vWenn er heute noch mal 20 Jahre alt sein könnte, würde er Verfassungsrecht studieren, sagte der österreichische Schriftsteller Robert Menasse kürzlich bei einer Lesung in Jena, denn das sei eine der spannendsten Fragen der Zukunft.
Ich glaube, dass der altersweise, preisgekrönte Schriftsteller überhaupt nur deshalb heute preisgekrönt und altersweise ist, weil er sich als junger Mann weniger für die verfassungsrechtlichen Fragen der Zukunft interessiert hat und mehr für die Erkundung des Sinnlichen.
In seiner Vorlesung stellte Menasse seine Vision von Europa vor. Das ist ein Europa der 400 Regionen, statt der zwei Dutzend plus/minus X Nationen, was für viele Vordenker der EU schon immer das Ziel der friedlichen Einheit des Kontinents gewesen ist. Zuletzt hat SPD-Chef Martin Schulz die Vereinigten Staaten von Europa wieder ins Spiel gebracht. Bis 2025 hätte er das gern erledigt. Wenn du dich gerade fragst, warum ausgerechnet bis 2025: Die banale Antwort ist, dass das ganz gut zum 150. Geburtstag der SPD passen würde.
Visionen sind nicht für den Arzt, sondern für junge Menschen
Hinter Menasses Spruch jedenfalls steht eine wichtige Beobachtung: Es müsste wirklich mehr 20-Jährige geben, die davon träumen, Verfassungsrecht zu studieren, um Europa eine neue Verfassung zu geben. Dass die europäische Idee ins Stocken geraten ist, mag früher daran gelegen haben, dass die Nationalstaaten nach dem Zweiten Weltkrieg noch ein bisschen gebraucht wurden.
Dass die europäische Idee heute in der Krise steckt, sich Länder wie Polen, Ungarn, Großbritannien, Rumänien, Tschechien, Österreich zusehends davon entfernen, liegt in Zeiten von Martin Schulz und Angela Merkel eher an einem Mangel an Inspiration.
Vielleicht ist es kein Zufall, dass der Politiker, der momentan am offensivsten und unschulzigsten die europäische Idee vorantreibt, der neue französische Präsident Emmanuel Macron ist – also jemand, der trotz seiner 39 Jahre aussieht wie 20, aber mit einer über 60-Jährigen verheiratet ist. Seltsamerweise nimmt man die Visionen junger Menschen einfach ernster als die von älteren. Obwohl die es doch besser wissen müssten.
Menasse, Macron und Schulz sind sich in einem Punkt einig: Dem Nationalstaat gehört nicht die Zukunft. Man kann das mit der Globalisierung erklären, mit der Gleichheit aller Menschen oder der Krümmung aller Gurken begründen, aber ich finde, es zeigt sich vielleicht sogar deutlicher an den kleinen Fragen und Mühen der Politik, wie sehr das Denken in nationalen Bahnen effektives Handeln und Denken beschränkt. Und umgekehrt: wie sehr das Denken außerhalb dieser nationalen Bahnen diese europäische Idee wieder befeuern könnte.
Kurz bevor Menasse in Jena seine Vision von Europa erklärte, hat gleich nebenan in Erfurt der Thüringer Bildungsminister Helmut Holter (Linke) vorgeschlagen, dass der innerdeutsche Schüleraustausch wieder angeregt werden müsste: „Wir brauchen nicht nur Schülerprojekte im Austausch mit Polen oder Frankreich, sondern auch zwischen Leipzig und Stuttgart. Ich bin der Überzeugung, dass Ost und West viel zu wenig miteinander reden über das, was war und was heute ist. Ostdeutsche Erfahrungen müssen in den Westen gebracht werden und umgekehrt.“
Teenager klären sich gegenseitig über die Wende auf? Merkste selbst, oder?
Normalerweise wäre Holters Vorschlag wohl echolos im Thüringer Wald verhallt, aber zufällig ist er gerade in die Position des Vorsitzenden der Kultusministerkonferenz rotiert, und so gab es für einige Tage eine Debatte, die mich gefangen genommen hat, aber eigentlich nur, weil ich zunächst nicht verstanden habe, warum das überhaupt eine Frage ist:
Braucht es mehr Austausch zwischen Schülern in Ost und West?
Nein, antwortete die Ostbeauftragte der Bundesregierung, Iris Gleicke (SPD). Das sei zwar „gut gemeint“, aber „nicht mehr zeitgemäß“. Denn in den Lehrplänen der Bundesländer spielten die Aufarbeitung der SED-Diktatur und die deutsche Wiedervereinigung bereits eine immer wichtigere Rolle, so Gleicke, und ansonsten hätten die Jugendlichen von heute mit „innerdeutschen Befindlichkeiten“ eh nichts mehr am Hut. Dagegen lässt sich doch wirklich nichts sagen, dachte ich mir, und gleichzeitig gibt Frau Gleicke damit auch eine Einschätzung darüber ab, wie lange es den Job der Ostbeauftragten der Bundesregierung wohl noch braucht.
