Das BAföG-Amt gab mir Geld, aber es nahm mir meine Würde

© Unsplash / Eliabe Costa

Kinder und Bildung

Das BAföG-Amt gab mir Geld, aber es nahm mir meine Würde

Ich dachte immer, dass mir in Deutschland alle Türen zu Bildung offen stehen. Doch während meines Studiums musste ich feststellen, dass das nicht so ist. Meine Wunschfächer konnte ich nicht besuchen, ein WG-Zimmer war nicht finanzierbar, und manchmal wusste ich nicht, wie ich das kommende Jahr finanziell durchstehen sollte. Schuld ist das BAföG-System in Deutschland, das mir zwar geholfen hat – aber mich trotzdem auf einem Schuldenberg sitzen ließ.

Profilbild von von Stefanie Oemisch

Meiner Familie hat es nie an etwas gemangelt – dachte ich. Bis ich anfing zu studieren. Wir sind eine Arbeiterfamilie, ich war die erste an der Uni. Meine Eltern, meine Großeltern, sie alle fingen nach der Schule eine Ausbildung an. Warum eigentlich? Ich besorgte mir einen Antrag auf Ausbildungsförderung, um das Studium zu finanzieren. Heute denke ich: Vielleicht versteht man erst, was Zukunftsängste wirklich bedeuten, wenn man einmal von einer Förderung abhängig war.

In Deutschland beziehen laut Statistischem Bundesamt etwa 557.000 von 2,8 Millionen Studenten Geld nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG). Im Schnitt monatlich rund 500 Euro. Damit man die bekommt, stellt das Amt bestimmte Forderungen.

Zuerst muss man das Einkommen der Eltern angeben, Verdienst der Geschwister und seine komplette finanzielle Situation offenlegen: Immobilien, Konten, Lebensversicherungen.

Erst, nachdem man sich finanziell so bloßgestellt hat, erhält man eine individuell angepasste, monatliche Förderung, die man fünf Jahre nach Beendigung des Studiums anfangen muss, zur Hälfte – aber maximal 10.000 Euro – zurückzuzahlen. Die Rückzahlung erfolgt in in vierteljährlichen Raten von 315 Euro BAföG bedeutete für mich also nicht nur, mich finanziell nackig zu machen. Es bedeutete auch, dass ich mir meinen Lebensweg vorschreiben lassen musste.

BAföG allein reicht zum Leben nicht aus

Als ich meinen ersten Antrag ausgefüllte, war ich schockiert darüber, wie viel Bürokratie dazu gehörte. Meine Eltern und ich saßen mehrere Tage und Nächte über dem Papierwust – und verstanden trotzdem nicht alles. Erfolgte ein Lohnsteuerjahresausgleich? Keine Ahnung. Hat der Arbeitgeber meiner Eltern vermögenswirksame Leistungen gezahlt? Hmmm. Wo ist der Steuerbescheid von vor zwei Jahren? Und wie belege ich, dass ich krankenversichert bin? Es war ein Albtraum.

„Das Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) ist ein Garant dafür, dass Jugendliche und junge Erwachsene eine ihrer Eignung und Neigung entsprechende Ausbildung absolvieren können – auch unabhängig davon, ob die finanzielle Situation ihrer Familie diese Ausbildung zulässt oder nicht.“
Bundesministerium für Bildung und Forschung

Nachdem ich die Unterlagen abgegeben hatte, war ich jedoch voller Hoffnung. Da meine Mutter auf Minijob-Basis arbeitet und mein Vater auch nicht gerade ein Großverdiener ist, war ich mir sicher, dass ich eine ordentliche Summe bekommen würde. Dann kam der Bescheid: Knapp 210 Euro wolle mir das BAföG-Amt monatlich überweisen. 210. Der Traum vom eigenen WG-Zimmer in München rückte damit erst mal in weite Ferne.

Für viele ist ein unabhängiges Studentenleben unmöglich

Viele Studenten, die kein oder zu wenig BAföG bekommen, werden von ihren Eltern unterstützt. Jeder vierte Student wohnt weiterhin zu Hause. Im Schnitt überweisen Eltern ihren studierenden Kindern 541 Euro im Monat. Und viele müssen lernen, ihr eigenes Leben einzuschränken, damit die Kinder studieren können.

