keine bessere Bildung!

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Kinder und Bildung

Sie brauchen keine bessere Bildung!

Unsere Schulen haben sich seit 200 Jahren kaum verändert. Das hat katastrophale Folgen. Deswegen brauchen Kinder keine bessere Bildung – sondern eine ganz andere.

Profilbild von Olaf-Axel Burow

Als meine Tochter sechs Jahre alt war, sollte sie lernen, wie man Klavier spielt. Ich bin Pädagogikprofessor, und die Kinder von Pädagogikprofessoren müssen natürlich Klavierspielen lernen. Also haben wir einen super Musiklehrer engagiert, und was soll ich sagen: Es war eine Katastrophe. Zwei Jahre Überzeugungsarbeit, leichte pädagogische Tricks, schwere pädagogische Tricks. Sie hat nichts gelernt.

Eines Tages sagt sie: „Papa, kauf mir ein Einrad!“ Ich denke: Oh nein, wir haben so viel Spielzeug, das liegt doch eh nur in der Ecke rum. Aber gut, ich kauf es – und es liegt in der Ecke rum. Aber ein halbes Jahr später geht die Tür auf und sie fährt eine perfekte Pirouette, hat sich zwei Biertische zum Üben geholt und ist tausendmal umgefallen. Vor fünf Jahren ist sie dann auf dem Friedrichsplatz in Kassel mit ihrem Einrad vor 800 Leuten aufgetreten.

Warum hat dieses Kind bei einem professionellen Musiklehrer nichts gelernt, aber bringt sich das Einradfahren selbst bei? Weil sie als typisches Professorenkind – ich kann es mir nicht anders erklären – heimlich in meine wissenschaftliche Bibliothek gegangen ist und zielsicher die Selbstbestimmungstheorie von Deci und Ryan gefunden hat. Die sagt nämlich: Wenn du etwas selbstbestimmt willst, bist du nicht zu bremsen.

An unserem Schulsystem scheint etwas nicht zu stimmen

Fast alles, was Kinder können, wenn sie in die Schule kommen, haben sie sich selbst beigebracht, ich nenne das „Lernen 1.0“. Der Filmemacher Reinhard Karl hat mal gesagt: Stell dir vor, Kinder würden nach dem Motto der Schule laufen lernen. Wir sitzen in einem wunderschönen Hörsaal, ich halte dir sechs Wochen lang Vorträge über den Bewegungsapparat, du machst dir Skizzen dazu, wir machen hinterher einen Test und dann sage ich: „Jetzt läufst du los!“ Da hättest du wahrscheinlich Probleme.

Das Lernen 1.0 macht bis zu 70 Prozent unseres Lernens aus, denn wir lernen immer. Die Hirnforschung sagt: Lernen ist ein mit Lust besetztes Grundbedürfnis des Menschen. Wenn das so ist, warum bekommen dann Kinder, wenn sie in eine Einrichtung kommen, die für die Befriedigung ihrer Lust konzipiert wurde – also in die Schule – warum bekommen sie da Schwierigkeiten? Und warum leiden bis zu 29 Prozent der Lehrer*innen unter Überlastung und stehen vor dem Burnout? Es muss an der Art und Weise liegen, wie wir seit 200 Jahren unsere Schule und den Unterricht gestalten.

Was in vielen unserer Schulen passiert, nenne ich „Lernen 2.0“, das industrielle, nach Fächern sortierte, akademisch-kognitive Lernen. Dieses Lernen ist die Grundlage unseres gesellschaftlichen Reichtums. Aber wir leben heute nicht mehr im 17. oder 18. Jahrhundert.

Zwei Heidelberger Wissenschaftler haben erfasst, wie lange Kinder heutzutage unbeweglich rumsitzen (also so wie du, wenn du diesen Text liest): neun Stunden pro Tag. Das ist weder gesund noch hilft das den Kindern beim Lernen. Dann wundert es auch nicht mehr, dass 61 Prozent der Sechs- bis Siebenjährigen begeistert in die Schule gehen – und diese Zahl vier Jahre später auf 33 Prozent schrumpft. An unserem Schulmodell scheint irgendetwas nicht zu stimmen.

Unsere Schulen sind wie Fabriken

Der englische Theaterpädagoge Sir Ken Robinson sagt: Unser Bildungssystem ist für eine andere Gesellschaft entwickelt worden, für das Zeitalter der industriellen Revolution und der Aufklärung. Die Schule ist deshalb nach dem Modell der Fabrik aufgebaut: Schüler*innen werden nach Alter sortiert, die jedes Jahr wie am Fließband vorrücken.

Doch Ken Robinson fragt: Warum ist ausgerechnet das Produktionsdatum des Kindes das wichtigste Kriterium, um es einzuordnen? In der ersten Klasse sind die Leistungsunterschiede riesig. Da gibt es Kinder, die können schon am Computer programmieren, und dann gibt es welche, die in der dritten Klasse noch keinen Satz schreiben können. Und die armen Grundschullehrer – die auch noch schlecht bezahlt werden – sind gezwungen, mit dieser Vielfalt umzugehen.

Wenn du dir anschaust, wie sich die Schule verändert hat, ist eines klar: Wir lernen heute – im Grunde genommen – immer noch so wie vor ein paar Jahrhunderten.