Dann habe ich ein Video angesehen, in dem sich die Zeit-Redakteure Steffen Dobbert und Zacharias Zacharakis über die Frage streiten. Dobbert ist empört und kontra Ost-West-Schüleraustausch. Zacharakis ist pro. Er sagt, die Unterschiede zwischen Ost und West sind immer noch so groß, dass die Organisation echter Begegnungen zwischen jungen Menschen ein sinnvoller Weg wäre, um gegenseitig Verständnis füreinander zu entwickeln. Dagegen lässt sich doch wirklich nichts sagen, dachte ich mir. Aber was unterscheidet denn in diesem Fall Sachsen oder Thüringen von Ungarn oder Polen oder Tunesien? Die sind auch ungleich, und Probleme gibt es dort ebenfalls, die Konsequenzen für unser Zusammenleben haben.
Holters Vorschlag löste eine Debatte aus, die sich nur deshalb um Ost- und Westdeutschland drehte, weil sie in einem nationalen Kontext – der Konferenz der Bildungsminister aller deutschen Bundesländer – gestellt worden ist. Sie trägt aber wenig dazu bei, das Problem zu lösen, das der Ost-West-Schüleraustausch lösen soll: das Demokratieverständnis der Schüler zu erhöhen.
Der Osten als Balkan Deutschlands
Vielleicht ist es genau das, warum dieser belanglose Vorschlag des unbekannten Helmut Holter so emotional diskutiert wurde, auch mich so ärgerte, ohne überhaupt zu wissen, warum genau: Letztlich löst er das Gefühl aus, dass der Osten so etwas ist wie der Balkan Deutschlands, wo alles ein bisschen beschissener ist, und man sich endlich mal anpassen müsste an den Rest des Landes; über den man seine Vorurteile kübeln kann wie Steaksauce. Als läge es am Demokratieverständnis der Menschen, dass die Löhne hier zu niedrig und die Lehrer und Ärzte und Pfleger zu wenige sind und die Polizei lieber Punks und Ausländer als Neonazis haut.
Denn was sollte denn ein Schüler aus Leipzig, um beim Beispiel von Minister Holter zu bleiben, in Stuttgart lernen, was er nicht auch in Leipzig lernen könnte? Dass es Großstädte gibt, in denen die Luft noch schlechter ist? Dass dort Mercedes statt BMW gebaut werden? Dass dort die Butter im Supermarkt 15 Cent teurer ist?
Wie realistisch ist es denn, dass die pubertierenden ausgetauschten Leipziger Schüler mit ihren Altersgenossen in Stuttgart über die SED-Diktatur oder die Folgen der Wiedervereinigung debattieren, statt wie alle Pubertierenden hauptsächlich an ihre Pickel und Pimmel zu denken?
Niemand kann etwas gegen Schüleraustausch haben. Das ist immer eine gute Idee. Das sagen sogar die Schüler und Lehrer. Aber Austausch ist Erkundung des Sinnlichen, nicht Bildungsauftrag im engeren Sinne. Nicht der zukünftige Verfassungsrechtler, sondern der glühende Jugendliche geht auf Reisen, um das andere zu entdecken. Das kann innerhalb Deutschlands sein, wenn es Sinn macht. Aber das macht nicht immer Sinn.
Der Unterschied zwischen gefühlter und geografischer Nähe
Robert Menasse beschrieb das Dilemma in Jena so: „Warum soll ich mich als Österreicher mehr für den Bergbauern in Südtirol interessieren als für einen Menschen in der slowakischen Hauptstadt Bratislava, wenn die doch nur 40 Minuten weit weg ist von meinem Wohnort Wien?“
Lausitzer Landeier sollen Berlin sehen, die Metropolen-Opfer aus dem Ruhrgebiet sollen sich mal das Meer anschauen, wer nur Lärm kennt, die Stille hören, wen der Horizont Niedersachsens in den Selbstmord treibt, mal die Berge der Sächsischen Schweiz erklimmen oder die der Hohen Tatra, der Vogesen oder Umbriens. Es geht um den Gegensatz, das Andere. Es geht um die Frage: Was interessiert mich, was will ich wissen?
Es geht nicht um Ost oder West. Darum geht es in dem Vorschlag von Holter nur, weil sein politisches Denken in nationalen Bahnen verläuft. Denn das macht aus mehr als 400 Regionen mal eben 16 oder gar weniger. Und das schließt neben dem ein oder anderen Strand und Gebirge auch eine Menge anderer Sprachen und Kulturen und Geschichten und Mentalitäten aus.
Menasse sagt, die deutsche Klassik hätte nirgendwo anders als im heutigen Thüringen entstehen können, denn landschaftlich ist diese Region „der Gipfel der Harmonie“: „Kein Berg zu hoch, kein Tal zu tief, kein Wald zu dicht, kein Strom zu reißend.“ Zweifellos ein anderes Mindset als für einen Dichter, dessen Kämmerchen auf ein alpines Granitmassiv hinausblickt.
