Pling: Eine neue E-Mail. An diesem Morgen schaut Daniel besonders ausgeschlafen auf sein Handy, denn es sind Herbstferien. Er ist Lehrer an einer Gemeinschaftsschule in Schleswig-Holstein – und gerade im Urlaub an der Nordsee: Spaziergänge zwischen den Dünen, danach aufwärmen am Kamin, herrlich. Pling: Eine neue E-Mail.
Daniel schaut sich die Benachrichtigungen an: 150 neue E-Mails, 150 Mal die gleiche, Störungsmeldungen vom internen Netzwerk seiner Schule. Pling!
„Das muss man doch irgendwie stoppen können“, denkt Daniel, er kennt sich ja eigentlich damit aus. Pling! Pling! Jetzt reicht es! Daniel deinstalliert die App. Endlich Ruhe. Radikale Umstände erfordern radikale Maßnahmen.
„Diese ständige Erreichbarkeit macht mich fertig“, sagt Daniel. Erst letzte Woche schrieben ihm dutzende Schüler: Der Vertretungsplan wird nicht mehr angezeigt, Fehlermeldung 404. Das interaktive Board spinnt rum? Frag Daniel. Der Laptop startet nicht mehr? Frag Daniel. Das WLAN fällt aus? Genau.
Daniel kümmert sich an seiner Schule um die IT-Geräte und die dazugehörende Software. „Ich bin da reingerutscht“, sagt der Mathe- und Englischlehrer. „Machen Sie mal die Homepage“, hieß es damals. Heute ist er stolzer Instandhalter von 22 interaktiven Boards mit dazu passenden Notebooks oder Tablets, zwei Computerräumen mit jeweils 16 Laptops, einem Schulnetzwerk und zwei nagelneuen Info-Screens. „Drei Stunden pro Woche werden mir dafür offiziell angerechnet“, sagt er. Daniel lacht. „Das reicht natürlich nicht. Aber irgendjemand muss es ja machen.“
Die Zukunft ist digital, heißt es. Manche Schulen sind es auch schon. Doch längst nicht alle. Mal fehlt die Ausstattung, mal streikt das Internet, mal streiten sich die Eltern über das richtige Tablet, und fast jede Schule hat einen Daniel, der improvisiert und den Laden am Laufen hält. Nach jahrelangem Streit möchte der Bund nun fünf Milliarden Euro in die Digitalisierung deutscher Schulen investieren. Daniel, wie findest du das? „Super! “ Und was bedeutet das für dich? „Mehr Arbeit.“
Wie absurd es in unseren digitalen Schulen zugeht, kann man vielleicht erahnen. Aber wenn man es von denen hört, die Tag für Tag Deutschlands Jugend, Schulen (und oft sich selbst) fit machen sollen für die Digitalisierung, ist das noch einmal ganz was anderes.
Deswegen habe ich mich unter den Lesern meines Bildungs-Newsletters umgehört und ganz alltägliche Beispiele aus ganz normalen Schulen in Deutschland gesammelt. Es berichten: eine Grundschullehrerin, eine Schulleiterin, eine Mutter und immer wieder Daniel.
Eine Lehrerin tanzt durch den Klassenraum, um das Smartboard zum Laufen zu kriegen
Da wäre zum Beispiel Steffi aus Sachsen-Anhalt. Die Grundschullehrerin betritt jeden Morgen mindestens eine halbe Stunde vor ihren Schülern den Klassenraum, fährt den Laptop hoch und starrt auf das interaktive Board an der Wand. Was das für ein Board ist, weiß sie nicht genau: „Ich kam als Lehrerin an diese Schule und hatte dieses Ding vor der Nase.“
Der Laptop braucht seine Zeit vor der ersten Stunde, um auf Betriebstemperatur zu kommen. Da unterscheidet er sich nicht von den Erstklässlern, die Steffi in Mathe unterrichtet und die ungemein von diesem Smartboard profitieren, logisch, sonst hätte man es ja nicht für viel Geld an die Wand geschraubt. Wichtiger Unterschied zwischen Hardware und Schüler: „Das ist ein ganz, ganz, ganz alter Laptop. Ziemlich verbraucht.“ Deswegen heißt es nach dem Drücken der Powertaste für Steffi auch erstmal: warten.
