Tiktok lässt sich zwar weder essen, noch trinken, trotzdem hat die App ein Geheimrezept. Das besteht aus mehreren magischen Zutaten, die in einer ganz bestimmten Kombination den Erfolg von Tiktok ausmachen: den Algorithmus.
Über diesen Algorithmus wird viel spekuliert, denn wie genau er aufgebaut ist, hält Tiktok natürlich geheim. Angeblich ist er so kompliziert, dass nicht einmal das Algorithmus-Team von Tiktok genau erklären könnte, wie er funktioniert. Klar ist nur, dass viele, die Tiktok heruntergeladen haben, das Gefühl haben, süchtig zu werden. Und dafür verantwortlich ist der Algorithmus, der den Nutzer:innen genau die Videos abspielt, die es braucht, damit sie erst nach einer Dreiviertelstunde aus einem Strudel von Videos auftauchen, obwohl sie nur eine fünfminütige Klopause machen wollten.
Eineinhalb Milliarden Menschen nutzen weltweit jeden Monat das Videoportal. In Deutschland sind es nach Unternehmensangaben mehr als 20 Millionen Nutzer:innen monatlich. Von Anfang an war die Besorgnis groß, dass auf deutschen, amerikanischen oder französischen Handys eine chinesische App installiert ist. Denn Tiktok gehört zu „Bytedance“, einem Unternehmen, an dem die chinesische Regierung beteiligt ist. Es gibt die Befürchtung, dass die Kommunistische Partei Chinas (KPCh) auf Nutzer:innendaten innerhalb und außerhalb der App zugreifen könnte. Seit 2023 dürfen EU-Mitarbeiter:innen Tiktok deswegen nicht mehr auf ihren Diensthandys installieren.
In den USA war Tiktok am Wochenende für mehrere Stunden ganz blockiert. US-Präsident Donald Trump hob das Verbot wieder auf – vorerst. Er will Bytedance wahrscheinlich eine Frist von 90 Tagen gewähren, um das US-Geschäft von Tiktok zu verkaufen. Doch ob Bytedance wirklich seinen wertvollen Algorithmus verkaufen will, ist fraglich.
Bei dem Streit um Tiktok geht es nicht nur darum, amerikanische Bürger:innen vor dem chinesischen Staat zu schützen. Es geht auch um die Vormachtstellung der US-Techbranche, die durch Tiktok bedroht ist. Und darum, dass China mithilfe des Algorithmus auf der ganzen Welt Einfluss nehmen könnte.
Tiktok bedroht die Dominanz des Silicon Valley
In Indien war Tiktok mit knapp 200 Millionen Nutzer:innen eine der beliebtesten Apps des Landes. Dann kam der Backlash. Es gab einige Kontroversen, unter anderem um ein Tanzvideo in einer Moschee. 2020 schaltete Indien Tiktok ab, gleichzeitig mit mehreren anderen chinesischen Apps. Die Motivation dahinter war aber nicht nur die Sorge um indische Nutzer:innen, die pietätlosem Content ausgesetzt sein könnten. China und Indien haben seit Jahrzehnten Konflikte. Zwei Wochen vor dem Tiktok-Verbot gab es Zusammenstöße an der indisch-chinesischen Grenze, bei denen 20 indische Soldaten starben.
Tiktok und Geopolitik hängen zusammen. Es ist ein Aspekt, der auch bei dem amerikanischen Streit um Tiktok eine Rolle spielt.
Der britische Journalist Chris Stokel-Walker hat das Buch „TikTok Boom“ geschrieben und dafür mit Mitarbeiter:innen des Unternehmens gesprochen. „Der Aufstieg von chinesischer Technologie stellt eine direkte Bedrohung dar“, schreibt Stokel-Walker, „nicht nur für Indien, sondern auch für die Vereinigten Staaten, deren kalifornische Unternehmen das Internet so lange dominiert haben.“ Tiktok sei Teil einer größeren Geschichte und zwar des Kampfs um die technologische Vorherrschaft zwischen China und den USA. „Wer diesen Kampf gewinnt, gewinnt die Zukunft.“
Anders ausgedrückt: In dem Wettstreit zwischen China und den USA ist Tiktok ein Punkt für China. China hat eine App mit Milliarden Nutzer:innen, deren Algorithmus süchtiger macht als Youtube-Shorts oder Instagram-Reels. Markus Beckedahl, ein Journalist und Netzaktivist, sieht das ähnlich. Er sagt: „Tiktok ist die erste Plattform, die amerikanischen Big-Tech-Unternehmen global Konkurrenz macht.“ Möglicherweise sei das zwischenzeitliche Verbot eine erfolgreiche Lobbykampagne von Meta in den USA, seinen größten Konkurrenten auszuschalten, so Beckedahl.
Die Rivalität zwischen China und den USA wird immer drastischer. Es geht um Macht und Status und betrifft Politik, Wirtschaft und Technologie. Die kurzzeitige Tiktok-Sperre und der Streit um einen möglichen Verkauf der US-Geschäfte ist eine Demonstration, mit welchen Mitteln die USA zu kämpfen bereit sind, wenn China ihnen an einer Stelle einen Schritt voraus ist.
Ist also gar nichts an den Befürchtungen um chinesische Spionage dran? Sind die aktuellen Ereignisse um Tiktok in den USA nur das Ergebnis von Meta-Lobbying? Ganz so einfach ist es natürlich auch nicht. Beckedahl sagt: „Erfolgreiches Lobbying nutzt gute Argumente.“ Und diese Argumente werfen kein gutes Licht auf Tiktok.