Die Weimarer Klassik: Alles Ausländer
Die großen deutschen Klassiker sind aber nicht nur wegen der Landschaft in Thüringen gelandet. Sondern vor allem wegen der regionalen Fürsten, Kronprinzen und so weiter, die Künstler, Politiker und Wissenschaftler aus ganz Europa hierher eingeladen und ihnen ordentliche Jobs gegeben haben. Das Viergestirn der Weimarer Klassik, Goethe, Herder, Wieland, Schiller, stammte aus dem heutigen Hessen, aus Baden-Württemberg und aus der Woiwodschaft Ermland-Masuren in Polen.
Das ist die Form von Austausch, die wir wirklich brauchen. Dafür sollten Schüler überall dorthin reisen können, wohin sie wollen. Ein bisschen habe ich auch Zweifel, dass das Problem überhaupt bei den Schülern liegt. Bei ihnen ist die Begeisterung für Europa durchweg höher als bei den Erwachsenen. Es zählen Europa und die Region. Erst danach kommt die Nation als Identifikationsort. So fühle auch ich mich: Ich bin Sachse und Europäer. Deutsch habe ich mich noch nie gefühlt. Ich habe Vorfahren aus Ungarn und Italien und Deutschland. Dorthin gingen auch meine ersten selbstständigen Reisen. Und die haben mich garantiert mehr geprägt als jede Reise in den Harz oder an den Rhein das je hätten tun können.
„Ich bin Sachse und Europäer. Deutsch habe ich mich noch nie gefühlt.”
Christian Gesellmann
Vielleicht sollte man den Minister Holter und seine Amtskollegen aus den Bundesländern ebenfalls öfter auf Reisen schicken. Politikeraustausch sozusagen. Ist doch eh unfair, dass die Mitglieder der Bundesregierung ständig durch die Weltgeschichte reisen dürfen, die der Landesregierungen aber in ihren Regionen verschimmeln und dann mit schwachsinnigen Vorschlägen wie dem Ost-West-Schüleraustausch ankommen.
Zu einem guten Teil war die Deutsche Klassik nämlich auch das Resultat einer ausgiebigen, wenn auch nicht freiwilligen Bildungsreise eines Landespolitikers: Der Kurfürst Johann Friedrich von Sachsen musste als Strafe für einen Krieg, den er angefangen hat, fünf Jahre lang mit dem Kaiser auf Reisen gehen – 2.700 Kilometer Seite an Seite mit dem heimatlosen Oberhaupt eines faszinierend komplexen, komplementären Reichs-Staates im 16. Jahrhundert. Mit Pferdekutschen zwischen Nürnberg und Köln, Augsburg und Maastricht, Innsbruck und Mainz, Linz und Gent, mit einem Reisebett aus Eichenlaubsäcken hat der Kurfürst seine Hausaufgaben erledigt. Erster Halt seiner Reise war übrigens Brüssel. Dort spielt auch Robert Menasses letzter Roman.
Als Johann Friedrich heimkehren durfte (er hasste das Reisen), gründete er die Universität in Jena, die sich bald zu einer der angesehensten Universitäten Europas entwickelte. Ihr hervorragender Ruf und ihre umfassende Bibliothek zogen Goethe, Schiller oder auch die Gebrüder Grimm ins heutige Thüringen. Sie alle waren bedingungslose Europäer. Und haben dennoch so nachhaltig wie kaum jemand geprägt, was wir heute als Deutsch definieren. Kein Zweifel: Wäre Goethe heute 60, würde er sagen: Wenn ich nochmal 20 wär, studierte ich Verfassungsrecht!
Grenzen haben in seinen Überlegungen keine Rolle gespielt. Und das ist auch alles, was ich mir von Politikern und anderen Denkenden der heutigen Zeit wünsche: Dass sie keine neuen Grenzen aufbauen, egal wie gut es gemeint sein soll.
Dies ist der erste Teil einer Kolumne, die noch keinen Namen hat, aber in Zukunft regelmäßig erscheint. „Quoten-Ossi” – so nennt er sich selbst –Christian Gesellmann will sich darin einmal im Monat den kleinen, aber feinen Unterschieden, den Missverständnissen und Gemeinsamkeiten zwischen den alten und gar nicht mehr so neuen Bundesländern widmen. Emanzipatorische Politikberatung sozusagen.
PS: Falls du eine Idee für einen Kolumnentitel oder ein Vorschlag für ein Thema hast, schreib ihn bitte in die Kommentare oder per Mail an christian.gesellmann@krautreporter.de!
Redaktion: Theresa Bäuerlein; Bildredaktion Martin Gommel (Aufmacherbild: Unsplash / romrodinka); Schlussredaktion: Vera Fröhlich.