Auch meine Eltern mussten an vielen Stellen zurückstecken, damit mein Bruder und ich studieren konnten. Statt zwei Wochen nach Griechenland zu fliegen, fuhren sie an die Ostsee, und anstelle eines neuen VW Golfs kauften sie einen alten Skoda Fabia. Wenn mein Freund mich in den Urlaub einlud, konnte ich mich nicht wirklich entspannen. Denn während ich am Strand lag, saßen meine Eltern zu Hause und überlegten, ob sie es finanziell stemmen können, sich ein neues Sofa zu kaufen.

Meine Eltern haben sich nie beschwert. Trotzdem fühlte es sich falsch an, Geld von ihnen anzunehmen. Auch, wenn ich es musste.

Das Bundesministerium für Bildung und Forschung, das das BAföG verantwortet, scheint davon keine Ahnung zu haben. In einer Broschüre heißt es, die Ausbildung sei ein „Garant dafür, dass Jugendliche und junge Erwachsene eine ihrer Eignung und Neigung entsprechende Ausbildung absolvieren können – auch unabhängig davon, ob die finanzielle Situation ihrer Familie diese Ausbildung zulässt oder nicht“. Faktisch aber reicht selbst der Höchstsatz von 735 Euro vielerorts nicht zum Leben.

Was auch daran liegt, dass die Ausbildungsförderung in allen Städten gleich hoch ist: Das gilt für Münchner Studenten, die für ein WG-Zimmer meistens mehr als 520 Euro bezahlen genau wie für Studenten aus Rostock oder Gießen, die rund 300 Euro dafür hinlegen. Dazu schwanken die Semesterbeiträge der Unis und Hochschulen sehr stark. An der Universität Augsburg werden 114 Euro pro Studiensemester fällig, an der Goethe-Universität Frankfurt 367 Euro, an der Hochschule Hannover zwischen 345 und 405 Euro. Über ein Master-Studium hinweg kann das einen Unterschied von einigen Tausend Euro ausmachen.

Ich wäre gern für mein Studium nach München gezogen. Ich hatte immer davon geträumt, an der Ludwig-Maximilians-Universität Medienpädagogik zu studieren. Vor der wunderschönen Kulisse Münchens, nah an meinen geliebten Bergen. Stattdessen landete ich an der Hochschule Darmstadt, mit einem abgeschiedenen Campus in Dieburg. Klingt langweilig, war es leider auch. Das perfekte Fächerprofil fand ich dort genauso wenig wie ein Studentenleben. Aber alles andere war eben nicht drin – jedenfalls nicht für mich und meine Finanzen.

Ob die Kinder studieren können, hängt oft von den Eltern ab

Die Logik hinter dem BAföG-System geht so: Haben die Eltern kein Geld, zahlt das Amt das Studium. Können die Eltern es sich leisten, müssen sie selbst für ihre Kinder zahlen. Aber haben wirklich alle Eltern, die es theoretisch könnten, auch tatsächlich Geld für ihre Kinder übrig?

KR-Mitglied Lena schreibt: „Das Einkommen meiner Eltern lag immer leicht über der Grenze, sodass ich kein BAföG bekomme. Meine Eltern unterstützen mich so gut sie können, haben aber mit der Pflege der Großeltern gerade auch einige zusätzliche Kosten. Von ihnen auch mit 28 noch abhängig zu sein, finde ich wahnsinnig unangenehm.“ KR-Mitglied Evelyn hinderte die Bemessungsgrenze des Elterneinkommens komplett am Studieren. „Meine Eltern haben mir klargemacht, dass ich mir das Studieren aus dem Kopf schlagen kann“, schreibt sie, „kein Geld dafür. BAföG war nicht drin, da mein Vater knapp zu viel verdiente.”

*

Es gibt aber noch andere Faktoren, die bestimmen, wie viel Ausbildungsförderung man bekommt. Faktoren, die sich Jahr für Jahr ändern, weshalb man den Antrag jedes Jahr neu ausfüllen muss. Deswegen zitterte ich wieder und wieder darum, welche Summe am Ende des Bescheids stehen würde. Manchmal freute ich mich über monatlich 40 Euro mehr. Manchmal erschrak ich und musste mich fragen, wie ich das kommende Jahr finanziell durchstehen sollte.

Wie sich die Förderung zusammensetzt und wieso sie so stark schwankt, habe ich nie ganz verstanden. Eine Freundin aus einer wohlhabenden Patchworkfamilie erhielt den Höchstsatz. Und das, obwohl alle Eltern- und Stiefeltern arbeiteten und sie im Haus der Eltern lebte. Wieso? Wusste sie selbst nicht. Aber fair fanden wir das beide nicht.

