Ich habe diesen Text am 05. Dezember 2018 aktualisiert.
Eigentlich müssten Sektkorken knallen, als Schulleiter Gerd Christian Thielmann und Bürgermeister Axel Pietsch vor der Kamera der Lokalzeitung posieren. Immerhin steht die Eröffnung des Obergeschosses der Gemeinschaftsschule Kellinghusen in Schleswig-Holstein an. Doch den beiden Herren ist nicht zum Feiern zumute. Denn die Eröffnung ist nur eine Wiedereröffnung.
Sie diente nicht dazu, der Schule neuen Glanz zu verleihen. Sondern war notwendig geworden, weil sich bei Brandschutzmaßnahmen krebseregender Asbest in den Fluchtwegen ausgebreitet hatte. Eine Woche lang durften die Schülerinnen und Schüler keinen Fuß in den obersten Stock ihrer Schule setzen. Aber eigentlich, sagt Direktor Thielmann, müsse man seine Schule jetzt komplett neu aufbauen, dies sei „unumgänglich“.
Thielmann, ein Mann von kräftiger Statur, dessen Lesebrille über dem Strickpullover baumelt, hat schon einige Übung darin, Journalisten zu erklären, warum man seine Schule endlich von Grund auf renovieren müsste. Oder, noch besser, gleich die Abrissbirne walten lassen sollte. Das Dach des 40 Jahre alten Hauptgebäudes habe man mal ausgetauscht. Aber letztlich sei man sich im Schulverband doch einig: Ein Neubau würde sich viel mehr lohnen, als dauernd an allen Ecken und Enden lautstark auszubessern, während parallel in den Klassenzimmern unterrichtet wird. Thielmann ist jemand, der sagt: Lieber einmal richtig, als immer nur ein bisschen.
27,5 Millionen Euro soll seine neue Schule kosten. Das weiß man, weil sich der Schulverband schon auf den Neubau geeinigt hat. Weil schon Pläne existieren, wie dieser aussehen könnte. Es bleibt eine wichtige, aber entscheidende Frage: Wer soll ihn bezahlen? „Der Neubau steht auf wackligen Füßen”, sagt der Schulleiter in einem seiner positiveren Momente.
Den Ärger des freundlichen Gerd Christian Thielmann können Schulleiter der gesamten Republik nachfühlen. Doch nicht immer sind es Asbest-belastete Fluchtwege, die ausgebessert werden müssen. Es fehlt in Deutschlands Schulen an Lehrerinnen und Lehrern, Pädagogen, Sozialarbeitern, ordentlichem WLAN und sauberen Toiletten. Die Mängel sind so zahlreich, dass es keine Statistik gibt, die sie alle erfasst.
Sind Deutschland seine Schüler egal geworden? Und wenn nicht, warum gibt man dann offensichtlich zu wenig Geld für ihre Schulen aus? Ich habe mich auf Spurensuche begeben – und bin auf ein Chaos aus Zuständigkeiten, Vertrauensverlust und Grundgesetzänderungen gestoßen.
Der Blick in die Zahlen: Deutschland liegt unter dem EU-Durchschnitt
Zunächst wollte ich wissen, ob Deutschland wirklich so wenig Geld in die Hand nimmt, wenn es um Bildung geht. Fast wöchentlich liest man davon, meist unterfüttert von vielsagenden Ländervergleichen, in denen Deutschland meist weit unten rangiert. Aber was sagen diese überhaupt aus?
Schaut man sich die absoluten Bildungsausgaben pro Land in der EU an, belegt Deutschland den Spitzenplatz. Niemand gab im Jahr 2015 so viel Geld aus, 127 Milliarden Euro insgesamt.
Wer aber messen will, was Bildung einem Land wert ist, der stellt die Summe der Ausgaben für Bildung eines Jahres dem Wert aller produzierten Waren und Dienstleistungen desselben Jahres gegenüber: dem Bruttoinlandsprodukt, kurz BIP. Je mehr Wirtschaftsleistung ein Land hat, desto mehr kann es auch in die Bildung seiner Bewohner investieren, so die Überlegung.
Deutschland kommt bei dieser Rechnung nicht gut weg. Im Jahr 2015 gab die Bundesrepublik lediglich 4,2 Prozent seines BIPs für Bildung aus. Damit belegt das Land im EU-weiten Vergleich nur Platz 22. Weit hinter den Top drei: Dänemark (7 Prozent), Schweden (6,5 Prozent) und Belgien (6,4 Prozent). Aber auch wirtschaftlich schwächere Länder wie Ungarn, Polen und Tschechien liegen vor Deutschland. Und der EU-Durchschnitt ist mit 4,9 Prozent auch deutlich größer als der Anteil, den Deutschland bereit ist, auszugeben. Man muss fairerweise sagen: Die Rechnung hinkt etwas, denn Deutschlands BIP ist exorbitant hoch.