Bevor es losgeht, meldet sich ihr Smartboard stets mit einem Wunsch: „Bitte kalibrieren.“ Nun muss Steffi sich entscheiden: Wie genau darf es denn sein? Einfach so lassen, nein, das ist nicht drin, sonst erscheint der geschriebene Buchstabe schon mal zwei Zentimeter weiter links als geplant, das verwirrt ungemein, vor allem, wenn man gerade erst schreiben lernt. In der ersten Klasse reicht die zweite Genauigkeitsstufe. Neun Punkte erscheinen am Board, einen nach dem anderen muss Steffi berühren. Also: Linke Ecke, rechte Ecke, oben, unten, Mitte – tanzende Unterrichtsvorbereitung, morgens halb acht in Deutschland.
„Ich kann mit einer ganz normalen Tafel genauso guten Unterricht machen“, gibt Steffi zu, aber nun sei das Board nun mal da. Wenn das Programm abstürzt und gar nichts mehr geht, jubeln ihre Schüler. Alles herunterfahren, neustarten, dauert ewig: ganz, ganz, ganz alter Laptop. Geht der Beamer aus, verschwindet auch erst einmal das Tafelbild. „Aber das passiert nicht so oft“, beschwichtigt sie, „einmal pro Woche.“
Das kennt Daniel, der Lehrer aus Schleswig-Holstein. Die Beziehung zwischen Notebook, Beamer, Board und Netzwerk, sie ist kompliziert. Immer wieder kommen Kollegen zu ihm und beschweren sich, weil sie sich nicht anmelden können. Zum Glück kann er schnell reagieren: „Ohne mich würde der ganze digitale Laden hier zusammenbrechen. Wahrscheinlich.“ Genau in diesem Moment kommt ein Techniker ins Elternsprechzimmer, in dem Daniel mir von seinem Job erzählt, und fragt, wo der erste von zwei neuen Infoscreens hinsoll. Kurz darauf hören wir ihn hämmern und bohren.
In einer Schule in Bayern gibt es nur 100 Euro für Weiterbildungen
Regina, Schulleiterin einer Förderschule in Bayern, hätte auch gern einen Daniel im Kollegium. Ja, sie habe zwar auch einen Systembetreuer, einen Lehrer, der mehr oder weniger freiwillig die Geräte wartet. Aber besonders viel Ahnung von Technik habe auch dieser nicht. Bei größeren Problemen sind sowohl Systembetreuer als auch der Hausmeister, den sie oft hinzuzieht, überfragt. Größere Probleme wie: WLAN fällt aus, Laptop fährt nicht hoch, Smartboard will nicht mehr.
Dann kommt eine externe Firma ins Spiel. „Die machen meistens mehr kaputt als sie helfen“, sagt Regina. „Die kennen sich in der Schule gar nicht aus.“ Fällt ein Smartboard mal aus, während sie vor ihrer Klasse steht, hat sie ein Problem: Die externe Firma ist – wie die Bezeichnung schon sagt – nicht vor Ort. Und der Systembetreuer unterrichtet selbst, ist ja sein Job, das Unterrichten. „Das darf man nicht vergessen“, sagt Regina.
40 Prozent ihres Kollegiums haben einen guten Zugang zu digitalen Medien, schätzt sie. „Wobei, na gut, sagen wir vielleicht 20 Prozent.“ Keiner ihrer Lehrer verweigere sich der Digitalisierung komplett, aber Fortbildungen waren bisher Mangelware. Von den 100 Euro, die Regina pro Jahr für schulinterne Weiterbildungen zur Verfügung stehen, kann man sich eben keinen Experten leisten.
Und wenn doch, dann nur einmal im Jahr, einen günstigen, für alle 70 Kollegen. Und schulintern sollte es schon sein: „Was bringt es mir, wenn die Lehrer landesweit gleich fortgebildet werden? Jede Schule hat ihre eigene Technik!“ Vom Land Bayern bekommt sie einen Tipp: Bildet euch im Kollegium doch einfach gegenseitig fort. Findet Regina gar nicht witzig.