Es ist auch nicht so, dass man neben dem BAföG auf Ersparnisse zurückgreifen könnte. Hat man mehr als 7.500 Euro auf dem Konto, bekommt man weniger Förderung. Hört sich viel an? Ist es aber nicht, denn zu der Summe zählen unter bestimmten Umständen auch: der aktuelle Schätzwert eines Autos, gegebenenfalls Mietkautionen, Sparbücher, Bausparverträge, Barvermögen, Wertgegenstände (außer der Einrichtung) oder Kapitallebensversicherungen. Ob der Student auf dem Land lebt und das Auto braucht, um zur Uni zu kommen oder seinem Nebenjob nachzugehen, ist dabei egal.

918 Euro monatlich braucht ein Student zum Leben

Die harten BAföG-Regeln führen dazu, dass Studenten in Deutschland oft in klammen Verhältnissen leben. Aus einer aktuellen Erhebung des Deutschen Studentenwerks geht hervor, dass ein Student im Durchschnitt 918 Euro im Monat zum Leben braucht. Für das Handy fallen rund 30 Euro an, für Lebensmittel 168 Euro und für neue Kleidung 42 Euro. Hinzu kommen Miete, Bücher, Versicherungen, Studienbeiträge, Ausgaben für Freizeitangebote und Verkehrsmittel.

Andere aktuelle Erhebungen sagen aus, dass jeder zweite Studierende aber nur weniger als 600 Euro monatlich zur Verfügung hat – das geht aus einer 2017 erhobenen Studie des Vermietungsportals Uniplaces hervor. Knapp ein Viertel hat sogar weniger als 400 Euro. Das bedeutet, dass mehr als die Hälfte aller befragten Studenten deutlich unter der Armutsgrenze von 750 Euro monatlich leben.

„Dann geh halt arbeiten, wie jeder andere auch“, sagen manche Leser jetzt vielleicht. Ich habe den Satz oft gehört. Vor allem von meinen Großeltern. Für sie hatte das Arbeitsleben schon mit 14 Jahren begonnen. Dass ich mit Mitte 20 immer noch keinen festen Job habe, können sie nur schwer nachvollziehen. Genauso wenig wie die Tatsache, dass das mit dem Studentenjob nicht so einfach ist.

Im Durchschnitt nehmen zwei Drittel aller Studenten durch ihre Nebenjobs 385 Euro ein. Sei es durch Kellnern, im Verkauf oder als studentische Hilfskraft. Danach kommt ihnen wieder das BAföG in die Quere. Denn mehr als 450 Euro monatlich darf man nicht verdienen, sonst wird die Förderung gekürzt. Manche gehen also gar nicht erst arbeiten, um keinen Ärger mit dem Amt zu bekommen. Andere pfeifen aufs BAföG und versuchen ihren gesamten Unterhalt mit Nebenjobs zu bestreiten. Für 450 Euro im Monat muss man, wenn man vom Mindestlohn ausgeht, 53 Stunden im Monat arbeiten. Da riskiert man unter Umständen schon mal den Notenschnitt oder gar den Studienplatz.

Anpumpen gehört zur Normalität

„Ich musste in den letzten zwei Monaten durchlernen und hatte keine Zeit zu arbeiten. Auf meinem Konto ist nichts mehr“ – das habe ich immer wieder von einer Freundin gehört, die das BAföG-Amt besonders hart getroffen hat. Sie studiert Biochemie, eines der zeitintensivsten Fächer überhaupt, und bekommt keine Förderung. Angeblich verdienen ihre Eltern zu gut. Mehr als 300 Euro monatlich können sie ihr aber auch nicht geben. Aus Verzweiflung geht meine Freundin deshalb regelmäßig Blut spenden. Die 35 Euro Aufwandsentschädigung reichen immerhin für ein Woche Nudeln, Reis und Saucen.

Klingt extrem, aber dass man sich Geld von Freunden oder Familienmitglieder leihen muss, gehört zur Normalität. Schließlich sind die meisten Studenten am Ende des Monats pleite. Da wird die Würde vergessen, der Gürtel enger geschnallt und auf Obst und frisches Gemüse verzichtet. Auch ich konnte zeitweise meine Miete nicht mehr bezahlen. Mein Freund musste einspringen.