Aber natürlich hilft das dem Schulleiter Thielmann herzlich wenig. Warum also muss er seit Monaten um seine Schule bangen?
Eine erste Antwort auf diese Frage findet sich im Grundgesetz. Bildung ist Ländersache, heißt es da. 95 Milliarden Euro hatten die Bundesländer – und eben nicht der reiche deutsche Bund – von den Bildungsausgaben im vergangenen Jahr zu tragen. Deshalb ist es nicht nur die Bundesregierung, die angeblich zu wenig für Bildung ausgibt, sondern auch die Länder und Kommunen. Als in Kellinghusen die Fluchtwege renoviert wurden, bezahlte das nicht der Bund, sondern der Schulverband Kellinghusen, dem noch verschiedene umliegende Dörfer mit ihren eigenen maroden Schulen angehören.
Die Stadt bezahlt neue Toiletten, das Land die Lehrer
Generell gilt: Städte und Gemeinden sind für die räumliche Ausstattung zuständig, von der angeschimmelten Toilette über bröckelnden Putz bis hin zum strahlenden Neubau. Dafür gaben diese 2017 deutschlandweit zusammen fast 30 Milliarden Euro aus. Die Bundesländer stemmen wiederum die Aus- und Weiterbildung der Lehrkräfte und deren Gehalt.
Und der Bund selbst, der immer wieder in der Kritik steht, an Bildung zu sparen? Der ist, tja, offiziell für kaum etwas zuständig. Programme, Fördertöpfe, Sonderpläne, so etwas zahlt der Bund. Gelegentliche, man könnte auch sagen: besondere Ausgaben. Deswegen sind sie mit elf Milliarden Euro auch vergleichsweise klein. Schuld daran ist auch das sogenannte „Kooperationsverbot“, das es Bund und Ländern untersagt, gemeinsam zu wirtschaften, wenn es um seine Schüler geht.
Das Problem könnte also sein, dass man Bildung in Deutschland scheibchenweise finanziert.
Will ein Kellinghusener Schulleiter also seine Schule neu bauen, wendet er sich nicht an die reiche Bundesrepublik, sondern an seine klamme Kommune. Deutschlands Kommunen sind laut einer jährlichen Untersuchung des KfW-Kommunalpanels chronisch pleite. Nicht alle, aber immerhin so viele, dass sich allein im Bildungsbereich ein Investitionsstau von insgesamt 47,7 Milliarden Euro angesammelt hat. Geld, das für Kitas und Schulen schon längst hätte ausgegeben werden müssen. Was aber nicht im Budget der Kommunen vorgesehen ist.
Wer muss denn jetzt mehr investieren?
Denn wie gut eine Schule ausgestattet ist, hängt erstmal davon ab, wie wirtschaftsstark ihre Region ist. Je besser die ansässigen Unternehmen dastehen, desto mehr Geld kommt in die Stadt- und Landeskassen und schließlich in die Bildungstöpfe. Theoretisch könnte manche Region also aus eigener Kraft Schulen am laufenden Band bauen, während andere gerade mal ihre bröckelnden Kita-Fassaden renovieren können. Deswegen stehen im Süden Deutschlands auch oft Prachtbauten, während so manche Kommune im Norden ratlos abwinkt. Wie soll man neue Schulen bauen, wenn man pleite ist? Wer muss aushelfen, wenn die Kommunen es aus eigener Kraft nicht schaffen?
Karin Prien (CDU) ist die Bildungsministerin von Schleswig-Holstein und müsste also bestens darüber Bescheid wissen, warum manche Schulen nicht ihren ersehnten Neubau bekommen. Als ich sie anrufe, lautet meine erste Frage, ob die Länder den klammen Kommunen nicht helfen müssen. Sie widerspricht mir: „Es ist immer auch eine Frage der politischen Prioritätensetzung. Manche Kommunen haben einen klaren Schwerpunkt im Bereich Schulen, andere nicht.” Sie wünsche sich ja auch mehr Geld vom Land, zum Beispiel für die frühkindliche Bildung. „Dass mehr investiert werden muss, ist völlig unbestritten.”
Ein Land, das sein Geld permanent zwischen Säuglingen und Grundschülern verteilen muss, wird so schnell nicht aus eigener Kraft sämtliche Schulen modernisieren können, zumal es ja offiziell auch gar nicht dafür zuständig ist.