Tiktok weiß die intimsten Details über seine Nutzer:innen und es ist gut möglich, dass China das nutzt
Ein großer Skandal veränderte, wie viele Nutzer:innen heute über ihre Daten nachdenken. „Cambridge Analytica“ ist der Name einer Datenanalyse-Firma und des dazugehörigen Skandals. 2018 kam ans Licht, dass die Firma sich unrechtmäßig die Daten von zig Millionen Facebook-Nutzer:innen verschaffte, um damit zielgerichtete Wahlwerbung zu machen, unter anderem für Donald Trump. Der Begriff „Microtargeting“ wurde durch den Skandal um Cambridge Analytica einer breiten Öffentlichkeit bekannt.
Es liegt also nahe zu sagen: Wenn unsere Facebook-Daten nicht sicher vor politischer Manipulation sind, warum sollten es dann Tiktok-Daten sein? China ist schließlich eine Diktatur, die genau weiß, dass sie sich in einem Wettstreit mit den USA befindet, und der jeder Vorteil in diesem Kampf recht ist. Bei den Daten, um die es hier geht, handelt es sich auch nicht „nur“ um Namen, Mailadressen, Telefonnummern oder Standortdaten. Tiktok weiß die intimsten Details über die Nutzer:innen, zum Beispiel wer das Video über Beziehungsprobleme gleich mehrmals hintereinander anschaut oder ständig Memes über Donald Trump weiterleitet.
Es gibt mehrere Szenarien, wie die Kommunistische Partei China Tiktok und persönliche Daten benutzen könnte. Sie könnte gezielt brisante Informationen über Politiker:innen, Journalist:innen oder unliebsame Aktivist:innen sammeln. Nachrichtendienste sammeln solche Informationen die ganze Zeit, eine App wie Tiktok ist eine ideale Quelle dafür. Auch Wirtschaftsspionage könnte eine Rolle spielen, weshalb zum Beispiel Amazon seine Mitarbeiter:innen 2020 aufforderte, Tiktok von ihren Handys zu löschen (allerdings revidierte Amazon seine Aufforderung kurz danach). Das alles sind nur Vermutungen, Beweise gibt es nicht. Aber möglich ist es.
Es gibt einen konkreten Fall, bei dem Bytedance, der Mutterkonzern von Tiktok, gezielt Journalist:innen ausspionierte. Die Journalist:innen von Buzzfeed und der Financial Times hatten Whistleblower von Bytedance interviewt und der Konzern versuchte über Standortdaten herauszufinden, mit wem genau sie gesprochen haben könnten. Der Versuch blieb erfolglos und flog 2022 auf, die entsprechenden Mitarbeiter:innen von Bytedance wurden gefeuert.
Der zweite Punkt, wie die chinesische Regierung Tiktok benutzen könnte, ist durch subtile Manipulation. Und hier sind wir wieder bei dem berühmten und geheimen Algorithmus. Tiktok könnte die Reichweite bestimmter Videos einschränken und die von anderen erhöhen – um so Falschinformationen oder bestimmte Narrative zu verbreiten. Auch das ist nicht bewiesen, aber möglich. Schließlich ist bekannt, dass Tiktok bestimmte Inhalte zumindest zeitweise unterdrückte, zum Beispiel zu Protesten in Hongkong oder zur Repression gegen die Uiguren.
Also ist Tiktok doch böse?
Es ist schwer, über dieses Thema zu schreiben, ohne in Whataboutism zu verfallen, also mit dem Finger auf andere zu zeigen und zu sagen: die aber auch! Doch es wäre unvollständig, die Untaten anderer großer Tech-Firmen und Apps zu verschweigen.
Ja, Tiktok kann seinen Algorithmus manipulieren. Nachweislich tut Elon Musk das ebenso mit dem Algorithmus von X, um seine eigenen Posts und damit auch Wahlempfehlungen für die AfD zu pushen. Ja, Tiktok hat die Daten von Journalist:innen abgegriffen, um Whistleblower zu finden. Vergleichbare Fälle gab es auch schon bei Facebook und Uber. Wir haben nicht nur ein Problem mit Tiktok, wir haben ein Problem mit Big Tech – und das schon seit Jahren.
Klar, bei Tiktok geht es nicht nur um eine App, die intime Daten über ihre Nutzer:innen sammelt, sondern auch darum, dass die chinesische Regierung sie benutzen könnte. China ist eine Diktatur, die den USA feindlich gesinnt ist und zu Europa nicht gerade ein freundschaftliches Verhältnis hat.
Trotzdem steckt hinter dem Tiktok-Streit in den USA mehr als nur „Tiktok ist eine böse Spionage-App und der verlängerte Arm von Xi Jinping.“ Wenn der Schutz von Nutzer:innen und deren Daten wirklich eine Rolle spielen würde, dann gäbe es auch stärkere Regulierungen für die großen High-Tech-Konzerne Meta, X oder Alphabet. Es geht hier auch um die Vormachtstellung bei den sozialen Medien, um die Konkurrenz zwischen Bytedance und Silicon Valley, China und den USA.
Redaktion: Lea Schönborn, Schlussredaktion: Susan Mücke, Bildredaktion: Philipp Sipos; Audioversion: Iris Hochberger