Einmal im Jahr bietet auch Daniel seinem Kollegium an, die neuen Boards und Tablets zu erklären. Denn nicht alle Lehrer interessieren sich privat für Technik, so wie er. Als der Bundestag für den Digitalpakt stimmte, kursierte im Internet eine Grafik der NDR-Satiresendung extra3:
https://www.facebook.com/extra3/photos/a.126985678917/10156236584933918/?type=3&theater
„Damit liegen die gar nicht so weit daneben“, sagt Daniel. Deswegen hat seine Schule auch pro Klasse zwei Schüler zu Medienscouts ausgebildet, die den Lehrern helfen können, den Beamer anzumachen oder ein Video abzuspielen. Sonst sei die Hemmschwelle so groß, digitale Medien zu nutzen. Und für nächstes Jahr sind weitere Maßnahmen geplant: „Vielleicht können die Schüler unter Aufsicht einmal pro Monat ihr Wissen an die Lehrer weitergeben.“
Eigentlich brauchen die Schulen jedes Jahr einen „Digitalpakt“, um den Bedarf zu decken
Oft geht es bei der Digitalisierung nur um Geräte, das gefällt vielen nicht. Bei Wiebke geht es auch ständig um Geräte, gefällt ihr auch nicht, muss aber sein, denn: Sie fehlen. Seit acht Jahren arbeitet sie im Schulelternbeirat einer Schule in Trier mit, seit zwei Jahren als Vorsitzende. „Ich habe ja keine Ahnung von Technik, aber wenn die PCs nur rumstehen, weil sie zu alt sind, dann läuft doch was schief“, erkennt sie.
Ihr Sohn und ihre Tochter kennen sich eigentlich ganz gut aus mit Powerpoint und Word, bereiten manchmal stundenlang zu Hause Referate am Laptop vor. Sie können sie nur selten in der Schule verwenden, dafür ist die Schulsoftware viel zu alt. Viel zu alt, dachten sich wohl auch die Universität Trier und die Banken in Luxemburg, die ihre Computer der Schule überließen. „Das hat doch einen Grund, dass die Geräte dort aussortiert werden, oder?“
Daniel hat schon eine Idee, was man hier, in seiner Schule, mit dem Geld des Digitalpakts anstellen könnte: Die Schule braucht einen mobilen Tablet-Wagen, kostet 20.000 Euro. Damit wäre das Geld vom Pakt, das jeder Schule zusteht, auch schon wieder fast aufgebraucht. „Eigentlich bräuchten wir jedes Jahr einen neuen Digitalpakt, um den Bedarf zu decken“, sagt er. Noch hapert es am ersten.
„Ich will doch nur unterrichten“
Die digitale Ausstattung deutscher Schulen reicht von Brachland bis ziemlich smart, von Kreidetafel bis intelligentes Board, von Windows 7 bis Windows 10. Es gibt Schulen, die die Digitalisierung vorbildlich umsetzen, manche haben sogar schon heute einen IT-Experten, der kein Lehrer ist. Nur Standards gibt es so gut wie keine, und die Meinungen darüber, was mit „Digitalisierung“ eigentlich gemeint ist, gehen weit auseinander. Für die meisten Schulen und für einige Lehrer ist es eben doch Neuland.
Daniel hat so etwas wie einen digitalen Traum: einen IT-Fachmann pro Schule. Das ist ohne Digitalpakt völlig unrealistisch – und mit eigentlich auch. „Ich will doch nur unterrichten.”
Ein vibrierendes Bohren weckt ihn aus diesem Traum. Wieder kommt ein Techniker zu uns. Dieses Mal möchte er wissen, wo der zweite Bildschirm hinkommt. Als Daniel am Sekretariat vorbeigeht, bleibt er kurz stehen. Die Sekretärin und er schauen sich an: „Das, was da so laut brummt“, sagt sie, „das ist dann wohl die Digitalisierung.“
Redaktion: Rico Grimm; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Fotoredaktion: Martin Gommel.