Udo Beckmann hat da eine ganz andere Idee. Der Mann vom Verband Bildung und Erziehung (VBE) vertritt mit seiner Gewerkschaft 164.000 Pädagoginnen und Pädagogen. Die Verantwortung für die schlechte Ausstattung der Schulen sieht er beim Bund. „Der Bund muss endlich mehr Geld in die Hand nehmen, beziehungsweise: in die Hand nehmen dürfen, damit die Ungleichgewichte ausgeglichen werden”, sagt er. Dürfen? Achja, das Kooperationsverbot.
Zu arm, um Fördergelder zu empfangen
Vielleicht ist Beckmanns Vision gar nicht so unrealistisch. Immerhin hat man das Kooperationsverbot in der Vergangenheit immer mal gelockert. Zum Beispiel als beschlossen wurde, dass der Bund bis 2022 insgesamt mit 3,5 Milliarden Euro „finanzschwachen“ Kommunen unter die Arme greifen darf. Eine einmalige Finanzspritze – die aber einiges bewirkt, wie Ministerin Karin Prien mir versichert. 350 Millionen Euro bekam ihr Bundesland ab, das könne zwar nicht die 1,3 Milliarden Euro Investitionsstau auflösen. Aber das sei immerhin ein Signal. „Das reicht noch nicht, aber wir strengen uns an”, sagt sie.
Auch das neue Finanzministerium um Olaf Scholz zeigte sich zuletzt spendabel und erhöhte das Budget für Bildung und Forschung zum nächsten Jahr auf 18,1 Milliarden Euro – eine Rekordsumme. „Man hat erkannt, dass Bildung bei Wahlen eine große Rolle spielt, selbst bei Bundestagswahlen”, erklärt Udo Beckmann vom VBE.
Für Kommunen sind die verschiedenen Geldtöpfe nicht nur Segen, sondern manchmal auch Fluch. Denn Fördergelder zu beantragen, bringt einen hohen bürokratischen Aufwand mit sich, oft fehlt dafür das Personal, denn das wird seit Jahren abgebaut.
Dazu kommt, dass das Geld extrem schnell ausgegeben werden muss. Bekommt eine Kommune den Zuschlag, gilt es, das Projekt möglichst sofort umzusetzen – denn je länger man wartet, desto teurer wird es zu bauen. Außerdem sind die Förderprogramme zeitlich begrenzt, es handelt sich schließlich um Ausnahmen.
Eine weitere Schwierigkeit ist, dass die Baukosten letztlich nie komplett übernommen werden, und die Kommunen stets etwas beisteuern müssen. In manchen Kommunen reicht selbst dafür das Geld nicht. Alles Gründe, die in ihrer Summe ein Projekt wie einen norddeutschen Schulneubau immer komplizierter machen.
Auch in Kellinghusen setzte man auf Fördergelder von Land und Bund. Die Anträge lagen schon bereit, als die Kosten endlich aufgestellt waren. Axel Pietsch reichte sie ein und bekam im Oktober dann das Ergebnis: Der Bund gibt drei Millionen Euro, das Land nichts. Bleiben knapp 25 Millionen, die das 7.800-Einwohner-Städtchen Kellinghusen irgendwie bezahlen muss. „Das ist harter Tobak, für einen so kleinen Schulverband ist das eigentlich nicht leistbar“, sagt Pietsch. „Und wenn der Neubau nicht kommt, gefährdet das den ganzen Schulstandort.”
Streit – und kein Ende in Sicht
Drei Millionen Euro vom Bund werden dem Kellinghusener Schulprojekt also zugesprochen. Zu wenig, wenn man Axel Pietsch fragt. Besser als nichts, denke ich, wenn ich an die sonst so holprige Zusammenarbeit von Bund und Ländern denke. Nehmen wir als Beispiel den „Digitalpakt“. Fünf Milliarden Euro möchte der Bund in die digitale Ausstattung der Schulen stecken, das hatte vor zwei Jahren schon die frühere Bildungsministerin Johanna Wanka beschlossen. Allerdings: Am Ende der vergangenen Legislaturperiode war das Geld nicht da – und Wanka nicht mehr Ministerin.
Die heutige Bildungsministerin Anja Karliczek versucht es nun noch einmal mit dem Digitalpakt. Nicht nur bei diesem Projekt wird es ihre Aufgabe sein, ein Problem zu lösen, dass stellvertretend für das fehlende Geld in der deutschen Bildung stehen könnte. Sie muss darauf vertrauen, dass die Länder nicht aufgrund eines Geldsegens plötzlich ihre eigenen Investitionen zurückfahren. Und die Länder müssen umgekehrt dem Bund vertrauen, dass er sich nicht in ihre Bildungspolitik einmischt – sondern zahlt, was er verspricht.