Es gibt allerhand Abschnitte des Studiums, in denen es finanziell brenzlig werden kann, und der Fördersatz einfach nicht reicht. Meine zwei Semester Pflichtpraktikum wurden für mich zu einem echten Problem. Die sind eigentlich dafür gedacht, dass Studenten Erfahrungen sammeln und Einblicke in Unternehmen bekommen. Es bedeutete aber auch: den Nebenjob zu schmeißen und stattdessen acht Monate rund 40 Stunden pro Woche unentgeltlich zu arbeiten. Pflichtpraktika werden nicht bezahlt.

Ein finanzielles Problem haben zudem alle, die die Regelstudienzeit überschreiten: Sie bekommen kein BAföG mehr. Momentan trifft das aber auf 60 Prozent der Studenten zu. Denn die Ansprüche und Prüfungsleistungen sind häufig so hoch, dass es kaum mehr möglich ist, das Studium innerhalb der Regelstudienzeit zu beenden. Das Amt interessiert das nur in Ausnahmefällen.

Es ist schwer, alle Aspekte zu nennen, die im BAföG-System falsch laufen. Aber man sieht schnell, dass es trotz aller Versuche keine wirkliche Chancen- oder Bildungsgleichheit in Deutschland gibt. Nicht für Schüler und auch nicht für Studenten.

Es geht jedoch auch anders

In vielen anderen Ländern bekommen alle Studenten die gleiche Unterstützung und können dazu so viel verdienen, wie sie eben zum Leben brauchen. In Dänemark kann jeder Student die Statens Uddannelsesstøtte (SU) vom Staat bekommen. Umgerechnet sind das knapp 820 Euro, unabhängig vom Einkommen der Eltern. Ebenso wie in Deutschland gibt es diesen Zuschuss für durchschittlich sechs Jahre, im Gegensatz zum BAföG muss jedoch nichts zurückgezahlt werden – lediglich Steuern werden auf die SU erhoben. Wegen der unbürokratischen Handhabe beziehen rund 85 Prozent der Studenten in Dänemark diese Förderung. Die finanzielle Absicherung der studierenden Dänen hilft dabei, dass 96 Prozent von zu Hause ausziehen und ein unabhängiges Leben führen. Auch die Eltern werden dabei entlastet. Denn nur durchschnittlich drei Prozent des studentischen Budgets kommen aus dem Geldbeutel der Eltern.

Im benachbarten Schweden erhält jeder Student monatlich umgerechnet etwa 300 Euro vom Staat. Dazu können die studierenden Schweden einen Kredit von bis zu 700 Euro beantragen, den sie nach dem Studium zurückzahlen müssen. Laufzeit zwölf Semester und vollkommen unabhängig vom Gehalt der Eltern.

Ein weiteres Beispiel ist die Caisse d’Allocations Familiales (CAF) in Frankreich. Dort bekommen alle Studenten oder Bedürftigen mit einem Mietvertrag eine Art Wohngeld, das nicht zurückgezahlt werden muss und rund ein Drittel der Monatsmiete abdeckt. Die staatliche Unterstützung ist weder von der Studiendauer noch von bestandenen Prüfungen oder dem Einkommen der Eltern abhängig. Sogar ausländische Studenten können CAF beantragen. Klar, das reicht noch nicht zum Leben. Aber es ist immerhin eine staatliche finanzielle Unterstützung, die die Studenten und deren Eltern ein wenig entlastet.

Mit Schulden erwachsen werden

Natürlich bietet BAföG vielen Studenten die Chance auf ein Studium, die sie sonst nicht hätten. Aber die Tatsache, dass man nie genau weiß, ob und wie viel Förderung man im kommenden Jahr bezieht, macht es schwer, das Leben zu planen. Die Regelungen des BAföG schließt eine Gruppe junger Menschen aus, die gerne studieren würden, es sich aber so nicht leisten können. Und entwürdigt all jene, die bisher noch nicht dachten, dass sie arm sind.

Mein Studium ist jetzt ein Jahr her. Mein Erwachsenenleben wird aber nicht mit Hausbau, Urlaubsplanung oder Autokauf beginnen – sondern mit Vergangenheitsbewältigung: Zuerst muss ich noch 10.000 Euro Schulden tilgen.


Redaktion: Josa Mania-Schlegel; Schlussredaktion: Vera Fröhlich; Bildredaktion: Martin Gommel.

Das BAföG-Amt gab mir Geld, aber es nahm mir meine Würde

0:00 0:00

Einfach unterwegs hören mit der KR-Audio-App