Wir brauchen kein „besser“

Alle 50 bis 100 Jahre erleben wir eine technische Entwicklung, die vieles verändert:

  • 1784: erster mechanischer Webstuhl
  • 1870: erstes Fließband
  • 1969: erste speicherbare, programmierbare Steuerung
  • Dann: Die Vernetzung durch das Internet
  • und als nächstes folgt die Künstliche Intelligenz

Wenn wir mit diesen Veränderungen umgehen wollen, dann dürfen wir nicht abwarten, was auf uns zukommt, wir müssen aktiv sein, das war schon immer so. Und das gilt auch für unser Bildungssystem.

Neulich sollte ich den Leiter des niedersächsischen Instituts für Qualitätsentwicklung in die Rente schicken, ich sollte eine Rede halten. Da war ich ein bisschen böse, denn im Leitbild dieser Institution steht: „Bildung besser machen.“ Das halte ich für kein zeitgemäßes Leitbild. Was ist schon „besser“? Unser heutiges Bildungssystem besser zu machen, hilft uns nicht weiter.

Wir brauchen „ganz anders“

Denn ein Problem bei Verbesserungen, und das ist nicht nur ein Problem der Schule, sondern der ganzen Gesellschaft, ist die „Mehr-Desselben-Falle“: Wenn eine einspurige Straße überlastet ist, bauen wir eine zweite Spur. Dummerweise ziehen Straßen Verkehr an, nach ein paar Jahren ist auch die zweispurige Straße überlastet. Also bauen wir eine vierspurige Straße, die zieht wiederum mehr Verkehr an. Während meines letzten Urlaubs stand ich in Los Angeles im Stau – auf einer zehnspurigen Straße. Mit dem Mehr-Desselben-Prinzip gestalten wir keine Zukunft, wir vermauern sie.

Und das gilt insbesondere für unser Schulsystem. Schau dir dazu mal die Entwicklung der Plattenindustrie an:

1896 gab es die Schelllackplatte – sensationell! Man konnte vier Minuten Musik hören, die Leute waren begeistert, es war eine technische Revolution. Okay, es knisterte ein bisschen, und man musste kurbeln. 50 Jahre später kam die Vinylplatte, weitere 40 Jahre später die Compact-Disc. Das alles ist Verbesserung.

Aber 2001 kam ein verhaltensorigineller Schüler – der Schrecken seiner Lehrer – auf eine Idee und nannte sie „I-Tunes“. Heute habe ich auf meinem Stick 100.000 Musiktitel. Das nennt man nicht mehr Verbesserung, sondern Disruption.

Denken wir Schule mal komplett neu

Als ich eines Morgens meine andere Tochter zu ihrem Gymnasium in Kassel gefahren habe, hatte sie 20 Karteikarten auf dem Schoß und brabbelte vor sich hin.

„Was machst du?“, frage ich sie.
„Ich lerne Physikformeln auswendig.“
„Wir leben im Zeitalter der Digitalisierung. Die kannst du doch googlen.“
„Ich muss das nachher können. Aber wenn ich diese Prüfung geschafft habe, mache ich in meinem Leben nie wieder was mit Physik.“

Meine Tochter hat den Physikunterricht nicht verstanden. Sie wusste gar nicht, wozu sie den Kram überhaupt macht. Das ist eine Bankrott-Pädagogik. Die Frage ist: Wird das so weitergehen, oder wird sich da einiges ändern? Ich vermute, dass wir mehr disruptives Denken brauchen, um das Lernen unter den neuen Möglichkeiten ganz neu zu denken.

Würden wir wirklich 30 Schüler in einen rechteckigen Raum quetschen, ein paar Stühle reinstellen, eine Tafel nach vorn, und eine Uhr stellen, die alle 45 Minuten klingelt, um den Schülern zu signalisieren, dass sie jetzt fünf Minuten auf die Toilette gehen dürfen? Und das für acht Stunden am Tag?

In vielen Schulen sieht es anders aus, ich weiß. Trotzdem. Heute sind einfach andere Dinge wichtig, die in diesem System nicht funktionieren. Es geht heute um fächerübergreifendes, problemlösendes, teamorientiertes Lernen. Wir befinden uns mitten im Übergang zu einer neuen Form des Lernens, das kreativ ist, von digitalen Medien unterstützt und mit einer Fabrik nichts mehr zu tun haben wird.



Hier geht es zum zweiten Text von Olaf-Axel Burow. In ihm beschreibt er sieben Bildungstrends, die das Lernen der Zukunft mitgestalten sollten.

Dieser Text ist aus einem Vortrag entstanden, den Olaf-Axel Burow am 26. September 2018 in Koblenz beim Kongress Pro Kreativität gehalten hat. Olaf-Axel Burow ist Lehrer, Gestaltpädagoge und emeritierter Professor für Allgemeine Pädagogik an der Universität Kassel. Er arbeitet am privaten Institute for Future Design. Anfang Februar 2019 erschien sein neues Buch „Schule digital – wie geht das?“ im Beltz-Verlag.

Verlag Beltz

Redaktion: Bent Freiwald; Fotoredaktion: Martin Gommel; Schlussredaktion: Vera Fröhlich.