Vergangene Woche dann die Überraschung, es sah so aus, als hätte Karliczek Erfolg. Es war gerade zwei Jahre her, dass der Digitalpakt beschlossen wurde, da einigte sich die Ministerin mit den Vertretern der Länder. Karliczek schaffte also das, was ihre Vorgängerin verpasste – wäre da nicht diese komplizierte Sache namens Politik, noch konnte das Geld nicht überwiesen werden. Denn im Koalitionsvertrag steht, dass für die Auszahlung der fünf Milliarden Euro das Grundgesetz geändert werden müsste. Denn das Grundgesetz sieht vor, dass der Bund nur „finanzschwachen“ Kommunen helfen darf.
Die Änderung bräuchte in Bundestag und Bundesrat eine Zwei-Drittel-Mehrheit. Und genau die stand lange auf der Kippe – ausgerechnet weil Grüne und FDP eine solche Gesetzesänderung nicht weit genug ginge. „Wir brauchen mehr als nur Investitionen in Kabel und Beton”, sagte Christian Lindner kürzlich im Bundestag. „Wir müssen endlich auch in Köpfe investieren dürfen.” Kaum war der Streit zwischen Ländern und Bund beigelegt, folgte der nächste – zwischen Bundesregierung und Opposition. Kaum jemand glaubte daran, dass diese sich rechtzeitig einigten. Doch es folgte die nächste Überraschung: Die Parteien fanden einen Kompromiss, großer Jubel in der Bildungsrepublik.
Jubel, der allerdings nicht lange anhielt, denn eine unscheinbare Formulierung in der beschlossenen Grundgesetzänderung ließ wiederum die Bundesländer aufhorchen. „Die Mittel des Bundes sind in jeweils mindestens gleicher Höhe durch Landesmittel für den entsprechenden Investitionsbereich zu ergänzen“, heißt es dort. Der Digitalpakt selbst ist davon zwar nicht betroffen, aber möchte der Bund künftig in ein Bildungsprojekt oder sozialen Wohnungsbau investieren, müssten die Länder die gleiche Summe nochmal oben drauf legen. Alle 16 Länder sprachen sich gegen diese Grundgesetzänderung aus, sie sehen den Bildungsföderalismus insgesamt in Gefahr und wollen die Änderung umschreiben. Sie setzen nun auf einen Vermittlungsausschuss zwischen Bund und Ländern.
Das heißt konkret: Der Digitalpakt ist erstmal auf Eis gelegt.
Kellinghusen macht es jetzt fast ganz allein
Deutschland hätte Geld für Bildung, der Bund fährt derzeit Rekord-Steuereinnahmen ein. Die Frage ist, wie dieses Geld dort ankommen soll, wo es gebraucht wird. Hier streiten sich alle politischen Ebenen miteinander, und die Parteien gleich dazu. Denn sind die Schleusen zwischen Bund und Ländern erstmal offen, stellen sich neue Fragen: Darf der Bund, wenn er mehr gibt, inhaltliche Entscheidungen treffen? Oder sollten die Länder – wie es Winfried Kretschmann zuletzt forderte – sogar mehr Steuergelder bekommen, um selbst Schwerpunkte zu setzen?
Letztlich fehlt es nicht an Geld, sondern an politischer Einigung, zum Ärger von Kindern, Pädagogen und Schulleitern.
Auch Gerd Christian Thielmann ärgerte sich lange über die geringen Fördergelder: „Davon kann ich hier nicht mal die Telefonanlage sanieren”, sagt er mir noch am Telefon. Doch mittlerweile ist sein Ärger verpufft, er wurde ersetzt durch Freude, große Freude. Denn sein Schulverband hat sich trotz der geringen Fördergelder für den Neubau entschieden. Als Axel Pietsch diese Entscheidung verkündet, erntet er Applaus von Eltern und auch vom Schulleiter.
„Wie möchte man das finanzieren?“, frage ich Pietsch. „Langfristige Kredite mit Zinsbindung“, antwortet er. „Es ist alternativlos, der Neubau muss kommen.“
Dieser Text geht zurück auf eine Leserfrage. KR-Mitglied „Hilfdreizehn“ fragte uns, warum Deutschland im EU-Vergleich so wenig Geld für BIldung ausgibt. Vielen Dank für diese Anregung!
Redaktion: Josa Mania-Schlegel; Schlussredaktion: Susan Mücke